"Lügenpresse, Lügenpresse" (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes)
"Kein deutscher Mensch ist so wertvoll wie ein analphabetischer Afghane, ein krimineller Afro." (Akif Prinicci)
Professor Martin Korte: "Das ist auch das Gefährliche, weil das so ständig selbst erfüllende Prophezeiungen werden. Da kann manchmal diese Art der Wahrnehmung sehr weit an der Weltrealität vorbei gehen."
"Gegründet von einem durchtriebenen Juden sind die Sunniten eine abtrünnige Sekte, die im Totenkult ertrinkt, die Freunde und Frauen des Propheten verflucht und Zweifel an den Grundpfeilern der Religion sät." (Dabiq13)
Professorin Karen Douglas: "Menschen sind sehr gut darin, die eigenen Überzeugungen zu schützen. Gegenargumente werden ausgefiltert. So können sie an dem festhalten, was sie glauben und was ihnen wichtig ist."
"Ohne Zerstörung kein Aufbau", "Gegen Staat und Kapital und das ganze Schweinesystem" (Antifa und Autonome)
Professor Tom Stafford: "Es ist sehr gefährlich, bestimmte Gruppen irrational zu nennen. Das ist nicht nur beleidigend, es macht jeden Dialog unmöglich. Wenn die Menschen irrational sind, wie will man sie dann überzeugen?"
"Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!"
Die Welt ist groß, die Welt ist chaotisch. Und doch muss sie jeder Mensch irgendwie in den eigenen Kopf hineinbekommen. Ob Philosoph oder Friseur, Dschihadist oder Nationalist: Ohne gewagte Denk-Abkürzungen kommt dabei niemand aus. Das fällt nicht weiter auf, solange alle ungefähr das Gleiche denken.
Das wichtigste aller Vorurteile
Jeder guckt aus seinem Kopf heraus und erkennt seine eigene kleine Welt. Ich will verstehen, wie es zu dieser Auffächerung der Wirklichkeiten kommt. Der erste Schritt auf diesem Weg ist, das wichtigste Vorurteil zu erkennen. Und das lautet: Vorurteile haben immer nur die anderen.
Professor Andreas Beelmann: "Wir ordnen Menschen zu bestimmten sozialen Kategorien zu auf Basis unserer Erfahrungen und das ist zunächst mal überhaupt kein schlechtes Zeichen."
Der Psychologe Andreas Beelmann ist ein Veteran der Vorurteilsforschung. An der Universität Jena untersucht er, wie sich Vorurteile beeinflussen lassen. Sie abzuschaffen ist für ihn kein sinnvolles Ziel, denn ohne Vorurteile geht es nicht.
Professor Andreas Beelmann: "Stellen Sie sich vor, Sie müssten bei jedem Menschen, den sie treffen, neu überlegen, was ist das eigentlich für ein Mensch, um daraufhin sozial mit ihm zu interagieren."
Beelmann ist ein älterer, ruhiger Typ, entspricht meinem Bild vom Professor. Mit Professoren habe ich Erfahrung, ich weiß, was ich zu erwarten, wie ich zu reagieren habe.
Beelmann: "Der zweite Prozess ist der, dass wir uns selbst solchen sozialen Kategorien zuordnen und unsere Identität, unseren Selbstwert an diesen sozialen Kategorien aufbauen."
Degner: "Ich muss als Kind, als Jugendlicher lernen, wer bin ich? Und ich lerne das nur, indem ich herausfinde: Wo gehöre ich hin? Zu wem gehöre ich? Das kann die Familie sein, soziale Gruppen, bestimmte Bezugsrahmen. Und die brauchen wir einfach, um uns selbst zu definieren, sonst könnten wir das nicht, sonst hätten wir kein Selbst in der Form."
Juliane Degner ist Psychologin von der Universität Hamburg. Nebenbei: Sie entspricht nicht meinem Stereotyp der Professorin, ist viel zu jung. In ihrem Arbeitszimmer liegt auch Kinderspielzeug. Hier muss ich meine Vorstellungen offenbar nachjustieren. Ich selbst verstehe mich übrigens als Journalist, als Vater, als dilettierender Hobbymusiker, als Deutscher.
Degner: "Ich gehöre einer Gruppe zu und grenze davon eine Gruppe ab, und dafür benötige ich immer irgendwelche Merkmale, die Gruppen voneinander trennen. Und idealerweise fallen die positiven Merkmale meiner Gruppe zu und die negativen der anderen Gruppe, und so macht die andere Gruppe das ganz genauso."
Beelmann: "Und aus dieser Differenz erwachsen dann Vorurteile."
Das also ist der Kern der kleinen Welt im Kopf. Ich bin Teil meiner Gruppe und damit anders und irgendwie auch besser als Du und Deine Gruppe. Diese Entwicklung durchlebt jeder. Schon Kleinkinder plappern die Sprüche ihrer Eltern nach. Dann aber spielen sie einfach mit den anderen, egal woher sie kommen. Echte Vorurteile finden sich erst etwas später. Der Einfluss der Eltern auf die kleine Welt des Kindes ist da bereits am Schwinden.
Degner: "Ich habe eine fast vierjährige Tochter. Wenn ich versuche, ihr beizubringen, dass Jungs und Mädchen tatsächlich beide Fußball spielen dürfen, dann hat das wenig Wert, weil ihre beste Freundin sagt, das ist eine Jungssache und eine Mädchensache ist das nun einmal nicht. Da kann Mama sagen, was sie will."
Anpassen an die Peer Group
Die Gleichaltrigen bestimmen, was wichtig und was richtig ist. Ihre Einsichten leiten sie dabei oft aus der Beobachtung ab. Papa arbeitet und Mama ist zuhause. Das stimmt längst nicht mehr in jeder Familie, aber rein statistisch ist da in unserer Gesellschaft etwas dran, und das registrieren Kinder sehr genau. Ebenso bemerken sie, ob das Wechselgeld beim türkischen Gemüsehändler eher nachgezählt wird, als beim deutschen Bäcker. Und dass im Fernsehen Harry Potter einen weiß-silbernen Schutzgeist hat, während der durchtriebene Professor Snape immer im schwarz wehenden Umhang daherkommt. Diese Beobachtungen setzen sich in ganz alten Gehirnstrukturen fest.
Professor Martin Korte: "Die Amygdala ist, wenn man so will, unser Emotionscomputer in unserem Gehirn, der vor allen Dingen mit Angst oder Aggression reagiert, und der vor allen Dingen sehr einfache Verschaltungsmuster, sehr einfache Charakteristika einer Situation abspeichert und dann in eine Erwartungshaltung ummünzt."
Martin Korte ist Hirnforscher an der Universität Braunschweig. Mann, mittleres Alter, überall Artikel auf Stühlen und Tischen. Arbeitstier? Die Amygdalas oder Mandelkerne sind für schnelles Handeln zuständig. Gebogene Linie am Boden - weghüpfen! - lange bevor das Bewusstsein überhaupt entschieden hat, ist das nun eine Schlange oder ein Stock. Details halten nur auf. Die Prozesse laufen völlig automatisch ab, das Bewusstsein kann nicht eingreifen.
Korte: "Man sieht auch bei Menschen, die sich für völlig vorurteilsfrei halten, wenn ihnen Menschen mit dunkler Hautfarbe entgegenkommen, springt die Amygdala viel, viel stärker an, als das bei entweder weißen oder asiatisch aussehenden Menschen der Fall wäre. Interessanterweise sogar auch bei dunkelhäutigen Menschen, die befragt wurden. Also man sieht, dass selbst gegenüber der eigenen Bevölkerungsgruppe Vorurteile hier bestehen können."
Die Mandelkerne verarbeiten auch positive Emotionen, aber das war evolutionär wohl eher ein Nebenjob. Ein misstrauischer Urmensch überlebt im Zweifelsfall, selbst wenn das Misstrauen unbegründet ist. Wer dagegen immer nur mit dem Besten rechnet, irrt sich irgendwann mit möglicherweise fatalen Folgen.
Degner: "Das zeigt auch, dass wir in einer gewissen Weise vorbereitet sind, negativ zu reagieren, denn: Andersartigkeit heißt, ich muss drüber nachdenken, das ist schwer, das ist anstrengend, da sagt mein kognitiver Apparat, will ich gerade nicht oder kann ich gerade nicht. Und deshalb tendieren wir dazu, Andersartigkeit erst einmal negativ zu bewerten."
Natürlich fallen die Hautfarbe, das Geschlecht, die Kleidung direkt ins Auge und stoßen damit schnelle, unbewusste Bewertungsprozesse an. Eine biologische Kategorie sind sie trotzdem nicht.
Degner: "Wir lernen zum Beispiel, dass bei uns Hautfarbe relevant ist, Augenfarbe aber nicht. Da wird einfach gesellschaftliche Bedeutung, soziale Bedeutung rein gepackt."
Schubladendenken funktioniert automatisch, ist kaum abzuschalten. Aber bin ich deshalb der kleinen Welt in meinem Kopf ausgeliefert? Nein, beruhigt mich Martin Korte. Die Mandelkerne sind zwar ein wichtiger, aber eben nur ein Teil des Gehirns.
Korte: "Die Amygdala ist eingebunden in eine ganze Reihe von anderen Strukturen, unter anderem in Stirnlappenstrukturen, die sich evolutiv entwickelt haben, um die Amygdala in ihren Reaktionen einzudämmen und zu kontrollieren, damit eben auch noch andere Erfahrungshorizonte in unserem Verhalten eine Rolle spielen."
Der Stirnlappen wird im Rahmen der Pubertät massiv umgebaut. Erwachsene können deshalb ihre Vorurteile bewusst im Zaum halten. Dafür braucht der Stirnlappen aber Futter, meint Andreas Beelmann:
"Wenn ich viele soziale Erfahrungen mache, mich also nicht nur in meinem unmittelbaren Umfeld orientiere, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass viel zu meiner Persönlichkeit dazugehört, viele Erfahrungen."
Vielfältige Erlebnisse können die Perspektive weiten. Das Denken ist dann kein monolithischer Block, es zeigt Facetten. Lebt man dagegen in einer homogenen Umgebung, schrumpft die Welt im Kopf. Kommen dann noch Misserfolge dazu, das Gefühl, die eigene Situation nicht beeinflussen zu können, ziehen sich Menschen gänzlich auf einfache Konzepte zurück, auf die eigene Nationalität, die eigene Religion oder die eigene Männlichkeit.
Beelmann: "Nur das, das kann man mir nicht nehmen. Sofern das das Einzige ist, das Hauptmerkmal, an dem ich meinen Selbstwert aufbaue, meine Zugehörigkeit aufbaue, wird es immer wahrscheinlicher, dass ich mich bedroht fühle, wenn andere darüber Witze machen, Karikaturen schreiben und so weiter."
Der Hass der Masse
"Der Geburtendschihad hat bereits zugeschlagen, die muslimische Wurfmaschinen gebären auf Teufel komm raus" (Tatjana Festerling)
"Hey, wo ist dein Kopftuch! Was soll das, Du Schlampe?"
Pegida, Scharia-Polizei, AfD, Demonstrationen gegen Mohammed Karikaturen, die Anschläge von Paris und die Reaktionen darauf. Vorurteile dienen nicht mehr nur der Selbstvergewisserung.
Degner: "Was sich jetzt momentan stark verändert hat, ist die Wahrnehmung von essentieller Angst, die dazukommt. Hier geht es nicht nur um Angst vor Andersartigkeit sondern um eine Bedrohung, die hochkommt und hochgespielt wird."
"Die Muslime haben hier nichts zu suchen, überhaupt nichts, ich bin voller Hass."
Am 13. November 2015 wird Paris von einer Anschlagserie erschüttert. Die Polizei stürmt später ein Versteck mutmaßlicher Attentäter. Ein Foto hält die Szene fest. Ich zeige es Juliane Degner:
"Natürlich, es ist dehumanisierend ..."
Das Foto zeigt ein knappes Dutzend schwer bewaffneter Polizisten in Schutzmontur. Mittendrin ein Mann, bekleidet mit einem weißen T-Shirt, von der Hüfte abwärts nackt. Degner:
"Jeder andere vermutliche Straftäter, dem hätte man schon gestattet sich eine Decke umzulegen. Also je länger ich mir das angucke, umso stärker wird dieser Eindruck: Der ist anders als wir."
Ich hatte darauf gewartet, dass das Pressefoto einen Aufschrei der Empörung auslösen würde. Doch unter dem Schock der brutalen Attentate schien noch nicht einmal jemand zu bemerken, dass mit dem Bild etwas nicht stimmt. Degner:
"Eine Demokratie darf sich so etwas nicht erlauben. Wir wissen aus unserer eigenen deutschen Geschichte, was passiert, wenn man Menschenrechte nur bestimmten Gruppen von Menschen zuspricht. Das ist ganz hoch gefährlich. Und wir wissen auch, dass solche Bilder Stereotype auf anderer Seite auch verstärken. Nämlich dass Muslime in Deutschland schikaniert werden."
"Horden von männlichen Invasoren, entfesselte Gewalt, zugemüllte Landstriche wie im Balkan, wie in Pakistan. Wollt ihr den totalen Asylstaat?"
Von den sieben muslimischen Tatverdächtigen wurden übrigens sechs später wieder freigelassen.
"Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen."
Vorurteile stecken in einem Kopf, herausgebrüllt werden sie in der Masse. Das gilt für Pegidademonstranten ebenso wie für aufgebrachte Gläubige.
Das wirkt bedrohlich, weil es nicht meine Gruppe ist, die da ruft. Dass es sich gut anfühlt, Teil der Masse zu sein, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Auf der Friedensdemo in Bonn Anfang der 80er habe ich mit hunderttausend anderen Parolen gebrüllt und dabei wahrscheinlich auch Leute am Straßenrand verstört.
Korte: "Menschliche Gehirne sind soziale Gehirne, die sich damit belohnen, mit dem Belohnungssystem des Gehirns, wenn sie mit Übereinstimmung mit anderen Menschen Entscheidungen treffen."
Gemeinschaft aktiviert die gleichen Regelkreise wie ein leckeres Essen, Wein oder Sex. Für Homo sapiens ist sie so wichtig wie Nahrung oder Fortpflanzung.
Korte: "Das ist gut, aber das ist auch immer wieder in Gruppen gefährlich, die sich mit einer bestimmten Weltanschauung immer wieder selbst verstärken. Dass sie ja schon immer das Richtige gemacht haben und immer richtig gelegen haben. Da kann manchmal diese Art der Wahrnehmung sehr weit an der Weltrealität vorbei gehen."
"37 Prozent der US-Amerikaner glauben, dass die Behörden die Wahrheit über natürliche Krebsmittel verschweigen, um die Pharmaindustrie zu schützen."
Laut einer Umfrage in 17 Staaten ist fast die Hälfte der Bürger überzeugt: El Kaida ist nicht für den Anschlag auf das World Trade Center verantwortlich. Auch Verschwörungstheorien sind Varianten eingeschränkten Denkens. Die Anhänger werden belächelt, in ihren eigenen Kreisen aber finden sie Bestätigung.
Die USA werden von einer außerirdischen Reptilienrasse regiert. Elvis lebt, Usama bin Laden lebt, Prinzessin Diana lebt, Prinzessin Diana ist tot.
Karen Douglas: "Es ist faszinierend. Manche Verschwörungstheoretiker glauben, dass Prinzessin Diana ermordet wurde, und gleichzeitig, dass sie ihren Tod nur vorgetäuscht hat und an einem Strand in der Karibik lebt."
Das klingt verrückt, aber die Psychologin Karen Douglas aus dem englischen Kent kann es erklären.
"Beide Überzeugungen gehen auf eine umfassendere Überzeugung höherer Ebene zurück, nämlich: Die Mächtigen verbergen etwas, es wird etwas vertuscht. Man weiß vielleicht nicht was, aber solange nur etwas vertuscht wird, gelten beide Versionen als glaubhaft."
Wer dieses grundsätzliche Misstrauen teilt, dem gelten Impfungen vielleicht ebenso verdächtig wie der Klimawandel oder 9/11.
"Viele Forscher erklären diese Leute für verrückt. Aber mehr als die Hälfte der US Bürger glaubt an mindestens eine Verschwörungstheorie. Das ist eine verbreitete Form der Erklärung von seltsamen Ereignissen. Diese Menschen suchen nach der Wahrheit."
Zwischen gesunder Skepsis und wahnhafter Paranoia
Psychologische Studien zeigen: Unter den Anhängern von Verschwörungstheorien finden sich häufig auch kritische Geister, die es wagen, den Konsens in Frage zu stellen. Solche Menschen sind unbequem, aber sie können die Gesellschaft auch voranbringen. Dann nämlich, wenn sie auf Unstimmigkeiten in der Mehrheitsmeinung aufmerksam machen. Und gelegentlich stecken hinter vermeintlichen Verschwörungstheorien tatsächlich Skandale.
Iran-Kontra-Affäre: 1985 und 1986 verkauft die Reagan Regierung im Geheimen Waffen an den Iran. Mit den Einnahmen werden entgegen eines Kongressbeschlusses die rechtsgerichteten Contras in Nicaragua unterstützt. Zusätzliches Geld erhalten die Contras, indem sie mit Wissen der CIA Kokain in die USA schmuggeln.
Tuskegee-Syphilis-Studie: Zwischen 1932 und 1972 werden fast vierhundert schwarze Landarbeiter, die sich mit einer Syphilis infiziert haben, bewusst nicht über die Diagnose aufgeklärt. Und als später Medikamente zur Verfügung stehen ebenso bewusst nicht behandelt. Die Forscher wollen herausfinden, wie der natürliche Verlauf der Krankheit aussieht.
Schwer zu glauben, ist aber tatsächlich geschehen. Wenn dagegen behauptet wird, das Zika-Virus sei erst durch gentechnisch veränderte Mücken aggressiv geworden, dann ist das nachweislich falsch.
Dass die gesunde Skepsis gegenüber einer Meinung so oft mit dem unkritischen Akzeptieren einer anderen einhergeht, wird auch mit dem Internet in Zusammenhang gebracht. Suchmaschinen passen sich dem Nutzer an, präsentieren genehme Argumente und filtern Fakten. So schaffen Algorithmen eigene, abgeschlossene Informations-Ökosysteme. Karen Douglas:
"Das Internet führt vielleicht nicht zur Ausbreitung von Verschwörungstheorien. Aber es macht es den Leuten viel, viel einfacher, über solche Themen zu sprechen, Informationen zu finden und Gleichgesinnte kennenzulernen."
Andererseits wurden Verschwörungstheorien auch schon vor hundert Jahren in Leserbriefen diskutiert. Die Technik hinter der Information hält der englische Psychologe und Blogger Tom Stafford für eher nebensächlich. Denn Menschen haben zu jeder Zeit aktiv dafür gesorgt, dass nichts ihre kleine Welt im Kopf erschüttert:
"Es gab eine Studie, bei der Argumente für und gegen die Todesstrafe präsentiert wurden. Die Leute fanden vor allem Belege glaubhaft, die ihrer vorherigen Überzeugung entsprachen. Das galt für Befürworter und Gegner der Todesstrafe gleichermaßen."
Confirmation bias nennen das die Psychologen, Bestätigungsfehler. Die Neigung, nur das wahrzunehmen, was den eigenen Erwartungen entspricht. Was Tom Stafford an dieser und vielen ähnlichen Studien verblüfft: Gerade wenn den Argumenten umfangreiche Daten zugrunde liegen, sind die Teilnehmer in der Lage, sich den einen Teilaspekt herauszusuchen, der die eigene Meinung stärkt. Stafford:
"Häufig sind die Leute mit der besten Ausbildung am skeptischsten gegenüber dem Klimawandel. Das zeigt ein deprimierendes Bild der menschliche Rationalität. Je mehr Informationen man hat, je differenzierter man denken könnte, desto leichter wird es, sich die Fakten zurechtzubiegen."
Die einen greifen morgens zur "FAZ", ich zur "taz". Links wie rechts ist der Bestätigungsfehler unentrinnbar Teil der menschlichen Psyche. Er wirkt auf vielen Ebenen. Verändert zuerst die Wahrnehmung selbst, filtert dann die einlaufende Information und bringt sie schließlich noch in die passende Form.
Martin Korte: "So gehen wir quasi die ganze Zeit durchs Leben, und sortieren unsere Wahrnehmungen danach, was wir erwarten zu sehen. Obwohl die statistischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sehr, sehr klein sind, sind es in unserer Wahrnehmung häufig riesige Unterschiede, weil wir sehr genau die feinen Unterschiede detektieren und diese dann vergrößern. Auch dies trägt zu Vorurteilen bei."
Es gibt eine Vielzahl psychologischer Verzerrungen wie den Bestätigungsfehler. Das Tückische: Weil sie die Wahrnehmung verändern, sind sie praktisch unsichtbar. Das Denken biegt unbemerkt ab, bevor es an die Grenzen der kleinen Welt im Kopf stößt. Und das ist noch nicht einmal ein Fehler in der Psyche, erklärt mir Tom Stafford:
"Denkverzerrungen gibt es aus gutem Grund. Wir leben in einer unsicheren Welt mit zu wenig Information und zu wenig Zeit. Wir brauchen Abkürzungen. Deshalb orientieren wir uns an anderen und halten an Bekanntem fest. Es wäre Wahnsinn, jedes Problem von Grund auf lösen zu wollen. Diese Denkverzerrungen sind keine Fehler in unserer Rationalität, sie sind die Bestandteile dieser Rationalität."
Im Internet fahnde ich nach einem Test, mit dem ich meinen unbewussten Vorurteilen auf den Grund gehen kann. Der IAT, erfahre ich, der Implizite Assoziationstest, gilt als Goldstandard. Ich entscheide mich für ein einigermaßen unverfängliches Thema: Ossis und Wessis. Auf dem Bildschirm erscheinen in schneller Folge Städtenamen und wertende Begriffe. Meine Aufgabe besteht darin, entweder rechts oder links auf eine Taste zu drücken. Die Herausforderung: die Tastenbelegung wechselt ständig. Mal liegen ostdeutsch und postiv auf einer Taste, dann plötzlich ostdeutsch und negativ.
"Dresden, Magdeburg, Leipzig, Braunschweig."
Links, links, links, rechts.
"Glücklich, Frieden, Qual, prachtvoll, böse."
Links, links, rechts, rechts, rechts. Mist ein rotes Kreuz, ich habe falsch sortiert. Der Test ist auf Tempo angelegt, Fehler unvermeidlich. Diese Fehler sind nicht zufällig verteilt. Schon während des Tests habe ich den Eindruck, ich drücke häufiger daneben, wenn ich für den Osten und die positiven Eigenschaften dieselbe Taste verwenden soll. Ich selbst bin übrigens Schwabe. Also Westdeutscher.
"Ihre Daten lassen vermuten: eine mittlere Bevorzugung von Wessis gegenüber Ossis."
Mit diesem Test lassen sich etliche unbewusste Vorbehalte überprüfen: über Ost und West, Weiß und Schwarz, Frau und Mann. Dabei zeigt die Statistik: Klischees sind weit verbreitet. Etwa 70% der Teilnehmer verknüpfen schwarze Gesichter automatisch mit negativen Begriffen. Das trifft übrigens auch auf viele Menschen zu, die rassistische Überzeugungen weit von sich weisen. Der Implizite Assoziationstest legt nahe, dass auch ich unbewusst rassistische Vorbehalte habe. Ein ungutes Gefühl.
23. November 2014, Cleveland. Anruf bei der Notfallnummer 911:
"Hier ist ein Typ mit 'ner Pistole. Ist wohl nicht echt, aber er richtet sie auf alle hier. Wahrscheinlich ein Kind."
Die Zentrale informiert einen Streifenwagen:
"Ein schwarzer Mann sitzt auf der Schaukel im Stadtpark und zielt mit seiner Waffe auf Leute."
Die Polizisten sehen eine Person, einen Meter siebzig groß, 90 Kilo schwer.
"Hände hoch."
Die Person zieht eine Waffe. Zwei Schüsse.
Tamir Rice war zwölf Jahre alt, als er starb. In seiner Hand hielt er ein Waffenimitat, dem die vorgeschriebene rote Kappe am Lauf fehlte. Wo liegt hier der Rassismus? Bei den Polizisten, die sich kein eigenes Bild von der Situation machten? Bei der Zentrale, die eine Meldung verfälscht und Begriffe wie Mann, Schwarz, Waffe hinzudichtet? Oder bei der amerikanischen Gesellschaft, die Bedrohung mit jungen, schwarzen Männern assoziiert? Klar ist in jedem Fall, Vorurteile stecken in einzelnen Köpfen, aber sie verselbständigen sich in sozialen Prozessen. Das kann man gerade auch in Deutschland beobachten: Die Zahl der Brandanschläge gegen Flüchtlingsunterkünfte hat sich im letzten Jahr mehr als verzwölffacht.
Juliane Degner: "Die Handelnden dort sind nicht alles Rechtsextremisten, das sind teilweise sogenannte besorgte Bürger. Da hat sich also eine Norm verschoben. Umso schwächer die Norm gegen die Äußerung solchen Gedankengutes ist, desto leichter ist auch der Schritt zur Tat dann."
"Wenn die Mehrheit der Bürger klar bei Verstand wäre, würde sie zu Mistgabeln greifen und die volksverräterischen Eliten aus den Parlamenten, Gerichte und Kirchen vertreiben" (Tatjana Festerling)
Vorurteile führen nicht automatisch zu Straftaten, aber sie können eine gefährliche Wirkung entfalten. Ein deprimierender Gedanke, schließlich sind sie ein notwendiger Teil der menschlichen Psyche. Ich habe Andreas Beelmann besucht, weil er versucht, schon im Grundschulalter gegen Vorurteile anzugehen. In 16 Schulstunden hörten die Kinder Geschichten über gemeinsame Abenteuer von Ortsansässigen und Russlanddeutschen, sozusagen eine indirekte Kontakterfahrung. Sie bekamen Informationen über andere Kulturen, um zu zeigen, auf welch unterschiedliche Arten Menschen zusammenleben. Schließlich übten die Kinder, sich in andere hineinzuversetzen, deren Perspektive zu verstehen.
Beelmann: "Das war schon erstaunlich, dass zum Beispiel die soziale Distanz, die wir gemessen haben, der Kinder zu unterschiedlichen ethnischen Gruppen geringer war, als in der sogenannten Kontrollgruppe."
Andreas Beelmann hat auch nach Kontakten zur rechten Szene gefragt: "Also zum Beispiel: Haben sie im Internet schon mal Seiten angeklickt oder so, und auch da ergab sich ein kleiner aber feiner Unterschied zwischen den Kindern, die an unserem Programm teilgenommen haben und den Vergleichskindern."
Das ist ein Anfang. Immerhin. Allerdings zeigen die Daten auch: Wunder bewirkt das Programm nicht. Es verändert eher die Überzeugungen, nicht aber die tieferliegenden Gefühle der Kinder. Das überrascht Martin Korte nicht.
"Es ist sehr, sehr schwierig, Einfluss zu nehmen auf Gehirnstrukturen, die nicht sprachlich funktionieren, wie eben die Amygdala."
Viele Menschen fühlen sich wohl in ihren Vorurteilen, begreifen sie als zentralen Bestandteil ihrer Identität. Ihnen einfach zu erklären, warum sie falsch liegen, führt zu nichts, so Tom Stafford:
"Das bringt sie nur gegen einen auf. Besser ist es, nach ihren Argumenten zu fragen. Zum Beispiel: Wie genau verhindert die Todesstrafe Verbrechen? Dann merken sie selbst, dass es da Lücken gibt, und werden offener. So überzeugt man Leute, indem man ihnen zuhört und sie nicht mit der eigenen Weltsicht erschlägt."
Wer selbst erklären muss, merkt im besten Fall, dass simple Parolen keine echte Lösung für komplizierte Probleme bieten. Das sollte eigentlich offensichtlich sein, doch auch viele Politiker drücken sich in ihren Reden vor schwierigen Antworten, bedauert Martin Korte:
"Ich glaube, dass diese Reduktion der Komplexität einen hohen Preis hat. Denn wenn man das übertreibt, suggeriert man den Menschen auch, dass in der Tat Entscheidungen so einfach sind, und dass Variablen, die betrachtet werden müssen, auch so einfach sind, dass unsere Welt auch nach ganz einfachen Prinzipien und Mechanismen zu regieren ist."
Degner: "Also wenn man erst einmal eine Einsicht hat, dass das eigene Handeln eben von Automatismen getrieben sein kann, die nichts mit den eigenen Überzeugungen zu tun haben, dann ist man in der Lage, Entscheidungen ab und zu mal zu hinterfragen. Das braucht aber Zeit, das braucht Motivation, das braucht kognitive Kapazitäten, die haben wir im Alltag leider sehr selten."
Das Denken dreht in engen Bahnen immer die gleichen Runden. Bei jedem Menschen, nicht nur bei Rassisten oder Dschihadisten oder Impfgegnern. Sondern leider auch bei mir, das habe ich von den Psychologen und Hirnforschern erfahren. Juliane Degner rät mir, die Weichen bewusst neu zu stellen, den Strinlappen gegen die Amygdala in Stellung zu bringen, Vernunft gegen die tief verwurzelten archaischen Ängste. Ich sollte heraus aus meinem Wohlfühlbereich, meiner kleinen Welt, und auch mal einem Pegida-Demonstranten wirklich zuhören. Es geht dabei nicht darum, vorurteilsfrei zu werden, das ist unmöglich, sondern vorurteilsbewusst. Schnelle Lösungen für aufgeheizte politische Debatten kann aber auch die Wissenschaft nicht anbieten. Tom Stafford:
"Überzeugungen sind ein Teil der Geschichte einer Person, sie beeinflussen ihre Wahrnehmung und ihre Überlegungen. Vernünftigerweise sollten wir langfristig kleine Veränderungen erwarten. Argumente führen nicht dazu, dass jemand wie bei einer Offenbarung mit einem Schlag seine Meinung ändert. Das passiert einfach nicht."
"Wir sind das Volk."