Die Methode passe in das Muster des islamistischen Terrors. Der "Islamische Staat" (IS) rufe dazu auf, diesem in Syrien oder mit Terroranschlägen in den jeweiligen Heimatländern zu folgen. Nach dem Motto, so Neumann: "Wenn Ihr Unterstützer seid, könnt Ihr die mit einfachsten Anschlägen durchführen und wir reklamieren sie später für uns."
"Wenn Anschläge gut gelaufen sind, werden sie promotet." Der Angriff im Juli in Nizza dieses Jahres sei aus Sicht des IS "erfolgreich" gewesen und von der Terrororganisation in der Folge "sehr in den Vordergrund gestellt worden".
Für Deutschland habe sich die Sicherheitslage grundsätzlich nicht geändert, betonte der Forscher vom King's College in London. "Wir haben seit einiger Zeit eine verschärfte Sicherheitslage." Das werde auch für einige Zeit so bleiben.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Was steckt genau hinter dem Ereignis am Berliner Weihnachtsmarkt? Ein Lkw rast gestern Abend rund 80 Meter in die Menschenmenge vor der Gedächtniskirche. Zwölf tote und 48 Verletzte, einige von ihnen schwer, das ist die Folge. Und wir haben es gerade gehört von unserem Korrespondenten im Hauptstadtstudio: Die Anzeichen verdichten sich für einen Anschlag. Die Polizei geht davon aus, dass der LKW absichtlich in die Menschenmenge gelenkt wurde. - Darüber sprechen möchte ich mit dem Politikwissenschaftler und Terrorexperten Peter Neumann vom King's College in London. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Neumann.
Peter Neumann: Guten Morgen.
Kaess: Ihre Einschätzung heute Morgen zu dem, was in Berlin passiert ist.
Neumann: Ja. Ich denke schon, dass es für mich keine Überraschung ist, dass es auf einen Anschlag hindeutet. Und es wäre, wenn sich das so herausstellen sollte, auch keine Überraschung für mich, wenn es sich um einen dschihadistisch motivierten Anschlag handeln sollte. Denn die Art und Weise, wie dieser mögliche Anschlag durchgeführt wurde, deutet ja doch sehr stark darauf hin. Wir haben auch in der Vergangenheit natürlich diesen Sommer schon einen ähnlichen Anschlag gesehen mit einem Lkw in Nizza. Und da sollte man auch nicht vergessen: Es gab auch schon Anschläge auf Weihnachtsmärkte, und zwar Ende 2014 in Frankreich, mehrere versuchte Anschläge auf Weihnachtsmärkte, wo auch Autos eingesetzt wurden. Und all diese Anschläge wurden entweder später vom sogenannten Islamischen Staat in Anspruch genommen, oder die Attentäter behaupteten von sich selbst, das im Namen des Islamischen Staates durchgeführt zu haben. Insofern würde es mich nicht überraschen, wenn sich das auch hier so herausstellen sollte, obwohl es natürlich noch etwas zu früh ist und wir noch mehr wissen müssen über den Attentäter und obwohl wir natürlich auch nach wie vor noch warten auf ein Bekennerschreiben, welche Organisation es auch ist.
Kaess: Sie sind jetzt dennoch etwas vorsichtig gewesen und haben gesagt, es deutet viel darauf hin, dass es ein Anschlag ist. Können wir nicht mittlerweile sicher sein, dass es ein Anschlag ist, wenn die Polizei sagt, der LKW ist absichtlich in die Menschenmenge gelenkt worden?
Neumann: Ja, ich denke schon. Ich würde das auch so unterstreichen. Und auch der Innenminister von Nordrhein-Westfalen hat ja in der Nacht schon gesagt, er geht davon aus, dass es sich um einen Terroranschlag handelt. Auch der Bundesinnenminister hat ja quasi gesagt, es deutet vieles darauf hin. Insofern würde ich das auch so unterschreiben.
"Dieser Anschlag könnte genau in dieses IS-Muster hineinpassen"
Kaess: Was spricht für Sie für einen dschihadistischen Hintergrund, wie Sie das gerade schon angesprochen haben?
Neumann: Zum einen, was ich gerade schon berichtet habe, die Methode des Anschlags, die ja genau in das Muster hineinpasst, das wir in den letzten zwei Jahren schon gesehen haben. Und zum anderen natürlich die Tatsache, dass Deutschland dieser Terrorgefahr besonders stark ausgesetzt ist momentan und dass diese Art von Anschlag auch in die Strategie des sogenannten Islamischen Staates hineinpasst. Der Islamische Staat hat ja eine zweigleisige Strategie. Zum einen sagt er, kommt nach Syrien, wir bilden euch hier aus und schicken euch mit Kampfauftrag zurück. Das sind dann Anschläge wie in Paris und Brüssel, die von ehemaligen Auslandskämpfern durchgeführt wurden. Aber zum anderen sagt der Islamische Staat auch, macht was ihr wollt, wenn ihr Unterstützer unserer Organisation im Westen seid. Dann könnt ihr mit einfachsten Mitteln Anschläge durchführen und wir reklamieren die dann später für uns. Und das ist genau das Muster, was wir verschiedentlich auch in den letzten ein oder zwei Jahren in Europa gesehen haben, und dieser Anschlag, wenn es denn einer ist, könnte genau in dieses Muster hineinpassen.
Kaess: Herr Neumann, wenn Sie jetzt schon so konkret in diese Richtung gehen - es gibt Spekulationen über die Herkunft des mutmaßlichen Täters -, was wissen Sie?
Neumann: Ich weiß natürlich nur das, was in den Medien berichtet wird, und die Medien beziehen sich ja auch auf Sicherheitskreise. Es geht also nicht um völlig wirre Spekulationen. Das sind Informationen, die offensichtlich von der Polizei und von Nachrichtendiensten gestreut werden. Ich wäre da allerdings noch etwas vorsichtig. Ich möchte schon, dass wir genau wissen, wer das ist, und dass wir erst dann Urteile darüber fällen, wie dieser Anschlag zustande gekommen ist. Ich glaube, die Polizei wird auch ganz besonders daran interessiert sein, ob es da ein Netzwerk gab, ob das ein Einzeltäter war, der das auf eigene Faust gemacht hat, oder ob er Unterstützung hatte, ob er möglicherweise Kontakte zu einer Gruppe und zu einer Institution hat.
"Müssen erst mal Abwarten, was bei den Untersuchungen herauskommt"
Kaess: Aber für Sie kommt der Attentäter aus einem dschihadistischen Umfeld, wenn ich Sie da richtig verstehe?
Neumann: Basierend auf der Methode des Anschlags und basierend auf dem Muster scheint alles darauf hinzudeuten, obwohl wir natürlich genau diese Informationen momentan noch nicht bestätigt haben.
Kaess: Sie haben diese These des Einzeltäters angesprochen. Damit hatten wir in letzter Zeit öfter mal zu tun. Was spricht für Sie in diesem Fall dafür, dass es auch hier so sein könnte?
Neumann: Es war ein Einzeltäter insofern, als momentan alles darauf hindeutet, dass er der Fahrer des Lkw war. Auch im Falle von Nizza war es am Anfang so, dass man davon ausging, es muss ein Einzeltäter gewesen sein, aber es hat sich dann im Laufe der Tage herausgestellt, als mehr Informationen ans Licht kamen, dass es da durchaus Unterstützer gab und dass es da durchaus eine längere Vorbereitung gab. Deswegen würde ich auch momentan sagen, wir wissen von einer Person, die diesen Anschlag durchgeführt hat. Es mag aber durchaus so sein, dass sich im Laufe der Ermittlungen dann herausstellt, dass da mehrere Leute noch mit dranhingen. Deswegen würde ich auch hier sagen, wir müssen erst mal abwarten, was bei diesen Untersuchungen herauskommt. Momentan wissen wir von einer Person. Es kann aber durchaus sein, dass da noch mehrere Personen ans Tageslicht kommen.
Kaess: Das heißt aber auch, Herr Neumann, wenn das Ganze in Berlin von einem größeren Netzwerk gesteuert worden wäre, dann müssten wir nicht zwangsläufig mehr wissen. Auch das ist tatsächlich im Vorfeld schwer aufzuklären.
Neumann: Ja. Aber grundsätzlich ist es so in der Polizeiarbeit, dass je mehr Personen an einem Anschlag beteiligt sind, desto mehr wird auch kommuniziert, desto mehr wird sowohl elektronisch als auch per Telefon kommuniziert und desto einfacher wird es möglicherweise, dann Verbindungen aufzudecken. Das Problem mit einem sogenannten einsamen Boy, einem Einzeltäter, der tatsächlich isoliert ist, ist ja, dass man da schlecht herankommt und dass man sehr wenig weiß darüber, wie diese Person kommuniziert und welche Absichten sie hat. Wenn es um ein Netzwerk geht, dann gibt es natürlich Möglichkeiten, an Kommunikation heranzukommen und das auch besser aufzudecken.
"Der IS selber hat diese Anschlagsmethode sehr in den Vordergrund gestellt"
Kaess: Sie haben jetzt den Anschlag von Nizza im vergangenen Sommer als so etwas dargestellt wie eine Blaupause. Müssen wir mit Nachahmungseffekten rechnen in der kommenden Zeit?
Neumann: In der dschihadistischen Szene oder im dschihadistischen Terrorismus ist es grundsätzlich so, dass sich Attentäter und dass sich Gruppen die Anschläge der Vergangenheit anschauen und dass man häufig sieht, dass Anschläge, die aus ihrer Sicht gut gelaufen sind oder effektiv waren, dass die dann promotet werden von der Gruppe selber und dass die dann auch nachgemacht werden. Ich glaube, der Anschlag in Nizza - und das habe ich auch vor den Anschlägen in Berlin schon gesagt -, der war aus dschihadistischer Sicht so erfolgreich, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis dieser nachgeahmt wurde. Denn es gab noch keinen Anschlag mit einem Auto, der von einem Einzeltäter durchgeführt wurde, bei dem so viele Menschen zu Tode kamen. Aus dschihadistischer Sicht ist das ein Erfolg der eigenen Strategie und deswegen wurde darüber auch sehr häufig im Internet geredet von Unterstützern der dschihadistischen Gruppen. Es wurde sehr häufig diskutiert, ob es nicht Möglichkeiten gäbe, das wieder neu durchzuführen. Auch der Islamische Staat selber hat diese Anschlagsmethode in seiner eigenen Propaganda sehr in den Vordergrund gestellt. Deswegen denke ich, dass das eine Methode ist, die jetzt auch nachgemacht wird.
Kaess: Herr Neumann, noch kurz zum Schluss. Wenn es jetzt tatsächlich so wäre, dass mit dem, was in Berlin passiert ist, wir den ersten größeren terroristischen Anschlag in Deutschland hätten, hätte sich damit auch die Sicherheitslage in Deutschland verschärft?
Neumann: Die Sicherheitslage hat sich durch diesen Anschlag nicht grundsätzlich geändert. Wir haben seit einiger Zeit schon eine verschärfte Sicherheitslage, wahrscheinlich eine höhere Terrorgefahr als an irgendeinem Punkt in den letzten 15 Jahren. Das ist seit 2014 so und ich vermute, das wird auch noch einige Jahre so bleiben. Der Anschlag an sich hat daran nichts geändert.
Kaess: … sagt Peter Neumann, Terrorismus-Experte vom King’s College in London. Danke für Ihre Einschätzungen heute Morgen.
Neumann: Vielen Dank.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen./