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Biografie
Die Geschichte der Familie Wolffsohn

Michael Wolffsohn hat sich nie in den Elfenbeinturm zurückgezogen. Auch als er noch Professor an der Bundeswehr-Universität war, hat er sich eingemischt - auch in Talkshows oder Boulevardzeitungen. Jetzt hat der Historiker mit "Deutschjüdische Glückskinder" eine Familiengeschichte der Wolffsohns geschrieben – erlebte Geschichte.

Von Andreas Main |
    Michael Wolffsohn, Historiker, aufgenommen während der ARD-Talksendung "Anne Will".
    Der Historiker Michael Wolffsohn (picture alliance / Karlheinz Schindler/dpa-Zentralbild/ZB)
    Privat und politisch, unterhaltsam und relevant - das muss sich nicht ausschließen, das kann zusammen gehen. Michael Wolffsohn zeigt, "wie sehr die kleine (Wolffsohn-)Welt, wie jede kleine Welt, mit der großen, weiten verknüpft ist." Zu diesem Zweck versetzt er sich im Buch über seine Familie zum Beispiel in seine Mutter, erzählt zum Teil aus ihrer Perspektive und erinnert so daran, dass deutsche Juden in den beginnenden 1930er Jahren durchaus vom Zeitgeist geprägt waren.
    "Nur nicht verweichlichen. Gelobt sei, was hart macht. Auch ohne Krupp-Stahl und Deutschtümelei: Lange Strümpfe oder Kniestrümpfe? Pah. Lieber ließen wir die Knie abfrieren. Alles andere wäre 'unjüdisch' gewesen. Haha. Beim BDM war's sicher 'undeutsch'. Mein Gott, waren wir alle manipuliert und manipulierbar."
    Geschichtsschreibung der anderen Art
    Dieses Buch "Deutsch-jüdische Glückskinder. Eine Weltgeschichte meiner Familie" ist heiter. Es ist amüsant. Und ein bisschen selbstverliebt. Aber nie so, dass es aufstößt, weil immer mit einer reichlichen Prise Selbstironie gewürzt. Etwa wenn Michael Wolffsohn seinen Großvater Karl Wolffsohn und dessen Lust am Politischen so beschreibt:
    "Bei Karl blieb nichts Politisches, kein Politiker unkommentiert. Ein Wolffsohn ist eben ein Wolffsohn, ein Wolffsohn, ein Wolffsohn. Der doziert und monologisiert."
    Und dieser Wolffsohn verknüpft das Wissen, die Erkenntnisse und Methoden des Historikers mit der Familiengeschichte. Da kramt jemand im Familienarchiv. Aber eben kein Laie, sondern ein Profi. So verschmelzen Subjektives und Objektives zu etwas Einzigartigem. Denn es wird erzählt aus der Sicht von Menschen aus Fleisch und Blut. Das ist ein Stück Geschichtsschreibung der anderen Art. Ein lohnendes Stück.
    Michael Wolffsohn zeigt sich in seinem neuen Buch erneut als der unorthodoxe Querdenker, der er schon immer war. Auch in Deutschlandfunk-Interviews wie diesem:
    Freidenker in Höchstform
    "Die Gedanken sind frei. Und Taktgefühl ist eine individuelle Tugend, die anerzogen werden muss. Und da sind Regeln oder Gesetze, über die wir sprechen, sehr hilfreich. Die haben nämlich eine Funktion, das zivilisierte Miteinander zu sichern."
    Zivilisiertes Miteinander - das bedeutet für Wolffsohn auch offene Türen, vor denen sich so viele fürchten. Denen hält er entgegen:
    "Ich habe durch offene Türen nur gewonnen. Auch unsere offene Gesellschaft könnte noch offener sein, doch wo und wann gab es in der deutschen oder Menschheitsgeschichte so viel Offenheit? Wer sich der Außenwelt verschließt, verkümmert. Offene Türen öffnen auch Kopf und Herz. Solange ich noch gehen kann, werde ich durch offene Türen schreiten."
    In diesem Buch erweist sich Wolffsohn als offener Freidenker in Höchstform. Er sieht das angelegt in seiner Familie, ist dankbar für seine deutsch-jüdischen Wurzeln und erzählt seine Familiengeschichte.
    Deutschjüdische Glückskinder
    Die Geschichte einer Familie, die sich nach oben kämpft. Die ganz klein anfängt. Am Ende sind die Wolffsohns reich. Sie setzen in Zeiten der Weimarer Republik ganz auf das, was kleine Leute brauchen: hellen, billigen Wohnraum plus Unterhaltung. Mit Immobilien und Kinos schaffen die Wolffsohns es am Ende nach ganz oben. Nein, das ist nicht das Ende. Das Ende sind die Nazis, die sie ihres Besitzes berauben. Aber auch die Nazis sind für die Wolffsohns nicht das Ende. Sie überleben auch so genannte Endlösungen. Sie fliehen nach Palästina, das spätere Israel, wo sie nie richtig ankommen.
    Sie kehren nach Berlin zurück, leben zunächst zusammengepfercht zur Untermiete. Der Großvater kämpft darum, sein 'arisiertes' Eigentum zurückzubekommen. Großeltern, Eltern, der kleine Michael und noch einige mehr wohnen in einer Dreizimmerwohnung. Aber auch das ändert sich: Sie schaffen es. Nicht umsonst nennt Wolffsohn sein persönlichstes Buch: "Deutschjüdische Glückskinder".
    Darin wagt er sich auf viele Felder vor: etwa im Kapitel "Liebe(n) als Geschichte" oder "Auf der Suche nach Wissen, Seele und Schönem". Auch die Religion bekommt ein eigenes Kapitel: "Gott und die Wolffsohns - Familientheologie".
    Christlich-jüdische Gemeinsamkeiten
    "Die Abgrenzung zwischen Judentum und Christentum ist sehr viel geringer, wenn man mit offenem Herzen und offenem Verstand aufeinander zugeht, sich wechselseitig verstehen will. Ich sag nicht: 'Piep, piep, piep – wir haben uns alle lieb.' Ich bin auch durchaus bereit, wenn es notwendig ist, Abgrenzungen zu erkennen. Aber die Gemeinsamkeiten sind sehr viel stärker. Das heißt, wir müssen nicht das übliche Bla-bla über christlich-jüdische Gemeinschaftlichkeit formulieren, sondern wir haben tatsächlich einen dramatisch breiten Grundstock der Gemeinsamkeiten, die ethisch sind und theologisch."
    Wolffsohn will unterhalten. Und tatsächlich. Dieses Buch ist unterhaltsam. Ausgesprochen unterhaltsam. Zugleich will es bilden. Und zwar niedrigschwellig. Wolffsohn schreibt klare Sätze. Dieser Intellektuelle hat es nicht nötig, auf intellektuell zu machen. Jedem Satz ist die Lust am Schreiben anzumerken. Da will sich einer mitteilen, seine Erfahrungen und die Erinnerungen seiner Familie mit uns teilen. Ein Geschenk. Ich empfehle, es anzunehmen.
    Ein paar Marotten hätte sich Wolffsohn vielleicht verkneifen können. Lustig-ironische Florett-Sticheleien in Richtung genderneutrale Sprache mögen bei dem einen oder der anderen im Jahr 2017 ankommen. Aber was ist, wenn solche Entwicklungen - oder Moden - überholt sind? Dann wird das stören bei der Lektüre. Zum Beispiel in 50 Jahren. Denn dieses Buch wird noch lange gelesen werden. Auch in Zukunft. Es wird bleiben. Auch in 50 Jahren. Und hoffentlich noch länger. Denn es ist klug. Es strahlt Herzenswärme ab.
    Wolffsohn will versöhnen
    Ob aber jedes Scharmützel mit Bubis, Knobloch, Banken, Verteidigungsministern oder jüdischen Institutionen hätte aufgerollt werden müssen? Das lässt sich bezweifeln. Für den Autor sicherlich wichtig, für den Leser nicht immer. Aber seisdrum. Jene Kapitel tun nicht weh. Und der Gesamteindruck ist ein anderer. Wolffsohn will sich versöhnen, hat sich versöhnt. Selbst mit der eigenen Mischpoke.
    Also bloß nicht aufgeben. Dieses Buch endet mit einem Kapitel, das zutiefst bewegt. Es ist ein Spaziergang, eine Meditation über die Schichten der Geschichte. Ein Sinnieren über den Berliner Stadtteil Grunewald. In einem Caree von etwa ein mal zwei Kilometer verdichtet sich Geschichte. Geschichtet. Alles überlagert sich. Die Schulzeit des kleinen Michael, der alte Bismarck, der gute Fontane und viel Schlimmeres. Es soll nicht zu viel verraten werden. Es sind nur ein paar Seiten. Zwischen Bahnhof Grunewald und Bismarckplatz begegnen sich Familien- und Politikgeschichte.
    "So ist die Wolffsohn'sche Familiengeschichte tatsächlich auch Weltgeschichte. Nicht 'die' Weltgeschichte, aber doch – wenn auch nur ein winziger, kleiner – Teil 'der' Weltgeschichte. Wir haben keine Weltgeschichte gemacht, gestaltet oder geprägt. Vielmehr hat die Geschichte uns geprägt. Wolffsöhne haben, wie Abermillionen Menschen, Geschichte erlebt, erliebt, erlitten. In diesem Buch versuche ich das Wechselspiel von großer Welt, kleiner Welt, Außenwelt und Innenwelt nachvollziehbar zu machen. Diese Geschichte, liebe Leser, hätte auch Ihre Geschichte sein können."
    Dem ist nichts hinzuzufügen.
    Michael Wolffsohn: "Deutschjüdische Glückskinder: Eine Weltgeschichte meiner Familie"
    dtv Verlagsgesellschaft, 432 Seiten, 26 Euro.