Jonas Reese: Am Telefon begrüße ich zunächst Wilfried Jilge von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Guten Abend.
Wilfried Jilge: Guten Abend, Herr Reese.
Reese: Herr Jilge, es sollte nicht ein Treffen um des Treffens willen werden im Hinblick auf die Ukraine. Wie groß sind da Ihre Erwartungen, dass in Berlin was Substanzielles rauskommt?
Jilge: Beide Seiten haben ja schon vor den Gesprächen gesagt, dass man keine großen Erwartungen in diese Gespräche setzen soll. Allerdings sind diese Gespräche wichtig. In Bezug auf die Ukraine deswegen, weil wir eine weitere Eskalation beobachten können in der Ukraine. Die Sicherheitslage in der Kontaktzone, im Donbass hat sich verschärft. Und es ist allein deswegen schon wichtig, nach einer so langen Pause im Normandie-Format wieder zusammenzukommen, denn je länger man wartet mit dem Sprechen, wenigstens die Sicherheitslage zu verbessern, desto schwerer wird es. Das andere ist - und das wäre vielleicht eine kleine Erwartung -, dass das Entflechtungsabkommen, was man immerhin wenn auch mühsam am 21. September vereinbart hat zwischen der separatistischen Seite und der ukrainischen Seite, dass man dieses stabilisiert, denn tatsächlich gibt es hier ein paar Fortschritte. In zwei Pilotzonen konnte man doch mit der Entflechtung fortschreiten, und allein das zu stabilisieren als eine erste wieder vertrauensbildende Maßnahme wäre schon ein kleiner Erfolg.
Reese: Das ist ja alles schon schriftlich festgehalten. Dennoch ist die Lage ja unübersichtlich. Beide Seiten behaupten nämlich, der jeweils andere halte sich nicht an die Vereinbarung. Wer hat da nun Recht?
Jilge: Das ist schwer zu beurteilen, weil zum Beispiel gerade auf der separatistischen Seite die OSZE-Beobachter auch nicht an viele Orte kommen. Wir haben ja auch keine Drohnen mehr, die eingesetzt werden können von der OSZE. Die Drohnen sind ja zerstört worden, als sie zum Beispiel eine russische Abwehrrakete fotografieren wollten. Deswegen fällt auch damit ein wichtiges Instrument aus, diese Auseinandersetzung komplett zu beobachten. Und man sollte sich da auch zurückhalten. Das Hauptproblem hier ist wie in dem gesamten Minsker Prozess, was sich hier zeigt: das totale militärische Ungleichgewicht in diesem Konflikt. Die Ukraine, die natürlich auch an Verletzungen des Waffenstillstands beteiligt ist, sieht sich konfrontiert mit einer militärischen Übermacht. Es sind ja nicht nur die Separatisten, sondern im Rücken haben die Separatisten die russische Armee oder die Kraft der russischen Armee und auch die Versorgung durch die russische Armee. Und die Ukraine fürchtet einfach, nur um mal die Motive dieser Seite zu erklären, wenn sie etwas Raum preisgibt, kann dieser Raum wieder von den Separatisten mit der Unterstützung Russlands eingenommen werden, wie das ja zwischen September 2014 und dem Jahr 2015 geschehen ist. Mit der Folge, dass Hunderte von Quadratkilometern reihenweise von den Separatisten besetzt wurden. Das erklärt auch, warum die Ukraine zögerlich ist. Aber insgesamt sind ja beide Seiten beim Waffenstillstand, bei der Verletzung beteiligt. Aber wie man das genau verteilen soll, da ist ja die OSZE sehr zurückhaltend, wie man da die Schuld genau zuordnen soll.
Reese: Das wäre jetzt die ukrainische Seite. Schauen wir mal auf die russische Seite. Hat denn Russland, hat der Kreml da überhaupt ein Interesse, diesen Konflikt zu befrieden, oder da weiter voranzuschreiten? Oder ist das Interesse vielleicht größer, auch diesen Konflikt aufrecht zu erhalten?
Jilge: Putin hat kein Interesse an Stabilisierung der Ukraine
Jilge: Sie müssen grundlegend immer sich klar machen, dass die Ukraine für Putin weder ein vollwertiger Staat ist, noch sind die Ukrainer für ihn eine vollwertige Nation. Sie gehören aus russischer Sicht oder zumindest aus der Sicht der heutigen Kreml-Führung in die russische Hemisphäre, in die Hemisphäre der russischen Welt. Und das hat sich - und das sieht man auch an der innenpolitischen Propaganda - in keiner Weise geändert. Putin und der Kreml - und das ist das zentrale Motiv - wollen verhindern, dass im Hinterhof Russlands eine unabhängige, nach Europa aufgeschlossene und sich demokratisierende Ukraine sozusagen als Gegenmodell zum eigenen autoritären Herrschaftsentwurf entsteht. Das heißt, Putin hat im Grunde genommen an dem Erfolg und damit an einer Stabilisierung der Ukraine und auch der Wiederherstellung ihrer Souveränität - und das ist ja der Geist, der eigentlich von Minsk ausgehen sollte - kein wirkliches Interesse. Und das macht die Konfliktlösung hier so schwierig.
Reese: Schauen wir noch auf den zweiten Block, der heute auch besprochen werden soll, nämlich der Syrien-Konflikt. Wie hängen eigentlich diese beiden Konflikte zusammen, aus russischer Sicht jetzt gefragt?
Jilge: Aus russischer Sicht hat man ja erwartet, dass möglicherweise Russland durch eine Beteiligung an dem Konflikt in Syrien versuchen würde, über Verhandlungen auch mit den USA zu Kompromissen zu kommen. Die dann dazu führen, dass man möglicherweise in dem Ukraine-Konflikt beispielsweise bei den Sanktionen Erleichterungen bekommt. Allerdings hat sich das ja zumindest nach heutigem Stand nicht als sinnvoll oder als perspektivenreich herausgestellt, denn die Stimmung hat sich jetzt gerade wieder gegen Russland gewandt. Und darüber hinaus hat sowohl die USA als auch vor allem ja auch die Bundesregierung und Frankreich immer strikt daran festgehalten, dass es hier keine Verknüpfung geben kann. Und das hat man letzten Endes auch nicht gemacht. Das, wo der Zusammenhang ist, das ist, denke ich: Der Zusammenhang liegt in einem Motiv auch hier. Putin nutzt auch den Syrien-Konflikt, seine Beteiligung, in dieses Vakuum reinzugehen, um Russland wieder als Großmacht, als militärische starke Großmacht darzustellen und damit auch innenpolitisch zu punkten. Darüber hinaus hat er auch Interesse übrigens, seine Rüstung in diesem Krieg der Welt zur Schau zu stellen, um sie dann zu verkaufen. Auch das ist ja ein Motiv, was das russische Verteidigungsministerium offen ausgesprochen hat. Und der Zusammenhang, der liegt vielleicht darin, dass einem jetzt klar sein muss, spätestens seit Aleppo, dass Putin für seine geopolitischen Ziele bereit ist, auch militärische Mittel rücksichtslos einzusetzen. Das ist eigentlich die einzige Gemeinsamkeit, die hier bleibt. Und das ist eine Gemeinsamkeit, die wiederum eine Lehre für seine Partner sein sollte.
Reese: ... sagt Wilfried Jilge von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Danke für das Gespräch und eine gute Nacht.
Jilge: Ich danke Ihnen. Auf Wiederschauen!
Reese: Auf Wiederschauen!
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