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Blutgetränkte Regionen

14 Millionen Menschenleben haben NS-Zeit und Zweiter Weltkrieg in Ost-Mittel-Europa gefordert. Das ist das Ergebnis der umfangreichen Recherchen von Timothy Snyder. Das Besondere dabei: Er nimmt nicht eine, sondern zwei Diktaturen in den Blick, die von Hitler und die von Stalin.

Von Niels Beintker |
    Anfangs habe ihm noch die Hand gezittert. Dann aber sei er ruhig geworden, berichtete der Briefschreiber, ein österreichischer Polizist, im Herbst 1941 aus dem weißrussischen Mogilew an seine Frau. Er habe auf die Frauen und Kinder geschossen. Säuglinge seien in die Luft geworfen worden und er und seine Kameraden hätten sie – Zitat – "schon im Fliegen ab[geknallt], bevor sie in die Grube und ins Wasser flogen". Am 2. und 3. Oktober 1941 erschossen die Angehörigen deutscher Sonderkommandos zusammen mit ukrainischen Hilfspolizisten fast 2400 Juden. Zwei Wochen später wurden über 3000 weitere Menschen umgebracht. Mogilew ist einer von Hunderten Orten des Todes, von denen der US-Historiker Timothy Snyder in seiner Studie "Bloodlands" erzählt. Der Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion ging einher mit vielen Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung.

    "Mehr als 24.000 Juden kamen dabei ums Leben. Das aber war nur der Anfang. Eine klare Strategie entstand im Herbst 1941, als deutsche Truppen zusammen mit lokalen Hilfsschergen organisierte Erschießungskampagnen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion durchführen. Bis Ende 1941 sind dabei über eine Million Menschen ermordet worden. Und dann wurde diese Vernichtungspolitik in das okkupierte Polen übertragen. Zu einem Zeitpunkt, als die ersten Gaskammern gebaut worden waren."

    Die Entfesselung der Gewalt in diesem Teil Europas begann nicht erst mit dem Einmarsch der Deutschen im Juni 1941. Sie stieg, wie Timothy Snyder in seinem Buch argumentiert, jedoch auf eine neue, noch grausamere Dimension. Dennoch: Sie gehörte längst zur alltäglichen Erfahrung der Menschen in dem großen Territorium zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. Snyder beginnt seine Geschichte der Massenmorde unter Stalin und Hitler mit der Hungerkatastrophe in der Ukraine. Sie war Resultat der grausamen Kollektivierung und forderte 1933 mehr als drei Millionen Menschenleben. Ihr folgte der Große Terror, eine riesige innerparteiliche und gleichzeitig nationalistische Mordaktion, bürokratisch verwaltet und durchgeführt. Nach der Teilung Polens zwischen Stalin und Hitler wütete die sowjetische Geheimpolizei in den besetzten Landesteilen, getrieben vom Wahn, die gesamte polnische Elite zu vernichten. Katyn – der Ort unweit vom russischen Smolensk, wo sich das Massaker an mehreren tausend polnischen Offizieren durch sowjetische Soldaten im vergangenen Jahr zum 70. Mal jährte - ist nur einer von vielen Orten des Stalinistischen Terrors in den "Bloodlands".

    "1940 verhaftete der NKWD mehr Menschen im besetzten Osten Polens als im Rest der Sowjetunion. Etwa 400.000 Polen wurden gefangen genommen und deportiert. Zehntausende wurden erschossen. Das war eine entsetzlich gewaltvolle Okkupation. Dann kamen die Deutschen und nutzten diese Notlage aus. Sie erklärten den Menschen, dass die Juden für das Leid verantwortlich gewesen seien."

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    In der Gesamtperspektive, so Timothy Snyders These, waren die Todeszahlen dort am größten, wo beide Diktaturen gewütet haben. Am Beispiel von Dokumenten vor allem aus ukrainischen und polnischen Archiven zeigt der Professor von der Yale-Universität die schrittweise Entfesselung der massenhaften Gewalt in den Jahren zwischen 1933 und 1945. Im Zentrum steht die Ermordung der europäischen Juden. Snyder bewertet den Holocaust als singuläres Ereignis, will ihn aber einordnen in eine Geschichte der Massenmorde in der Mitte des 20. Jahrhunderts in Europa. Die politischen, strukturellen und administrativen Grundlagen der Gewaltexzesse werden zum Gegenstand des Vergleichs beider Diktaturen, nicht die allgemeinen Herrschaftsmechanismen von Stalinismus und Nationalsozialismus. Wie Snyder betont, geht es ihm um das Zusammenwirken der beiden totalitären Systeme und ihre Folgen.

    "1939 haben die Deutschen und die Sowjets gemeinsam Polen zerstört. Und dann die baltischen Staaten. Wer sich mit dem Holocaust beschäftigt, muss sich fragen, warum im September 1939 so viele Juden unter deutsche Besatzung kamen – wo doch bis dahin ein Viertelprozent der deutschen Staatsbürger Juden waren. Plötzlich, nach dem Überfall auf Polen, hatten die Deutschen über das Schicksal von zwei Millionen Juden zu bestimmen. Von da an radikalisierte sich das Nachdenken über die Endlösung immer mehr."

    Immer wieder erzählt Timothy Snyder die Geschichte der Bloodlands am Beispiel individueller Schicksale. Er lässt Verfolgte zu Wort kommen, zitiert aus Zeugnissen von Menschen, die unter einer der beiden Diktaturen zu Tode gekommen sind. Zu den Stimmen gehört die des polnischen Offiziers Josef Czapski, einer der wenigen Überlebenden des Massakers von Katyn. Ebenso die einer unbekannten Frau aus dem ukrainischen Kowel. Kurz vor ihrer Erschießung ritzte sie eine Nachricht für die Mutter in die Mauer der Synagoge: "Es tut uns so leid, dass du nicht bei uns bist. Ich kann mir das nie verzeihen."

    "Die wichtigste Kategorie ist Interaktion. Und das ich mich damit beschäftigte, das hat nichts mit mir zu tun. Das kommt aus den wichtigsten historischen Dokumenten, den Erinnerungen und Aufzeichnungen der Menschen, die überlebt haben und die ermordet worden sind. Wir sprechen hier über 100 Millionen Menschen, deren Heimat durch beide Systeme, durch den Nationalsozialismus und den Stalinismus berührt wurde. Deshalb mussten sie vergleichen und sich ein Urteil über beide Diktaturen bilden. Mein Buch handelt von diesen Menschen."

    Timothy Snyder präsentiert viele individuelle Zeugnisse, die überhaupt erst durch die schrittweise Öffnung der Archive in Ost- und Mitteleuropa in den vergangenen Jahren zugänglich wurden. Die damit verbundene emotionale Wucht der Darstellung steht allerdings an manchen Stellen einer exakteren Analyse im Wege. So erklärt Timothy Snyder etwa die Gewalt der Wehrmacht beim Krieg gegen Polen allein mit Indoktrination und Propaganda – und nicht in ihrer Komplexität aus Mordbereitschaft, Herrenrassenwahn und vorauseilendem Gehorsam. Auch die moralische Schlussbetrachtung, die individuellen Lebensgeschichten der Opfer dürften nicht länger in der Abstraktion von Zahlen untergehen, ist allzu pauschal – und zu oft schon geschrieben worden. Dennoch eröffnet Timothy Snyder mit "Bloodlands" eine wichtige Diskussion und auch ein großes Forschungsfeld. Denn die Gründe für die Entfesselung der Gewalt unter Hitler und Stalin sind längst noch nicht hinreichend erklärt.

    Timothy Snyder: "Bloodlands". Europa zwischen Hitler und Stalin, C. H. Beck, 523 Seiten, 29,95 Euro, ISBN: 978-3-406-62184-0