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Tempelberg-Unruhen
"Das könnte eskalieren"

Könnte der Streit um den Tempelberg eine dritte Palästinenser-Revolte lostreten? Ja, sagte Bettina Marx von der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah im Dlf. Außer Zeitungen und der Tempelberg-Aufsicht deeskaliere "eigentlich niemand". Die Palästinenser hätten Sorge, Metalldetektoren könnten nur der Anfang sein.

Bettina Marx im Gespräch mit Peter Kapern |
    Palästinensische Demonstranten werfen Steine während eines Zusammenstoßes mit israelischen Sicherheitskräften nahe der Altstadt von Jerusalem.
    Die Stimmung ist auf beiden Seiten aufgeheizt im Streit um Tempelberg-Kontrollen in Jerusalem. Seit vergangener Woche entlädt sie sich immer wieder in Zusammenstößen. (Ahmad GHARABLI / AFP)
    Peter Kapern: Bleiben wir noch ein wenig beim Thema Unruhen in Tel Aviv rund um den Tempelberg. Bei uns am Telefon ist jetzt Bettina Marx, die Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah im Westjordanland. Guten Tag, Frau Marx!
    Bettina Marx: Ja, guten Tag!
    Kapern: Frau Marx, natürlich ist es allen klar, welche immense Bedeutung der Tempelberg für Muslime und Juden hat, aber trotzdem, viele unserer Hörer werden sich fragen, warum das Aufstellen simpler Metalldetektoren an den Zugängen zum Tempelberg zu solchen Protesten führt, zumal Israel damit ja eigentlich auch nur auf die Tatsache reagiert, dass palästinensische Attentäter, die israelische Polizisten getötet hatten, auf den Tempelberg geflüchtet sind. Warum entzündet sich dort immer so die Gewalt?
    Marx: Weil es für die Palästinenser eine Veränderung ist des Status quo. Der Status quo, der wurde 1967 nach der Eroberung Jerusalems verabredet zwischen den Israelis und den Jordaniern, die die Oberherrschaft sozusagen haben über die islamischen heiligen Stätten, die die Wächter sind der islamischen heiligen Stätten. Und dieser Status quo darf nicht verändert werden.
    Die Palästinenser haben große Sorge, dass es beginnt mit Metalldetektoren und dass es endet damit, dass die Gebetszeiten eingeschränkt werden, dass sie nicht mehr jederzeit Zugang haben zum Tempelberg. Das ist ein wirklich sehr, sehr sensibles Thema. Sehr viele Menschen, auch in Israel, haben gewarnt, das könnte explodieren, das könnte zu Unruhen führen. Sogar der israelische Geheimdienst und die israelische Armee haben den Ministerpräsidenten und die Polizei gewarnt, aber der Ministerpräsident schließlich wollte darauf nicht hören, auf diese Warnung, und sagte, nein, die Metalldetektoren müssen bleiben.
    Setzt Abbas die Sicherheitszusammenarbeit mit Israel aus?
    Kapern: Nun hat Mahmud Abbas, der Palästinenserpräsident, einstweilen alle administrativen Kontakte zu Israel ausgesetzt. Ist das mehr als eine macht- und hilflose Geste?
    Marx: Es kommt drauf an. Was man noch nicht so genau weiß, ist, ob er auch die Sicherheitskooperation mit Israel ausgesetzt hätte, denn das ist eigentlich der wichtigste Punkt zwischen den beiden Regierungen. Die beiden Polizeikräfte und Geheimdienste arbeiten zusammen, häufig genug nehmen palästinensische Sicherheitskräfte Palästinenser fest auf Verlangen der Israelis, oder Leute, von denen sie vermuten, dass sie Anschläge in Israel verüben wollen.
    Und wenn diese Sicherheitskooperation beendet werden sollte, die von den Palästinensern sehr stark kritisiert wird, dann hat das wirklich eine neue Qualität, und das wäre eine sehr große Einbuße an Sicherheit für die Israelis. Aber im Moment ist das noch vollkommen unklar, ob das auch damit gemeint ist, ob Abbas tatsächlich so weit geht – bisher hat er das nie getan –, aber ob er diesmal wirklich so weit geht und diese Sicherheitskooperation aussetzt.
    Bei Palästinensern würde es ihm Zuspruch bringen
    Kapern: Was würde das bedeuten, wenn er es täte?
    Marx: Ja, das würde bedeuten, dass im Grunde er sich Zuspruch verschafft auf der palästinensischen Seite, denn die palästinensische Bevölkerung wirft ihrem Präsidenten vor, dass er ein Kollaborateur sei, dass er im Auftrag der Israelis sozusagen die Sicherheitsarbeit leiste, dass also sozusagen der Besetzte für die Sicherheit des Besatzers sorgen muss, dass Palästinenser in Haft genommen werden oder auch an Israel ausgeliefert werden, von denen man vermutet, sie könnten sich auf den Weg machen, um Anschläge in Israel zu verüben.
    Und das ist eine Kooperation mit Israel, die die palästinensische Bevölkerung ihrer Regierung sehr, sehr übel nimmt und sagt, warum seid ihr da, ihr seid doch dafür da, um uns zu schützen und nicht um uns auszuliefern und um uns auszuliefern an die Israelis. Wir fordern von euch im Gegenteil, dass ihr uns gegen israelische Angriffe schützt. Man darf nicht vergessen, dass israelische Sicherheitskräfte sich frei bewegen im besetzten Westjordanland und auch zum Beispiel in Städte wie Ramallah regelmäßig eindringen, um hier Verhaftungen vorzunehmen.
    Krise habe Potenzial zur dritten Intifada
    Kapern: In israelischen Zeitungen wird auch jetzt wieder die Frage diskutiert, ob die aktuelle Tempelberg-Krise das Zeug hat, zu einer dritten Intifada sich auszuwachsen. Wie beurteilen Sie das, welches Potenzial hat die aktuelle Krise?
    Marx: Also diese Krise hat das auf jeden Fall, das könnte tatsächlich eskalieren. Erst sah es ja zunächst eigentlich so aus, als wenn es beim zivilen Widerstand bleibt, bei den öffentlichen Gebeten vor der Altstadt, vor dem Haram al Sharif. Aber dann ist das im Laufe des Tages eskaliert, und die Bilder haben die Runde gemacht in den sozialen Netzwerken, zum Beispiel die Bilder, wie israelische Sicherheitskräfte palästinensische Krankenhäuser gestürmt haben, um dort Verletzte festzunehmen und mitnehmen. Und dann gab es am Abend diesen schrecklichen Anschlag in der Siedlung, wo drei jüdische Siedler wirklich dahingeschlachtet wurden. Also das alles hat schon zu einer erheblichen Eskalation beigetragen, und im Moment ist das Potenzial durchaus gegeben, dass dies in eine dritte Intifada mündet.
    Wer deeskaliert? "Eigentlich überhaupt niemand"
    Kapern: Wer deeskaliert denn in dieser aktuellen Krise auf palästinensischer wie israelischer Seite?
    Marx: Ja, das ist eine gute Frage, eigentlich überhaupt niemand. Die Einzigen, die hier aufrufen zur Deeskalation, sind Journalisten – in den Medien kann man das finden, in den israelischen Medien, aber auch in den palästinensischen Medien –, aber man hat das Gefühl, dass es hier keine Deeskalationsanstrengungen gibt. Von der politischen Richtung der Waqf, das ist die muslimische Stiftung, die zuständig ist für die Regeln auf dem Haram al Sharif, auch bei der Al-Aksa-Moschee, der hat versucht gestern zu deeskalieren [*], zum Beispiel in den Predigten gestern wurde immer wieder gesagt, wir wollen zivilen Widerstand üben, wir wollen nicht zur Gewalt greifen, wir wollen nur beten, dann gehen wir weg. Aber das, wie gesagt, hat nicht funktioniert, aber Bemühungen gibt es immerhin von religiöser Seite, hier zu einer Entspannung beizutragen.
    Kapern: Bettina Marx, die Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah, vielen Dank für die Informationen, vielen Dank für die Expertise, ich wünsche einen guten Tag!
    Marx: Danke, gleichfalls!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    [Anmerkung der Redaktion: Die Interviewpartnerin sagt im Audio "eskalieren", meint aber in diesem Zusammenhang "deeskalieren".]