Martin Schubert liest aus der deutschen Bibel jenes unbekannten Übersetzers, der die "Heilige Schrift" mit seinen Kommentaren, beispielsweise zum Vaterunser versah. Viel weiß man nicht über jenen Schreiber, der in den 30er Jahren des 14. Jahrhunderts seine Zeilen auf Pergament brachte.
"Wir kennen noch nicht mal seinen Namen und müssen uns immer behelfen mit diesem Kunstnamen: österreichischer Bibelübersetzer", sagt Martin Schubert.
Von den Wissenschaftlern kurz ÖBü genannt. ÖBü – so die Vermutung des Berliner Alt-Germanisten Martin Schubert habe vielleicht im Auftrag eines Abtes gearbeitet. Er selbst war allerdings kein Mönch: "Er sagt, dass er kein zum Predigen bestellter Kleriker ist, also er durfte öffentlich nicht die Bibel auslegen, aber er legt sie in der geschriebenen Form schon aus."
An dem Projekt "Gottes Wort Deutsch" ist auch Jens Haustein beteiligt. Der Mediävist an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena nennt als Motiv des Bibelübersetzers: "Er tut dies ausdrücklich, um bestimmte ketzerische und häretische Tendenzen abzuwehren. Die Laien sollen sich selbst ein Bild machen können von dem, was in der Bibel steht und es nicht vermittelt bekommen, womöglich über falsche Vermittler."
Allerdings dürfe man sich ÖBü, den österreichischen Bibelübersetzer, nicht als einen Mann vorstellen, der eine theologische Revolte im Sinn hatte. Mit der Übersetzung ins Deutsche verstieß er gleichwohl gegen ein Verbot der Kirche. Denn die Bibel sollte den Laien in der Volkssprache verwehrt bleiben.
"Das ist der Alleinvertretungsanspruch der römischen Kirche immer gewesen, dass sie das Bibelwort den Gläubigen vermittelt. Und die Kirche im Mittelalter hat immer Angst davor gehabt, dass es einen selbstständigen Zugang zum Bibelwort gibt", sagt Jens Haustein. Und ÖBü notierte in den Kommentaren zu seiner Bibelübersetzung:
"Es gibt Prediger, die fragen: warum sollen wir überhaupt noch predigen? Wenn jeder die Bibel auf Deutsch lesen kann, dann haben wir ja eigentlich keine Arbeit mehr."
Sprachliche Brillanz
Der Bibelübersetzer trifft einen Zeitgeist. Das 14. gilt als ein Jahrhundert der Laienbibel. Vor Luther entstehen über 70 Übersetzungen von Bibeltexten – die meisten waren allerdings nur Auszüge aus der Bibel oder dienten lediglich dem Lateinunterricht, erläutert der Jenaer Mediävist Jens Haustein:
"Die haben die Funktion, Leuten, die ein wenig Latein können, über die Bibelübersetzung hin zum Lateinischen zu führen. Das heißt, sie ahmen das Lateinische in der deutschen Syntax nach und deswegen sind sie manchmal gar nicht verständlich." Ganz anders der österreichische Bibelübersetzer. Seinen Texten attestieren die Germanisten eine sprachliche Brillanz. Für Jens Haustein ein echter Vorläufer Martin Luthers:
"Mit dieser Absicht, das Bibelwort in verständliches Deutsch zu bringen. Und man muss wirklich sagen: das ist eine elegante Prosa." Allerdings - ein großer Unterschied zu Luther: während der spätere Reformator 'sola scriptura' predigte und allein dem Urtext der Bibel vertraute, war der unbekannte Alpenländer auch schriftstellerisch tätig.
Er passt die Bibel in seinem Sinne an, wenn er etwas als unlogisch oder unwürdig empfindet. So zum Beispiel, dass Jesus nach seiner Auferstehung zuerst der Maria Magdalena erschienen sein soll. Bei ÖBü trifft Jesus zuerst seine Mutter Maria.
Und der Bibelübersetzer erweitert die Texte durch zusätzliche Legenden und apokryphe Bibelstellen, die nicht zum offiziellen Kanon der Kirche gehörten:
"Er erzählt die Kindheitswunder aus der Kindheit Jesu, was da alles passiert sein soll, und er erzählt, was passiert ist nach der Passion und nach der Auferstehung, wo kam der Pontius Pilatus hin, was passierte bis zur Zerstörung Jerusalems. Das wird ausführlich erzählt", sagt Martin Schubert.
Spätmittelalterlicher Bestseller
Das Werk stieß im 14. und 15. Jahrhundert auf reges Interesse. 81 erhaltene Handschriften der Psalmentexte und des harmonisierten Evangeliums zeugen von der großen Verbreitung.
"Das verbreitet sich vor allem in der Klosterwelt, weil die Klöster haben eben Skriptorien und sie haben Kontakte zu Schwesterklöstern. Die schicken dann jemanden dahin: 'Schreib uns doch mal das Buch ab', und der kommt dann drei Monate später mit dem abgeschriebenen Buch wieder."
Das Originalwerk liegt nur fragmentarisch vor. Die Alt-Germanisten versuchen nun, aus den verschiedenen Handschriften das Original herauszufiltern. Die Abschriften umfassen teilweise rund 250 Blatt, also 500 Seiten. Ein Schnellschreiber konnte das in drei Wochen schaffen; für Prachthandschriften brauchte man für zwei Seiten einen Tag. Und beim Abschreiben passierten immer wieder Fehler, so die Wissenschaftler. Zum Beispiel beim so genannten Augensprung:
"Ein Fehler, der passiert, wenn man von Hand abschreibt. Der Schreiber sieht das Wort und denkt: Hach, das habe ich doch gerade geschrieben, und schreibt weiter und merkt nicht, dass es das gleiche Wort war, dass drei Zeilen weiter gestanden hat. Und in der Abschrift sieht man dann auf einmal eine komplette Lücke. Da ist dann ein Satz, der überhaupt nicht mehr zusammenhängt."
Kommata kannte man im Mittelalter noch nicht
Solche Fehler werden beim Edieren der Schrift korrigiert. Auch müssen die Sätze interpunktiert werden, denn Kommata kannte man im Mittelalter noch nicht. Altertümliche Wendungen und manche ausgestorbene Vokabel werden in Anmerkungen erläutert.
Und was unterscheidet den österreichischen Bibelübersetzer von Luther? Der Übersetzer aus den Alpen hat die lateinische Vulgata-Bibel, die im 4. Jahrhundert entstanden ist, als Vorlage genutzt. Keine Konkurrenz zu Martin Luther, meint Martin Schubert. Denn Luther übersetzte das Neue Testament aus dem Hebräischen und dem Griechischen.
"Luther ist nach wie vor ein singuläres Ereignis, das ist wirklich besonders, was er da gemacht hat, dass er die komplette Bibel ins Deutsche übertragen hat nach den Urtexten. Und dieses 'Nach den Urtexten' wird ja manchmal unter den Tisch fallen gelassen. Luther hat hier in einer textkritischen Anstrengung die Interpretation wieder ausgerichtet auf die Urtexte.
Zwölf Jahre hat das fünfköpfige Team angesetzt, bis die Bibelübersetzung von ÖBü in digitalisierter und gedruckter Form mit zahlreichen Kommentaren und Querverweisen vorliegen soll. Für Martin Schubert ist das auf der einen Seite ein Highlight für die Mittelalterforschung:
"Auf der anderen Seite ist es auch ein wichtiger Bestandteil unseres kulturellen Erbes. Wir sehen da, wie die Bibel in die Volkssprache transportiert wird und wie das schon lange vor Luther passiert ist."