Dirk-Oliver Heckmann: Wie steht es um die Kontinuitäten zwischen Drittem Reich und Bundesministerien? Der damalige Außenminister Joschka Fischer nahm damals seinen konkreten Fall zum Anlass, eine Untersuchung über das Auswärtige Amt in Auftrag zu geben. Mittlerweile sind viele andere Ministerien nachgezogen. Auch beim Bundesnachrichtendienst BND sind Forscher dabei, die Kontinuitäten zu durchleuchten.
Auf einem öffentlichen Kolloquium in Berlin werden heute erste Ergebnisse vorgestellt. Sprecher der unabhängigen Historikerkommission ist Professor Klaus-Dietmar Henke von der TU Dresden. Meine erste Frage an ihn lautete: Einen Geheimdienst bei lebendigem Leibe sozusagen unter die Lupe zu nehmen, geht das überhaupt? Hatten Sie Zugang zu allen Akten, oder waren Sie Restriktionen ausgesetzt?
Klaus-Dietmar Henke: Die Kommission ist ja 2011 eingesetzt worden, und wir haben uns von vornherein ausbedungen, dass wir Zugang zu ausnahmslos allen Akten haben. Das ist uns garantiert, das hat am Anfang ein bisschen geknirscht, aber inzwischen haben wir doch das ziemlich sichere Gefühl, dass der BND selbst nun daran interessiert ist, seine Geschichte aufzuarbeiten. Also das funktioniert ganz gut.
Heckmann: … das ziemlich sichere Gefühl. Auf der Internetseite des BND – ich habe mal nachgeschaut -, da steht: "Grenzen erfährt der Umgang mit Informationen dort, wo Bestimmungen des Archivgesetzes, des Persönlichkeitsrechts oder des Geheimschutzes diesen beschränken." Das hört sich ein bisschen danach an, als ob Sie die interessanten Akten nicht sehen durften?
"BND will seine Geschichte aufarbeiten"
Henke: Da muss man genau unterscheiden. Wir dürfen alles sehen, aber bevor wir zur Veröffentlichung kommen, gibt es eine rote Linie und dann wird das Manuskript gemeinsam – das ist auch vereinbart – beraten. Wir bestehen aber darauf, dass wir alle mit Klarnamen nennen werden, wenn es für die Erläuterung eines Sachverhalts notwendig ist.
Nun haben wir aber auch Fälle, die zum Beispiel etwas heikel sind. Nehmen Sie mal den Fall: wir haben einen Gewährsmann des BND in Syrien, und die Kinder leben heute noch. Da werden wir sicherlich drauf verzichten. Dann gibt es Fälle, wo die CIA heute noch sagen würde, diese Operation wollen wir aber nicht freigeben, und daran hält sich der BND. Aber Sie können ganz sicher sein, dass wir das Maximum, was möglich ist, hier rausholen werden. Wir haben auch eine Schiedskommission, eine hochrangig besetzte, für solche Fälle vorgesehen.
Heckmann: Kommen wir mal zum Inhalt. Die spannende Frage, die im Zentrum ja steht, ist: Wie stark waren die Kontinuitäten zwischen Nazizeit und der Bundesrepublik, was den BND und seine Vorläuferorganisation, nämlich die Organisation Gehlen, angeht?
Henke: In den letzten Jahren sind ja immer mehr Fälle bekannt geworden, dass der BND mit NS-Verbrechern durchaus auch zusammengearbeitet hat. Hier muss man allerdings unterscheiden: sind es V-Leute wie Klaus Barbie, oder sind es Hauptamtliche. Dass ein Dienst mit Schwerbelasteten zusammenarbeitet, ist völlig normal, auch wenn einem das nicht gefällt. Aber die Frage ist: die Hauptamtlichen.
"BND arbeitete mit NS-Verbrechern zusammen"
Und wir haben jetzt festgestellt, dass doch einige Hundert belastete Leute aus der NS-Zeit beim SD, SS oder Gestapo durch eine unverantwortlich leichtsinnige Personalpolitik von Reinhard Gehlen einströmen konnten. Das war ganz gefährlich, weil diese Leute natürlich erpressbar waren durch den KGB, und das hat ja nun auch bestens funktioniert.
Heckmann: Was war denn der Grund dafür, dass man diese Leute reingelassen hat?
Henke: Das war ein Schneeballsystem. Man darf sich den Dienst ja nicht kompakt vorstellen; es gibt ungefähr 12 oder 20 Außenstellen. Und derjenige, der das Vertrauen hatte, durfte ganz alleine arbeiten. Aber was wir auch rausgefunden haben: Die haben zwar den Weg leicht in den BND gefunden, aber eben nicht so leicht an die Spitze. Die waren meistens im Mittelfeld der Hauptamtlichen. Nur ein oder zwei kommen sehr weit nach oben. Warum? Weil oben sitzen die Generalstabsoffiziere. Der BND ist also nicht nazistisch geprägt gewesen, wie man manchmal lesen kann.
Heckmann: Sie sprechen von leichtsinniger Personalpolitik. Kann es aber nicht auch sein, dass der Wille dazu gar nicht da war, diese ehemaligen Nazis draußen zu halten, dass es da Seilschaften gab, dass sich die Nazis, die ehemaligen Nazis gegenseitig protegierten?
Unverantwortlich leichtsinnige Personalpolitik von BND-Präsident Gehlen
Henke: Ja genau das ist der Fall. Gehlen hat sich aber darum nicht besonders gekümmert. Durch sein Schotten-Prinzip, dass alles ganz scharf voneinander abgetrennt sein muss, konnten im Grunde die Herzöge, sage ich mal, in den einzelnen Außenstellen tun und lassen was sie wollten – völlig unverantwortlich. 1949 noch weiß Gehlen gar nicht, wer bei ihnen arbeitet, und deswegen hat er den Dienst von vornherein selber geschwächt.
Es kommt noch etwas Zweites hinzu. Es gibt so eine Art von Kriegskameraderie. Man hat jetzt gemeinsam gegen die halbe Welt gekämpft, seine Pflicht erfüllt, wie das hieß, und aus irgendwelchen Gründen hat man den Krieg jetzt leider verloren. Jetzt sind die Besatzungsmächte da, man hält zusammen, man zieht sich rein, man zieht sich nach, und auf diese Weise füllt sich dann der BND.
1949 haben wir ungefähr 8 bis 900 Hauptamtliche. Und der einzige Makel, den Sie haben mussten, damit Sie auf keinen Fall reinkamen, war, wenn Sie im Widerstand gewesen sind, oder wenn Sie Immigrant waren. Aber ansonsten wurden Sie nicht ausgegrenzt, es sei denn, Sie haben nun wirklich was ganz Schweres verbrochen, Frauen und Kinder erschossen, oder Sie waren ein Denunziant. Aber ansonsten, wenn Sie "nur" Chef einer SD-Behörde oder so waren, das war kein Hinderungsgrund damals.
Heckmann: Und da haben diese Leute eine neue Heimstatt, nämlich im BND bekommen.
Henke: Ja!
Heckmann: Die Personalpolitik von Reinhard Gehlen haben wir jetzt schon angesprochen, dem ersten Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes. Er hat noch andere fragwürdige Aktionen verfolgt, kann man wohl sagen, denn er hat Dossiers über bundesdeutsche Politiker angelegt. Das ist nicht ganz neu, das war schon bekannt. Aber Fakt ist: Er hatte die Mittel, um potenziell Politiker zu erpressen. Wurde das auch genutzt?
Henke: Diese Dossiers waren 1974 im Guillaume-Ausschuss schon ein großes Thema, eine Riesenaufregung in der Öffentlichkeit. Wir können zum ersten Mal zeigen, dass es sehr viel mehr Dossiers waren, als bisher bekannt. Wir können auch zeigen, was da drin ist. Aber sie sind nicht so brisant, wie man sie sich vorstellt. Zum Beispiel Dinge aus dem Intimbereich – das war ja immer so ein großes Thema – sind wohl weniger stark enthalten, und ob sie tatsächlich benutzt worden sind, um jemand zu erpressen, das glauben wir weniger, zumal in diesen Dossiers ja auch ganz unbescholtene Leute drin sind wie Herr Globke zum Beispiel.
Heckmann: Hans Globke, das war der Chef des Kanzleramts unter Adenauer.
Henke: Ja. – Also es ist so eine, Ehmke nannte das mal "eine dolle Sammlung", aber die Funktion ist vielleicht nicht so dramatisch, wie wir bisher angenommen haben.
Heckmann: Was stand denn drin in diesen Dossiers und wer wurde da beobachtet?
Henke: Ganz unterschiedliche Politiker, quer durch die Reihen der Parteien, Leute des öffentlichen Lebens, die aber nicht konspirativ beobachtet worden sind und meistens auch nicht gezielt, sondern in diesem Riesenwust der Informationen, die einfließen, sind halt immer wieder einige abgezweigt worden, und so sind diese über 200 Personenakten entstanden, die Gehlen persönlich verwaltet hat, die konnte niemand sehen.
Verdacht: Bundesregierung hat BND missbraucht
Heckmann: Natürlich stellt sich da die Frage: Hat das der BND, hat das Reinhard Gehlen von sich aus gemacht, oder hatte er den Auftrag Adenauers dazu?
Henke: Der Verdacht, dass der BND missbraucht wird von der Bundesregierung, der lag die ganze Ära Adenauer über dem BND. Aber man konnte es eben nie nachweisen. Und wir sehen jetzt doch, dass die, ich nenne es mal, innenpolitische Präsenz des BND ungleich viel massiver gewesen ist, als die Zeitgenossen damals schon geahnt hatten. Wir haben einige Hundert V-Leute und sogenannte Sonderverbindungen, die praktisch in allen wichtigen Bereichen von Politik und Gesellschaft sitzen und von dort auch berichten.
Aber es ist nun so, dass die Informationen von dort alle an Gehlen direkt fließen, und die meisten Mitarbeiter des BND wussten gar nichts davon. Da aber sich diese Informationen beim Chef gesammelt haben, wurde er für Globke namentlich – mit dem hatte er im Grunde eine Symbiose gehabt – zu einem sehr interessanten Gesprächspartner, und er war sehr oft auch bei Adenauer selbst.
Und wichtig ist nun zu sehen: Der Dienst ist hier, wie manche andere Dienste vielleicht, nicht aus dem Ruder gelaufen, sondern der Präsident hat ganz bewusst diesen Kurs selber gesteuert, und er hat dies – das ist ziemlich zweifelsfrei inzwischen; das muss allerdings noch sehr genau natürlich dargelegt werden mit allen Dokumenten -, er hat das nicht eigenmächtig getan, sondern durchaus im Interesse des Bundeskanzlers, der ja selber von sich gesagt hat, er sei ja nun ein wirklicher Machtpolitiker, ein ganz großer. Er hat ja selber gesagt, in solchen Dingen bin ich nicht pingelig, und da war er nicht pingelig.
Heckmann: Im Interesse des Bundeskanzlers, auch im Auftrag des Bundeskanzlers aus Ihrer Sicht?
Henke: Ja, das ist doch ziemlich klar. Das meiste wird ja nicht zu Papier gebracht. Aber wir haben einige Aktenvermerke, aus denen ganz klar hervorgeht, wie Adenauer Gehlen sagt, machen Sie das und jenes. Das ist so. Das wird diesem großen Mann vielleicht keinen Abbruch tun, aber dieses nicht pingelig sein, das weitet sich jetzt vielleicht noch ein kleines bisschen aus.
Heckmann: Wie traditionsfähig kann ein Laden wie die Organisation Gehlen für den Bundesnachrichtendienst sein?
Henke: Der BND Gehlens, also der Bundesnachrichtendienst der ersten beiden Dekaden, das war ein Dienst, der für den heutigen Dienst nicht traditionsfähig ist, weil das Verhalten eines Dienstes, der sich so stark in der Innenpolitik breitmacht, der einem Bundeskanzler zuarbeitet, nicht die regulären Auslandsinformationen, sondern auch innenpolitische Informationen, der Journalisten dazu bringt, den Dienst schön zu schreiben, zu stilisieren und hinter den Kulissen aber doch ziemlich ineffizient zu sein, so einen Dienst wollen wir doch nicht, oder?
BND schwer zu kontrollieren - Auflösung trotzdem keine Alternative
Heckmann: Jetzt könnte man daraufhin natürlich die Forderung erheben, den Bundesnachrichtendienst aufzulösen. Es gibt ja dementsprechende Forderungen auch im politischen Raum. So weit muss man vielleicht nicht unbedingt gehen. Aber vor dem Hintergrund der NSA-Affäre, da wird ja auch aktuell wieder die Frage diskutiert, kann ein Geheimdienst überhaupt wirksam kontrolliert werden durch das Parlament. Was ist Ihre Antwort vor dem Hintergrund Ihrer Erkenntnisse?
Henke: Nun, ich kann natürlich nur für die Historie sprechen, nicht für das Aktuelle. Aber es ist aus den Akten ganz klar zu ersehen, dass mit herkömmlichen Mitteln ein Dienst unmöglich kontrolliert werden kann. Deswegen – bitte, das müssen ganz andere unterscheiden, aber ich kann mir vorstellen, dass ein Kontrollbeauftragter in der Spitze des Dienstes, der nicht dem Kanzleramt verantwortlich ist, sondern dem Parlament, dass das die einzige Möglichkeit ist, so einen Dienst tatsächlich ernsthaft zu kontrollieren. Auflösung, dieses Stichwort, das ist bestimmt ganz falsch, weil der BND ja durchaus auch sehr nützliche Seiten hat. Auch das kann man übrigens sehen, wenn man sich mit der Geschichte befasst.
Heckmann: Die unabhängige Historikerkommission für die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes legt heute erste Ergebnisse ihrer Forschungen vor – wir haben gesprochen mit dem Sprecher der Kommission, mit Professor Klaus-Dietmar henke von der TU Dresden. Herr Henke, danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch!
Henke: Danke, Herr Heckmann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.