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Giselle Cychowicz
Ein Vierteljahrhundert für die Holocaust-Überlebenden

Sie werden immer weniger: Täglich sterben dreißig bis vierzig Holocaust-Überlebende. Die Psychologin Giselle Cychowicz will Zeugin von möglichst vielen Erinnerungen sein, bis zum Schluss. Die fast 90-Jährige arbeitet noch immer als Therapeutin. Ihre Patienten sind Überlebende der Schoa - wie sie selbst.

Von Sabine Adler |
    Giselle Cychowicz genießt die Zeit im Park.
    Die Psychologin und Holocaust-Überlebende Giselle Cychowicz genießt die Zeit im Park. (Helena Schätzle)
    "Mit 14 las ich 'Heilung durch den Geist' von Stefan Zweig auf Ungarisch. Er schrieb über Sigmund Freud und erklärte dessen Theorie so, dass ich sie sofort verstand. Ich war elektrisiert und in Panik. In Ungarn würde ich nie die Bildung bekommen, die ich brauchte, um Psychologie studieren zu können. Ich wollte es wie Freud machen: Dinge in den Menschen zutage fördern, die sie an ihrer Entwicklung hindern."
    Giselle Cychowicz hat ihren Traum wahr gemacht, aber erst mit 48 Jahren. Heute ist sie fast 90 und arbeitet noch immer als Therapeutin. Ihre Patienten sind Holocaust-Überlebende wie sie.
    Ein kleiner roter Opel Corsa hält vor dem Hotel. Giselle Cychowicz startet ihre übliche Runde. Jede Woche besucht sie ihre Patientinnen. Am Anfang steht Rosi Mandelbaum. So heißt sie nicht wirklich. Voraussetzung, der Therapeutin in diesen intimen Raum zu folgen, war es, die Namen ihrer Patienten zu ändern.
    Rosi Mandelbaum und Giselle Cychowicz sind fast gleich alt. Giselle in ihrer adretten Bluse und der mittelblonden Perücke wirkt jedoch sehr viel jünger. Sie ist noch recht gut zu Fuß, anders als Frau Mandelbaum, die sich ganz langsam mit einem Rollator nähert. Statt der aufwendigeren Perücke trägt die Patientin eine einfache dunkle Strickmütze; beide Kopfbedeckungen weisen sie als orthodoxe Jüdinnen aus.
    Verheerende Verletzung der Intimsphäre
    Die untersetzte kleine Frau redet Giselle Cychowicz mit Gisela an. Frau Mandelbaum schenkt Kaffee ein, gibt Zucker dazu. Die Hände zittern, der größte Teil landet auf dem Tisch. Sie versteht ein wenig Deutsch, spricht es aber nicht, ebenso wenig wie Englisch, trotz der vielen Jahre im Londoner Exil. Oder Hebräisch, obwohl sie in Israel lebt. Rosi Mandelbaum fehlten ihre Muttersprache und damit die Worte. Keines ihrer sechs Kinder wusste, was ihr in Auschwitz widerfuhr, als sie ihre Eltern, Brüder und Schwestern verlor. Giselle ist die einzige, der sie sich anvertraut hat. Nur so viel deutet sie an: Es hat mit einer Leibesvisitation zu tun, bei der Diamanten und andere Wertgegenstände gesucht wurden. Für die damals 16-jährige Rosi war diese Verletzung ihrer Intimsphäre verheerender als alles, was danach kam. Giselle berichtet:
    "Ich habe mich mit ihr heruntergesetzt, und sie hat angefangen. Können Sie sich erinnern an das erste Mal?"
    "Ja, ja!"
    "Es ist nur so gekommen! Wie ein Geysir!"
    Die Patientin fasste so schnell zu ihrer Therapeutin Vertrauen, weil die wie sie in Auschwitz war und auch Ungarisch spricht. Heute sind es Alltagssorgen, mit denen die Therapiestunden beginnen. Der Enkel kommt zur Armee, die Tochter – eine Siedlerin – musste ihr Haus aufgeben. Aber häufig landen sie doch wieder beim Holocaust. Solange Rosi Mandelbaum in Europa auf eine Einreiseerlaubnis für Israel wartete, schwor sie sich, kein Kind zu bekommen.
    "Sie hat ausgehalten, dass sie wird keine Kinder in Europa haben", erzählt Giselle.
    "Warum?"
    "Nicht gewollt," sagt Rosi.
    "Nicht gewollt in einem nicht-jüdischen Land", ergänzt Giselle:
    "Für uns London oder der Kontinent, das ist Europa, das sind die Leute, die nicht Juden sind. In keinen haben wir Vertrauen gehabt."
    Shimon, der Fahrer, bemisst die Therapie-Stunden exakt. Die nächste Patientin soll nicht warten müssen. Frau Mandelbaum begleitet uns mit ihrem Rollator zur Tür. Zum Abschied ist ihr Lachen herzlich, nicht mehr vorsichtig.
    400 Psychologen kümmern sich bei der Hilfsorganisation AMCHA um seelische Hilfe für Holocaust-Überlebende. Giselle Cychowicz erläutert auf dem Weg zum Auto, dass mit jedem Krieg, mit jedem Terrorakt die alte Unsicherheit wieder aufbricht. Wie vor kurzem, als einer von Rosi Mandelbaums Enkeln bei einem Anschlag starb. Auf aktuelle Schreckensmeldungen wie Krieg oder Attentate reagieren Holocaust-Überlebende höchst unterschiedlich.
    "In der gesamten Bandbreite von 'Jetzt muss man noch stärker reinhauen'", sagt Martin Auerbach, Chefpsychologe bei der Hilfsorganisation Amcha:
    "'Nur mit Stärke kann man etwas erreichen, kann man sie abschrecken'. Und andere haben davon gesprochen, wie sie Mitleid haben mit den Opfern oder mit den Familien. Und andere haben darüber gesprochen, was es bedeutet, wenn ein Palästinenser Selbstmordattentäter ist. Was bedeutet das für die Verzweiflungssituation oder die ideologische Verblendung."
    Giselle Cychowicz in ihrer Wohnung. 
    Giselle Cychowicz in ihrer Wohnung (Helena Schätzle)
    Martin Auerbach stammt aus Wien, seine Eltern sind selbst Holocaust-Überlebende. Seit 30 Jahren arbeitet er in Israel:
    "Menschen, die viel Leid erlitten haben, sind nicht bessere Menschen und nicht schlechtere Menschen, es sind Menschen, die eine Leidenserfahrung haben. Auf Grund so einer Grundeinstellung würden viele Holocaust-Überlebende sagen: Wir sind für eine sehr aggressive Politik gegenüber unseren Feinden, Nachbarn, Palästinensern usw. Eine andere Möglichkeit ist, dass jemand sagt, wir müssen stark sein, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir als Minderheit verfolgt wurden. Wir sind daher wohl sensibilisiert darauf, dass anderen Menschen Leid zugefügt wird."
    Viele werden im Alter regelrecht heimgesucht von den Erinnerungen
    Im Alter kehrt die Angst zurück. Denn alt sein, bedeutet schwächer werden und wer schwach ist, das lehrte der Holocaust, überlebt nicht. Viele werden im Alter regelrecht heimgesucht von den Erinnerungen.
    "Ich erinnere mich an eine Frau, die in Auschwitz mehr als ein Jahr lang war. Die ist zu mir gekommen, als ihr Sohn im Alter von 40 an einem Herzstillstand gestorben ist. Und eine der Sachen, die sie sagte, ist: Seit das passiert ist, bin ich jeden Abend wieder in Auschwitz", so Martin Auerbach.
    Giselle Cychowicz begann mit ihrem Psychologiestudium, als die Kinder zur Schule gingen. Sie promovierte, als ihre Tochter ihren Bachelor machte. 1992 siedelte sie nach Israel über.
    Als Gisela Friedmann wurde sie 1927 in der damaligen Tschechoslowakei geboren. Später besetzten die Ungarn das Gebiet Karpato-Rus und ihre Heimatstadt Chust; sie kollaborierten mit den Nazis. Ein Jahr vor Kriegsende, im Mai 1944, stieg Gisela Friedmann an der Rampe von Auschwitz/Birkenau aus dem Zug. Ihr Vater kam in ein Arbeitslager, die Mutter, ihre Schwester und sie in Baracke 16 des C-Lagers. Bis Oktober 1944 gelang es den Frauen zusammenzubleiben, dann wurden die Töchter in das Arbeitslager Mittelsteine transportiert, die Mutter blieb in Auschwitz. Der Vater kehrte nach Monaten Schwerstarbeit im Bergbau Buna-Monowitz in das Vernichtungslager zurück. Er wurde am 7.Oktober 1944 vergast.
    In der Nähe von Weißwasser hinter der Oder, wo sie auf einem sogenannten Todesmarsch angekommen waren, erlebten Giselle und ihre Schwester das Kriegsende. Sie sagt:
    "Keine von uns jubelte. Wir 320 Mädchen hörten diese Worte: Sie können gehen, wohin immer Sie wollen. Das ist mein Trauma. Wusste er denn nicht, dass es keinen Platz gab, wohin wir gehen wollten? Wir wollten nicht zurück zu den Menschen, die uns verjagt haben. Die noch in unserer Gegenwart unsere Häuser ausgeraubt haben. Alle in Europa haben geholfen, Juden zu töten, zu jagen und zu verfolgen. Ich wollte nicht dorthin zurück."
    Giselle Cychowicz kehrte mit der Schwester dennoch nach Chust zurück, denn dort, zuhause, so hatten sie zufällig erfahren, warteten ihre älteste Schwester und die Mutter auf sie.
    Die vier Friedmann-Frauen emigrierten 1948 in die USA, wo Giselle ihren Ehemann Yitzak Anfang der 1950er Jahre kennenlernte. Ein polnisch-stämmiger Jude, der bis zur Reichspogromnacht in Berlin aufwuchs, noch vor Kriegsausbruch nach Israel auswandern konnte und nun in New York lebte. Er war nicht die große Liebe, aber solide, ein verantwortungsbewusster Vater für ihre drei Kinder. Aus Gisela Friedmann wurde Giselle Cychowicz.
    "Wenn Sie zusammen sind, worüber sprechen Sie?" - "Über die lustige Schoa."
    Shimon setzt uns vor dem Altersheim ab, in dem Erika Steinfeld ein Zimmer mit Bad bewohnt.
    Die Tür steht sperrangelweit offen. Auf einem Bett sitzt Erika, eine große beleibte Frau. Tränenüberströmt wirft die 93-Jährige Fotos in die Luft und jammert, dass jemand ihre Fotoalben gestohlen hat. Die Ungarin würdigt uns keines Blickes. Ihre Psychologin Giselle fischt ihr Adressbuch und eine Lupe aus der Handtasche und tippt eine Nummer ins Handy. Sie hat die Tochter am Apparat, beschreibt ihr, wie sich die Mutter gerade aufführt. Sie wiederholt die Frage der Tochter, die sie auch selbst schon gestellt hat: Wer sollte denn Interesse an den Alben haben? Hast du überall nachgesehen?
    Erika Steinfeld lauscht, was Giselle ins Telefon spricht, und hört schließlich auf zu weinen. Als hätte sie einen Schalter umgelegt, schlägt sie sich auf die Schenkel, lacht, begrüßt uns freudestrahlend. Sie sagt:
    "Ich liebe Humor. Ich liebe Gisela."
    "Und warum?"
    "Warum? Ein echter Mensch!"
    "Wenn Sie zusammen sind, worüber sprechen Sie?"
    "Über die lustige Schoa."
    "Sie findet Humor in allem, und es ist richtiger Humor."
    Giselle sagt: "Manchmal singen wir. Das würde sie gern öfter tun, aber sie sagt, ein Tisch singt besser als sie."
    Giselle Cychowicz ist überzeugt davon, dass die Therapiestunden auch für verwirrte Personen wie Erika Steinfeld sinnvoll sind. Sie würden sie aus akuten Krisen herausführen und in die Normalität zurückbegleiten.
    Sabine Adler im Gespräch mit Giselle Cychowicz und einem Gast.
    Reporterin Sabine Adler im Gespräch mit Giselle Cychowicz und einem Gast (Deutschlandradio / Sabine Adler)
    In Jerusalem, in der AMCHA-Zentrale wird Geburtstag gefeiert. Die Tische sind mit roten Plastiktellern und Bechern gedeckt. Der Jubilar bekommt zum 85. Geburtstag ein Ständchen.
    Die Holocaust-Überlebenden werden immer weniger. Arieh Barnea, der Vorsitzende von AMCHA, überlegt seit geraumer Zeit, ob und wie es dann mit der Hilfe weitergeht.
    Die Amcha-Psychologen, von denen Giselle Cychowicz die älteste ist, sind inzwischen angesehene Experten sowohl für posttraumatische Behandlungen als auch speziell für die Therapie hochbetagter Patienten. Erst wenn die Organisation nichts mehr für die 180.000 Überlebenden und deren Töchter und Söhne in Israel tun kann, wird sie sich anderen Aufgaben zuwenden.
    Täglich sterben dreißig bis vierzig Holocaust-Überlebende
    In der gegenwärtigen Flüchtlingskrise wird die auf psychologische Betreuung spezialisierte Organisation bereits tätig. Amcha-Aktivisten aus Haifa engagieren sich in Europa, denn die Bilder von überfüllten Schlepperbooten und langen Warteschlangen an Grenzzäunen erinnern die Holocaust-Überlebenden an ihre eigene Flucht. Viele haben Europa auf klapprigen alten Schiffen verlassen. Dringend notwendig wäre psychologische Hilfe für Palästinenserkinder, doch dieser Vorschlag löst die meisten Diskussionen aus, bei den AMCHA-Mitarbeitern wie bei den Geldgebern. Arieh Barnea:
    "Für mich sind das nicht Kinder unserer Feinde, sondern Kinder, die Hilfe brauchen, weil sie unter all dem leiden, was der israelisch-palästinensische Konflikt mit sich bringt. Vielleicht wäre das ein Gebiet, auf dem wir unserem humanistischen Anspruch gerecht werden könnten."
    Täglich sterben dreißig bis vierzig Holocaust-Überlebende. Ihre Kinder erkennen mehr und mehr, wie auch sie von den Erlebnissen der Eltern geprägt worden sind. Sarah Weißhaupt, zweite Generation, Tel Aviv:
    "Mein Vater schwieg, meine Mutter dagegen redete unablässig über den Holocaust, sie konnte überhaupt nicht aufhören damit."
    Sarah Weißhaupts Eltern stammen aus Polen. Sie überlebten Auschwitz und heirateten direkt nach dem Krieg. Dass ihre Familie nicht normal war, schwante Sarah schon als Kind:
    "Ich kannte jedes Detail, wie Mutter die Schoa überlebt hat. Aber das hätte sie alles einem Therapeuten erzählen sollen, nicht uns Kindern. Die allermeisten Informationen über die Schoa bekam ich quasi mit der Muttermilch.
    Sie weinte viel. Die ganzen letzten 20 Jahre vor ihrem Tod wollte sie sterben, wusste aber nicht, wie sie es anstellen sollte. Sie sang viel. Sie konnte gerade so den Haushalt erledigen. Sechs Herzoperationen musste sie überstehen, sie litt an Depressionen."
    Sarah Weißhaupts Mutter kam mit 19 nach Israel und starb hier mit 89. In diesen 70 Jahren war sie Invalidin. Ihre Eltern, sechs Geschwister und viele Neffen und Nichten wurden aus dem Ghetto von Szydłowiec in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. Kein einziger aus ihrer Familie überlebte. Mit Kriegsende war sie Waise. Als Mutter erwies sie sich als völlig überfordert, findet Sarah, die Tochter:
    "Ich war 27, aber ich wusste schon sehr viel länger, dass ich mit jemandem reden muss. Doch ich wusste nicht mit wem. Es war ja nicht so, dass ich nicht essen oder schlafen konnte oder weinte. Ich trug ständig eine Maske. Ich wollte nicht, dass sie sehen, dass es mir nicht gut ging. Und Mutter konnte hysterisch werden, wenn es um die Gesundheit ging. Wenn wir die Wohnung verließen, mussten wir einen Pullover mitnehmen, auch wenn draußen 30 Grad Hitze herrschten. Allerdings zum Essen musste sie uns nicht überreden."
    Zum ersten Mal huscht ein Lächeln über das rundliche Gesicht. Mit Mitte 20 hatten ihre jüngere Schwester und sie beide einen Freund. Als hätten sich die Männer abgesprochen, bekam Sarah Weißhaupt zeitgleich mit ihrer Schwester einen Heiratsantrag. Sie wagten beide nicht einzuwilligen und vertrösteten ihre Verlobten immer wieder. Freunde schickten die Schwestern in eine Familientherapie. Denn sie hatten messerscharf erkannt, dass bei den Weißhaupts die Rollen vertauscht waren. Die Kinder sorgten für die Eltern. Nach der Therapie heiratete Sarah Weißhaupt, die Schwestern benötigen jedoch bis heute immer wieder psychologischen Beistand.
    Auch Giselle Cychowicz ist wieder in Auschwitz gewesen - mehrfach sogar
    Heftig ins Schleudern geriet Sarah Weißhaupt, als ihre Kinder 17 Jahre alt waren. Ein Alter, in dem die Schüler nach Polen zur Gedenkstätte des deutschen Vernichtungslager Auschwitz reisen und von den Eltern begleitet werden. Sarah Weißhaupt hatte Angst vor der Fahrt, trat sie aber schließlich an.
    Giselle Cychowicz bei einem Hausbesuch.
    Giselle Cychowicz bei einem Hausbesuch (Deutschlandradio / Sabine Adler)
    Auch Giselle Cychowicz ist wieder in Auschwitz gewesen, mehrfach sogar, um Besuchern als Augenzeugin zu berichten. Doch an erster Stelle stehen ihre Patientinnen, die sie allerdings ungern so nennt. Denn Patient klingt ihr zu sehr nach krank. Die industrielle Vernichtung der Juden war außerhalb jeder Norm, die Reaktion der Opfer darauf ist es nicht. Die war völlig angemessen angesichts des Horrors.
    Fast ein Vierteljahrhundert arbeitet sie nun mit den Überlebenden. Viel zu spät und viel zu wenig für sie, denn in ihrer 40-jährigen Ehe konnte sie nur dosiert davon sprechen, weil ihr Mann von ihren Erlebnissen verschont bleiben wollte. Giselle sagt:
    "Ich habe es ihm nicht vorgeworfen. Er sorgte sich um uns. Ich sprach dann eben mit meinen Freunden, die das auch durchgemacht haben. Ich habe meinem Mann nichts über Auschwitz erzählt. Er hat nicht gefragt."
    Wichtiger als ihr privates Leid ist ihr ihre Mission. Giselle Cychowicz will Zeugin sein bis zum Schluss und das auch ihren Leidensgefährten ermöglichen:
    "Die Welt soll davon erfahren und die Patienten sollen spüren, dass sich die Welt für sie interessiert."

    KZ-Überlebende Lasker-Wallfisch über ihre Befreiung und die Jahre danach

    Überleben zwischen verwesenden Leichen: Die damals 19-jährige Jüdin Anita Lasker-Wallfisch über die Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen 1945 und die Jahre danach.

    Kein Essen, kein Trinken, eine Hölle voller verwesender Leichen. Im April 1945 ist das KZ Bergen-Belsen für die 19-jährige Breslauer Jüdin Anita Lasker der Wartesaal zum Tod. Zusammen mit ihrer Schwester Renate war sie aus dem Vernichtungslager Auschwitz nach Norddeutschland deportiert worden. Das Lager Bergen-Belsen ist mit 60.000 Häftlingen völlig überfüllt, allein im März 1945 sterben über 18.000 Menschen. Die Nazis wissen selbst nicht mehr, wohin mit den Opfern ihres Terrors. Am 15. April 1945 kommen die Briten. Was sie dort sehen, übersteigt alle Vorstellungskraft.

    Anita Lasker-Wallfisch hat die Agonie der NS-Vernichtungsmaschine überlebt - mit Willenskraft und Humor. Sie erinnert sich, wie SS-Kommandant Kramer von den Briten in einer Frigidaire (einem Kühlhaus) interniert wurde, in der Annahme, es gäbe keinen Strom, und fast erfroren wäre, als das Lager wieder an die Elektrizität angeschlossen wurde. Im Interview erzählt sie, wie sie zur ersten Dolmetscherin wurde, die der Sprache nicht mächtig war, die sie dolmetschen sollte, und wie sie die erste Holocaust-Überlebende wurde, die ein Radio-Interview gab – noch im Lager Bergen-Belsen.

    Die Jüdin hatte vor ihrer Verhaftung und Deportation Cello gelernt, und im Mädchenorchester von Auschwitz gespielt. Musikerin werden – das ist und war ihr Traum, den sie nun verwirklichen will. Die ganze britische Armee, so erzählt sie im Interview, sei nach der Befreiung dabei gewesen, ihr ein Cello zu organisieren.