"Sie merken, wir sind in einem Tempel der Kunst. Alles hier sieht aus wie antike Tempel. Was hier ist, das ist die Sehnsucht unserer Zeit – des 19. Jahrhunderts aber auch unsere Sehnsucht –, das antike Raumgefühl wiederherzustellen für normale Bürger im aufgeregten Berlin."
Antike Räume – im Griechischen "topoi" – bilden seit fünf Jahren das gemeinsame Thema für rund 200 Berliner Wissenschaftler aus 30 akademischen Fächern im gleichnamigen Forschungsverbund. Bénédikte Savoy ist eine von ihnen. Im Neuen Museum übernahm die Professorin für Kunstgeschichte an der Technischen Universität allerdings einen ungewöhnlichen Job: Sie führte Schüler einer elften Klasse in ihre Forschung ein, indem sie mit ihnen einen ganz besonders inszenierten Raum betrat: das Allerheiligste mit der weltberühmten Büste Nofretetes.
"Es sieht ziemlich echt aus. So als würde sie gleich aufstehen und sich bewegen."
meint Karlina von der Berliner Sophie-Scholl-Gesamtschule – so gegenwärtig und lebendig erscheint ihr das 34 Jahrhunderte alte Kunstwerk. Gegenwärtig und lebendig ist die Antike tatsächlich überall im modernen Alltag. Und die Kunsthistorikerin erklärt warum:
"Das gesamte 19. Jahrhundert, das heißt auch unsere Zeit bis heute ist geprägt von der Antikenrezeption. Unsere Museen sehen aus wie Tempel, unsere Börsen, unsere Parlamente sehen aus wie Tempel. Und wenn man das nicht in diesem Rückbezug herstellen kann, dann ist man im Grunde in seiner eigenen Zeit verloren. Das heißt, man muss das vielleicht interessanter machen aber vor allem muss man das bewusst machen."
Dazu bekamen die rund 100 Oberstufenschüler aus Berlin eine einzigartige Chance in dem Projekt "Zukunftsportal Antike" – eigens für sie organisiert von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und dem Exzellenzclusters TOPOI.
"Bei TOPOI in meiner Forschungsgruppe geht es darum, wie Museen seit ihrer Gründung im Grunde eine Aktualisierung des antiken Raumgefühls provozieren wollen. Also wie, wenn man ein Museum betreten hat 1830 oder 1930 oder heute, religiöse Gefühle, sakrale Gefühle wie in einem Tempel erweckt werden sollten, weil die Kunst die neue Religion war."
Mit dem Sammeln und der Ausstellung von Kunstschätzen aus der antiken Welt verwiesen Staaten auf gewichtiges kulturelles Erbe und demonstrierten Stärke. Mit den Schülern erörterte Benedikte Savoy deshalb den Streitfall Nofretete und die so aktuelle Frage: Wem gehört sie eigentlich, die Antike?
"Warum haben wir dieses Kunstwerk? Warum wird es hier so wahnsinnig inszeniert? Warum ist Nofretete eine Ikone für die Berliner? Ist es richtig, dass sie hier ist? Soll sie überhaupt sein?"
Anderen Schülern öffnete derweil der Epigraphiker Professor Klaus Hallof von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften einen ebenso besonderen antiken Raum:
"Der Raum unter uns, der unterirdische Raum, der gedachte Raum unter der Erde mit seinen merkwürdigen Rückwirkungen auf die oberirdische Welt und diesen merkwürdigen Durchlässen. Die Frage also: Wie kommt man von oben nach unten? Und wie kann man die dort befindlichen Dämonen und Gottheiten dazu bestimmen, dass sie nach oben zurückwirken?"
Mit Fluchtafeln! Kleinen gefalteten Plättchen aus Blei versehen mit bösen Wünschen. Möge die Unterwelt-Gottheit beim Pferderennen die Konkurrenz und dessen Tiere lahm legen oder dem gegnerischen Anwalt die Zunge schwer machen oder eine Betrügerin mitsamt ihrer Sippe heimsuchen. Die kleinen Tafeln werden bei Ausgrabungen überall dort gefunden, wo Wege in die Unterwelt vermutet werden: Auf Friedhöfen etwa oder in unterirdischen Wasserreservoirs. 200 dieser Täfelchen – die größte Sammlung außerhalb Athens – kamen einst nach Berlin und gerieten durch die Wirren der deutschen Teilung in Vergessenheit. Klaus Hallof fand sie wieder. Topoi machte die Restaurierung möglich. Dabei wurden die Täfelchen aufwendig fotografiert und jetzt wird die Sammlung an der Akademie in einem Langzeitprojekt entziffert. Nur etwa vier Wissenschaftler weltweit können diese Tafeln lesen. Sie alle arbeiten über Topoi an dem Berliner Projekt mit.
"Diese Fluchtafeln werden im Moment sehr diskutiert. Weil sie mentale Strukturen erkennen lassen, die wir aus keiner anderen Quelle haben. Weil sich natürlich Platon und Aristoteles sich nie darum gekümmert haben, was macht man, wenn man einen Nachbar am liebsten umbringen würde! Also man spricht sogar von regulierter Konfliktbewältigung, die in diesen Fluchtafeln drin stecken könnte, weil sich diese formelhaften Stücke ja über Jahrhunderte gehalten haben. Besser als ein Mord ist, wenn man eine Fluchtafel wirft. Die schadet niemandem, also jedenfalls leiblich nicht. Also es muss da einen gewissen Konsens gegeben haben, dass man das machen konnte."
Also Raum für Übereinkünfte. Räume, das TOPOI Thema, können also nicht nur besondere Orte, sondern auch Denk- und Wissensräume bedeuten. Professor Michael Meyer vom Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Universität Berlin ist Sprecher von TOPOI:
"Wir merken also, dass Vieles, was an Wissensbeständen entsteht, einen ganz starken Bezug zu Räumen hat. Also es sind die sozialen und politischen Räume, in denen dann Wissen überhaupt entstehen kann und in denen Wissen weitergegeben wird. Es ist der Naturraum, in dem ganz viel Wissen entsteht. Wissen über Ackerbau und - Bewässerung ist zum Beispiel ein TOPOI Thema. Und diese Zusammenhänge, diese Interdependenz zwischen Raum und Wissen, das ist eigentlich das, was wir in TOPOI verfolgen."
Ein Motiv für das Engagement der Wissenschaftler im Schülerprojekt war auch, den jungen Menschen klar zu machen, in welcher Transformation von Wissen und Raum sie sich befinden. Michael Meyer erinnerte sie an das allgegenwärtige Internet:
"Ihr erlebt einen wahnsinnigen Entwicklungsprozess, eine wahnsinnige Erosion von sehr alten, sehr stabilen Strukturen. Also die Struktur: Wie wird Wissen weitergegeben und generiert? Wie wird Wissen aufgeschrieben und dokumentiert. Das ist ja enorm, was da in wenigen Jahren jetzt passiert ist. Und das Gleiche mit dem Raum. Mit der Globalisierung, mit dem kompletten Aufbrechen von räumlichen Kategorien als relevant für bestimmte Politikfelder."
Der Einblick in das bemerkenswerte Forschungsnetzwerk verlangte von den Schülern nicht nur Zuhören. Drei Tage arbeiteten sie intensiv in Workshops, um am Ende einen eigenen Kongress zu stemmen. Dafür sollte man auch reden, argumentieren, darstellen, das Publikum einnehmen können – und die Vorlage dafür lieferte der Philosoph Tim Wagner. Selbstverständlich aus der Antike:
"Da haben wir klassische Texte zur Theorie der Antike gelesen also von Platon und von Aristoteles, auch ein bisschen in die römische Rhetorik geschaut und haben das dann in gewisser Weise praktisch erprobt, ob es denn wirklich so ist, vor allem wie Aristoteles behauptet, dass die Überzeugung im wesentlichen durch Argumente zustande gebracht wird. Das heißt wir haben in diesem Workshop auch an gegenwärtigen Themen überlegt, welche Argumentationsstrategie ein Redner wählen könnte, um sein Publikum zu überzeugen."
Im gefüllten Leibnizsaal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften präsentierten sich die Schüler schließlich gekonnt als potenzieller Nachwuchs für das Cluster. Dustin Stadtgewitz vom Berliner Barnim Gymnasium:
"Wir haben uns natürlich am Anfang gefreut, dass es mal eine Abwechslung zum Alltagsunterricht ist, das Ganze Projekt. Das Rhetoriktraining hat Spaß gemacht. Das Thema war natürlich sehr komplex, gerade die Antike und wie die Philosophen damals geredet haben, das dann darzustellen. Also ich hab’s mir genauso vorgestellt mit der Kulisse, mit dem Publikum, mit allem. Meine Erwartungen wurden voll erfüllt."
Antike Räume – im Griechischen "topoi" – bilden seit fünf Jahren das gemeinsame Thema für rund 200 Berliner Wissenschaftler aus 30 akademischen Fächern im gleichnamigen Forschungsverbund. Bénédikte Savoy ist eine von ihnen. Im Neuen Museum übernahm die Professorin für Kunstgeschichte an der Technischen Universität allerdings einen ungewöhnlichen Job: Sie führte Schüler einer elften Klasse in ihre Forschung ein, indem sie mit ihnen einen ganz besonders inszenierten Raum betrat: das Allerheiligste mit der weltberühmten Büste Nofretetes.
"Es sieht ziemlich echt aus. So als würde sie gleich aufstehen und sich bewegen."
meint Karlina von der Berliner Sophie-Scholl-Gesamtschule – so gegenwärtig und lebendig erscheint ihr das 34 Jahrhunderte alte Kunstwerk. Gegenwärtig und lebendig ist die Antike tatsächlich überall im modernen Alltag. Und die Kunsthistorikerin erklärt warum:
"Das gesamte 19. Jahrhundert, das heißt auch unsere Zeit bis heute ist geprägt von der Antikenrezeption. Unsere Museen sehen aus wie Tempel, unsere Börsen, unsere Parlamente sehen aus wie Tempel. Und wenn man das nicht in diesem Rückbezug herstellen kann, dann ist man im Grunde in seiner eigenen Zeit verloren. Das heißt, man muss das vielleicht interessanter machen aber vor allem muss man das bewusst machen."
Dazu bekamen die rund 100 Oberstufenschüler aus Berlin eine einzigartige Chance in dem Projekt "Zukunftsportal Antike" – eigens für sie organisiert von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und dem Exzellenzclusters TOPOI.
"Bei TOPOI in meiner Forschungsgruppe geht es darum, wie Museen seit ihrer Gründung im Grunde eine Aktualisierung des antiken Raumgefühls provozieren wollen. Also wie, wenn man ein Museum betreten hat 1830 oder 1930 oder heute, religiöse Gefühle, sakrale Gefühle wie in einem Tempel erweckt werden sollten, weil die Kunst die neue Religion war."
Mit dem Sammeln und der Ausstellung von Kunstschätzen aus der antiken Welt verwiesen Staaten auf gewichtiges kulturelles Erbe und demonstrierten Stärke. Mit den Schülern erörterte Benedikte Savoy deshalb den Streitfall Nofretete und die so aktuelle Frage: Wem gehört sie eigentlich, die Antike?
"Warum haben wir dieses Kunstwerk? Warum wird es hier so wahnsinnig inszeniert? Warum ist Nofretete eine Ikone für die Berliner? Ist es richtig, dass sie hier ist? Soll sie überhaupt sein?"
Anderen Schülern öffnete derweil der Epigraphiker Professor Klaus Hallof von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften einen ebenso besonderen antiken Raum:
"Der Raum unter uns, der unterirdische Raum, der gedachte Raum unter der Erde mit seinen merkwürdigen Rückwirkungen auf die oberirdische Welt und diesen merkwürdigen Durchlässen. Die Frage also: Wie kommt man von oben nach unten? Und wie kann man die dort befindlichen Dämonen und Gottheiten dazu bestimmen, dass sie nach oben zurückwirken?"
Mit Fluchtafeln! Kleinen gefalteten Plättchen aus Blei versehen mit bösen Wünschen. Möge die Unterwelt-Gottheit beim Pferderennen die Konkurrenz und dessen Tiere lahm legen oder dem gegnerischen Anwalt die Zunge schwer machen oder eine Betrügerin mitsamt ihrer Sippe heimsuchen. Die kleinen Tafeln werden bei Ausgrabungen überall dort gefunden, wo Wege in die Unterwelt vermutet werden: Auf Friedhöfen etwa oder in unterirdischen Wasserreservoirs. 200 dieser Täfelchen – die größte Sammlung außerhalb Athens – kamen einst nach Berlin und gerieten durch die Wirren der deutschen Teilung in Vergessenheit. Klaus Hallof fand sie wieder. Topoi machte die Restaurierung möglich. Dabei wurden die Täfelchen aufwendig fotografiert und jetzt wird die Sammlung an der Akademie in einem Langzeitprojekt entziffert. Nur etwa vier Wissenschaftler weltweit können diese Tafeln lesen. Sie alle arbeiten über Topoi an dem Berliner Projekt mit.
"Diese Fluchtafeln werden im Moment sehr diskutiert. Weil sie mentale Strukturen erkennen lassen, die wir aus keiner anderen Quelle haben. Weil sich natürlich Platon und Aristoteles sich nie darum gekümmert haben, was macht man, wenn man einen Nachbar am liebsten umbringen würde! Also man spricht sogar von regulierter Konfliktbewältigung, die in diesen Fluchtafeln drin stecken könnte, weil sich diese formelhaften Stücke ja über Jahrhunderte gehalten haben. Besser als ein Mord ist, wenn man eine Fluchtafel wirft. Die schadet niemandem, also jedenfalls leiblich nicht. Also es muss da einen gewissen Konsens gegeben haben, dass man das machen konnte."
Also Raum für Übereinkünfte. Räume, das TOPOI Thema, können also nicht nur besondere Orte, sondern auch Denk- und Wissensräume bedeuten. Professor Michael Meyer vom Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Universität Berlin ist Sprecher von TOPOI:
"Wir merken also, dass Vieles, was an Wissensbeständen entsteht, einen ganz starken Bezug zu Räumen hat. Also es sind die sozialen und politischen Räume, in denen dann Wissen überhaupt entstehen kann und in denen Wissen weitergegeben wird. Es ist der Naturraum, in dem ganz viel Wissen entsteht. Wissen über Ackerbau und - Bewässerung ist zum Beispiel ein TOPOI Thema. Und diese Zusammenhänge, diese Interdependenz zwischen Raum und Wissen, das ist eigentlich das, was wir in TOPOI verfolgen."
Ein Motiv für das Engagement der Wissenschaftler im Schülerprojekt war auch, den jungen Menschen klar zu machen, in welcher Transformation von Wissen und Raum sie sich befinden. Michael Meyer erinnerte sie an das allgegenwärtige Internet:
"Ihr erlebt einen wahnsinnigen Entwicklungsprozess, eine wahnsinnige Erosion von sehr alten, sehr stabilen Strukturen. Also die Struktur: Wie wird Wissen weitergegeben und generiert? Wie wird Wissen aufgeschrieben und dokumentiert. Das ist ja enorm, was da in wenigen Jahren jetzt passiert ist. Und das Gleiche mit dem Raum. Mit der Globalisierung, mit dem kompletten Aufbrechen von räumlichen Kategorien als relevant für bestimmte Politikfelder."
Der Einblick in das bemerkenswerte Forschungsnetzwerk verlangte von den Schülern nicht nur Zuhören. Drei Tage arbeiteten sie intensiv in Workshops, um am Ende einen eigenen Kongress zu stemmen. Dafür sollte man auch reden, argumentieren, darstellen, das Publikum einnehmen können – und die Vorlage dafür lieferte der Philosoph Tim Wagner. Selbstverständlich aus der Antike:
"Da haben wir klassische Texte zur Theorie der Antike gelesen also von Platon und von Aristoteles, auch ein bisschen in die römische Rhetorik geschaut und haben das dann in gewisser Weise praktisch erprobt, ob es denn wirklich so ist, vor allem wie Aristoteles behauptet, dass die Überzeugung im wesentlichen durch Argumente zustande gebracht wird. Das heißt wir haben in diesem Workshop auch an gegenwärtigen Themen überlegt, welche Argumentationsstrategie ein Redner wählen könnte, um sein Publikum zu überzeugen."
Im gefüllten Leibnizsaal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften präsentierten sich die Schüler schließlich gekonnt als potenzieller Nachwuchs für das Cluster. Dustin Stadtgewitz vom Berliner Barnim Gymnasium:
"Wir haben uns natürlich am Anfang gefreut, dass es mal eine Abwechslung zum Alltagsunterricht ist, das Ganze Projekt. Das Rhetoriktraining hat Spaß gemacht. Das Thema war natürlich sehr komplex, gerade die Antike und wie die Philosophen damals geredet haben, das dann darzustellen. Also ich hab’s mir genauso vorgestellt mit der Kulisse, mit dem Publikum, mit allem. Meine Erwartungen wurden voll erfüllt."