"Na ihr Zwei, machen wir einen drauf?" - "Jaaah." - "Egal , halb so wild." - Können wir nicht mit Bande spielen?" - " Du brauchst keine Bande. Im Leben geht auch mal was daneben." - "Wir haben einen neuen Schüler in unserer Klasse." - "Hi Alter willkommen in der Scheiße."- "Mom." - "Hast Du was getrunken?" - " Bisschen." - Ahh, O.K."
Stationen eines Lebens als Junge, so wie sie sich in Richard Linklaters Film "Boyhood" niederschlagen. Es handelt sich nicht etwa um eine Langzeitdokumentation. Diese Kindheit ist erfunden: die Wochenenden beim freakigen Vater, die ersten Schultage, schließlich die erste Liebe und der erste Vollrausch an der Schwelle zum Erwachsenenleben. Als Regisseur Linklater 2002 den sechsjährigen Ellar Coltrane traf, fasste er den Plan, mit ihm in den nächsten zwölf Jahren immer wieder Szenen eines Lebens zu drehen. Er umgab ihn mit professionellen Schauspielern, die bereit waren, an diesem Experiment mitzuwirken - mit Patricia Arquette als oft überforderte alleinerziehende Mutter und mit Ethan Hawke als fernem Wochenendpapa.
Und er stellte ihm eine ältere Schwester zur Seite, seine eigene Tochter Lorelei Linklater, die mit damals acht Jahren zu einer festen Figur im Film wurde. Ähnlich wie bei seiner Before-Trilogie - drei Filmen mit Ethan Hawke und Julie Delpy, die im Abstand von jeweils neun Jahren entstanden - machte Linklater sich das reale Altern seiner Schauspieler zunutze, um das Vergehen der Zeit für seine Geschichten sichtbar zu machen. In "Before Sunrise" lernt sich ein junges Paar auf einer langen Zugfahrt kennen. Der Ansatz von "Boyhood" ist noch wesentlich radikaler. Zwölf Jahre lang entwickelte Linklater mit seinem Team immer neue Szenen aus dem Leben dieser ausgedachten Kindheit und setzte sie dann filmisch um, obwohl anfangs nicht klar war, dass alle Beteiligten so lange durchhalten würden.
"Ich hatte die ganze Architektur des Films in meinem Kopf. Aber dann hatten wir diese Zeit, in der wir mit dem Film schwanger gingen. Manchmal waren es neun Monate, manchmal 18 Monate. Auch drehten wir nicht jedes Jahr. Es ging um den Ton. Wie entwickelt sich das Leben oder wie erinnert man sich an sein Leben, wie nagt die Zeit an unserem Leben? Das haben wir einzufangen versucht in einer nicht besonders dramatischen Weise."
Wir sehen Mason Junior - so der Rollenname des Jungen - buchstäblich vor der Kamera aufwachsen. Insofern hat der vollkommen fiktive Film auch einen dokumentarischen Aspekt. Weil Linklater nicht einfach Jahreschroniken dreht, ist ihm mit diesem Film über diese zwölf Jahre auch eine kleine Kulturgeschichte der Jugend - zumindest in Amerika - gelungen. Moden der Popkultur und minimale Veränderungen im Alltag spiegeln die Zeitgeschichte. Die Mutter des Jungen und damit auch ihre Kinder kämpfen sich durch diverse Beziehungsstadien und Verwerfungen und aus dem getrennt lebenden Vater wird mit der Zeit ein ernst zu nehmender Gesprächspartner. Kino oder das wahre Leben? Lorelei Linklater bekannte auf der Pressekonferenz der Berlinale, wo der Film uraufgeführt wurde, dass diese enge Verbindung von Illusion und Wirklichkeit auch etwas Schmerzhaftes an sich hatte. Wie alle anderen Beteiligten hatte sie keinerlei Zwischenstadien zu Gesicht bekommen - erst den fertigen 164 Minuten langen Film.
"Es war wirklich merkwürdig und manchmal auch schmerzhaft, durch diese ganzen verrückten Stationen eines Lebens zu gehen. Es war hart und manchmal musste ich weinen."
Linklater ist mit seiner besonderen auf viel Improvisation angewiesenen Versuchsanordnung ein außergewöhnlicher, dabei leicht und lässig unterhaltsam inszenierter Film gelungen, mit dessen Hilfe man sich den wichtigsten Fragen des Lebens stellen und in den man sogar mit seinen Kindern jeglichen Alters gehen kann. Am Ende steht Mason Junior vor dem großen Einschnitt in einem amerikanischen Leben - dem Wechsel aufs College.
"Wer willst Du sein, Mason? Was willst Du machen?"