"Sehr geehrter Herr Abgeordneter, für den Deutschlandfunk arbeite ich an einer Reportage-Serie über die Auseinandersetzungen zwischen Brüssel und Budapest. Mich würde sehr die ungarische Position beziehungsweise die eines Fidesz-Abgeordneten im Europaparlament interessieren. Ich bin für zwei Tage in Brüssel, es würde mich freuen, wenn Sie Zeit für ein etwa halbstündiges Radiointerview hätten. Mit freundlichen Grüßen Stephan Ozsváth"
Vier von zwölf Fidesz-Abgeordneten haben eine solche E-Mail bekommen: József Szájer, Autor der umstrittenen ungarischen Verfassung von 2012. Tamás Deutsch, Fidesz-Gründungsmitglied. Kinga Gál, Siebenbürger Ungarin. Und György Schöpflin, emeritierter Politologe.
Von den Fidesz-Abgeordneten will keiner reden
Deutsch und Szájer antworten gar nicht. Kinga Gál entschuldigt sich wegen Terminproblemen. Schöpflin antwortet.
"Sehr geehrter Herr Ozsváth, meine Antwort erklärt sich aus dem Anhang. Unter anderem auch, warum ein Treffen mit einem links-engagierten Journalisten überflüssig ist."
"Identikit" heißt das dreiseitige Word-Dokument, das Schöpflin als Anhang zur E-Mail mitgeschickt hat. Es sei eine Art Kurzanleitung für Journalisten, um Ungarn zu verleumden, schreibt er. Ein sarkastischer Kommentar zur häufigen Kritik westlicher Medien an ungarischer Regierungsarbeit.
Die Zutaten laut Schöpflin: wenig Recherche, viel Copy-Paste, eine Prise Nationalismus-Vorwurf, ein bisschen Orbán-Bashing. Ansonsten müsse man nur Linke zitieren, sich über das Wahlsystem beklagen, über den autoritären Kurs in Ungarn und man solle bitte keinen Regierungs-Politiker zitieren, sondern nur einen Sprecher. Damit sei den formalen Kriterien einer Journalistenschule genüge getan. Über die positiven Dinge werde geschwiegen: die Arbeitsplätze, das Wachstum.
Die Botschaft ist klar. Von den Fidesz-Leuten will keiner reden. Aber vielleicht einer der Kollegen aus der konservativen EVP-Fraktion, der größten im Europaparlament.
"Sie gehen allen auf den Wecker"
Im Vorzimmer von Frank Engel wird Französisch gesprochen. Das Büro des Luxemburger EVP-Abgeordneten ist klein. Ein Schreibtisch, ein Computer, ein Sofa. Auch innerhalb der Fraktion sei Dialog nicht gerade die Stärke der Abgeordneten aus Ungarn, erzählt er.
"Ich habe den Eindruck, dass die Fidesz-Kollegen innerhalb der Europäischen Volkspartei auch nicht daran interessiert sind, sehr viel Kontakt mit nicht-ungarischen Abgeordneten zu haben. Und auch nur mit den rechtgläubigen ungarischen Kollegen und das schließt Nicht-Fidesz-Menschen ziemlich aus. Das ist ein Verein, der ziemlich auf sich selbst zurückgestutzt ist. Und das hat natürlich auch damit zu tun, dass man sich umzingelt weiß. Die haben schon gemerkt, dass sie eigentlich keiner leiden kann und dass sie eigentlich allen auf den Wecker gehen."
Frank Engel kann sich in Rage reden, auch der EVP-Berichterstatter für Ungarn hat sich schon heftige Wortgefechte mit Regierungschef Orbán geliefert. Auf die Frage nach dem Dauerkonflikt Budapest - Brüssel gibt er eine überraschende Antwort:
"Er ist mir nicht tief genug."
Die Europäische Union hätte viel früher so gegenüber Ungarn auftreten müssen wie jetzt gegenüber Polen – mit einem Rechtsstaatsverfahren.
"Es gibt in Ungarn seit der Machtübernahme – um es mal so zu sagen – von Fidesz 2010 ja eigentlich einen gesamtstaatlichen Umsturz. Und das geht einher mit für mich völlig inakzeptablen Rechtsstaatsverletzungen, die wir aber von Brüssel aus nur als Vertragsverletzungen individueller Punkte zu ahnden versucht haben. Das ist uns auch immer wieder gelungen, wenn die Menschen in Budapest, die dort regieren, einsehen, dass wenn sie etwas nicht besonders hoch gewinnen können, dann ziehen sie es eben einfach zurück – und so funktioniert das jetzt schon seit acht Jahren. Und wir haben eigentlich weiter so getan, als sei das ein ganz normaler Mitgliedstaat. Nach meinem Dafürhalten ist das kein normaler Mitgliedstaat mehr, sondern ein Staat, dessen demokratische Substanz sich längst in Luft aufgelöst hat."
Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, Persönlichkeitsrechte
Bei den zahlreichen Vertragsverletzungsverfahren streiten Brüssel und Budapest um Grundwerte: Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, Persönlichkeitsrechte, Freiheit der Lehre, die Zivilgesellschaft. Im Kern geht es bei dem Konflikt auch darum, dass Orbán nicht so regieren kann, wie er möchte, weil Brüssel ihm Grenzen aufzeigt.
"Wenn ich einen Regierungschef in Ungarn habe, der nun wirklich jeden Tag – und auch außerhalb von Wahlkampagnen - mit dem Jauchefass über Brüssel fährt, dann muss ich doch irgendwann sagen: Viktor, wenn Du ein Problem hast, dann steht es Dir frei den Club zu verlassen."
Meint der streitbare Luxemburger. Der Konflikt Brüssel vs. Budapest spaltet mittlerweile auch die EVP, im letzten Jahr drohten die Ungarn aus der Fraktion ausgeschlossen zu werden.
"Für mich ist selbstverständlich, dass das Gefasel von Orbán längst jeden Rahmen gesprengt hat, den die EVP tolerieren kann."
Kein europäischer Weg mehr?
Doch das sehen längst nicht alle so wie Frank Engel.
"Da wird nichts daraus, weil Parteien wie die CSU schützend ihre Hand über den Orbán-Clan und seine Partei halten. Wieso die CSU das macht, leuchtet mir nicht ein."
Besonders deutlich wurde die Zerreißprobe in der EVP-Fraktion im Frühsommer vergangenen Jahres: Im Mai entschied das Europaparlament, ein Artikel-7-Verfahren auf den Weg zu bringen. Das Fass zum Überlaufen hatte das Vorgehen der Regierung in Budapest gegen die private Central European University gebracht und gegen die Nichtregierungsorganisationen. Auch EVP-Abgeordnete wie Frank Engel unterstützten den Antrag von Linken, Grünen und Liberalen. 393 gegenüber 221 Abgeordneten sahen eine "erhebliche Verschlechterung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechten" in Ungarn. Frank Engel bleibt dabei:
"Der Typ hat einen Weg eingeschlagen, der kein europäischer mehr ist."