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Habermas-Biografie
Lesenswert, aber unkritisch

Jürgen Habermas ist wohl einer der bedeutendsten Denker unserer Tage. Die Biografie von Stefan Müller-Doohm hält sich an die Chronologie der Ereignisse, ergänzt die Umstände, kommentiert aber nirgends. Kritisch wird man dieses Buch zwar nicht nennen dürfen, es ist aber ein lesenswertes Werk über den Lauf des deutschen Geisteslebens in den letzten 65 Jahren.

Von Walter van Rossum |
    Der Philosoph Jürgen Habermas
    Der Philosoph Jürgen Habermas (dpa / picture alliance / Simela Pantzartzi)
    Dies ist ein hochinteressantes Buch. Doch es ist mit Sicherheit keine Biografie - wenn Biografie denn heißt: von den intimen Motiven eines Lebensweges zu erzählen. Jürgen Habermas wurde 1929 in Düsseldorf geboren. Er kam mit einer Gaumenspalte - im Volksmund: Hasenscharte - auf die Welt. Habermas hat kaum einen Hehl daraus gemacht, dass dies ein prägender Umstand seines Lebens gewesen sei. Doch prägend in welchem Sinne? War es ein Stigma für das Kind? Begründete die angeborene Wunde ein schwieriges Verhältnis zur Umwelt. Oder wurde der kleine Jürgen deswegen von seinen Eltern besonders behütet? Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert hat erst im Alter von fünf Jahren begonnen zu sprechen. Wenn man Flauberts Verhältnis zur Sprache verstehen will, wird man nicht umhinkönnen, seine frühkindliche Sprachstörung in ein Verhältnis zum Romancier zu setzen. Müsste man nicht auch Jürgen Habermas - den bedeutenden Theoretiker der kommunikativen Verständigung - im Lichte seiner angeborenen artikulatorischen Störung sehen, wenn man sein Leben verstehen will?
    "Das für Habermas‘ Wirken typische Zusammenspiel von philosophischer Reflexion und intellektueller Intervention strukturiert diese Biographie, die fast durchweg auf eine rein individualbiographische Perspektive verzichtet und sich mit Spekulationen, was Habermas bei dieser oder jener Gelegenheit wohl 'gedacht' oder 'gefühlt' haben mag, zurückhält. "
    So ist das mit Biographien, deren Helden noch leben, deren Lebenswelt noch existiert. Sie handeln nicht von den Gründen und Abgründen eines Individuums, sie handeln von einer öffentlichen Person. "Einen Toten betritt man wie eine Mühle" hatte Jean-Paul Sartre eingangs seiner Flaubert-Biographie geschrieben. Einen Lebenden betritt man nicht. Man umkreist ihn. Man blättert behutsam in alten Alben, zugänglichen Dokumenten.
    Da entdecken wir die Eltern von Jürgen Habermas, der in Gummersbach im Oberbergischen aufwächst. Der Vater, ein promovierter Volkswirt, hatte es zum Leiter der Industrie- und Handelskammer von Gummersbach geschafft. Er schien ein ganz umgänglicher Mann gewesen zu sein - und ein überzeugter Nationalsozialist, doch allzu genau wollte Jürgen Habermas das wohl nie wissen. Und sein Biograph Stefan Müller-Doohm auch nicht. Die Mutter bleibt noch blasser. Sie hatte Mühen, ihre drei Kinder durch die Entbehrungen und Traumatisierungen des Krieges zu bringen, während ihr Mann an der Front und später in Gefangenschaft lange Jahre dem Familienprogramm fern blieb. Gewiss, doch was war Grete Habermas für eine Mutter? Welche Beziehung hatte sie zu ihrem zweiten Sohn, der wegen seiner Behinderung besonderer Aufmerksamkeit bedurfte?
    Darüber schweigt der Biograf - und will es auch. Und er beschweigt auch den Jürgen Habermas, der selber Gatte und Familienvater wird. 1955 heiratet er Ute Wesselhoeft, eine angehende Studienrätin. Drei Kinder werden aus dieser Ehe hervorgehen.
    "Die Rolle seiner Frau für das politische Engagement von Habermas kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Es war und ist eine intellektuell vitale Ehe. Die Mehrzahl der später in den 'Kleinen Politischen Schriften' versammelten Texte hat nicht ohne ihr Plazet das Haus verlassen. Für die Kinder war Ute aufgrund ihrer umfassenden Schulbildung ohnehin die erste Ansprechpartnerin, wenn es um Fragen zu Geschichte, Politik oder Kunst ging.
    Eine Biographie ohne gravierende Einschnitte
    Und welche Rolle hat Habermas als Familienvater gespielt? Man könnte sagen: die traditionelle. Seine wissenschaftlichen Ambitionen standen ganz im Vordergrund und er begann sich immer stärker als öffentlicher Intellektueller zu engagieren. Wenn es zu Hause an seinen wissenschaftlichen Arbeiten saß, und das tat er fast immer, nahm man Rücksicht auf ihn. Kurzum: Auch im Hause Habermas herrschte die klassische Rollenverteilung, die Habermas später mit Blick auf seine Kinder wie folgt zum Ausdruck bringt: 'Das Glück, Kinder zu haben und mit ihnen umzugehen, ist mir, nachdem ich Großvater geworden bin, erst wirklich zu Bewusstsein gekommen. Der Vater steckte damals, als er für die Kinder öfter hätte da sein müssen, zu sehr und ohne Abstand drin im täglichen Geschehen.'“
    Jürgen Habermas kann sich zweifelsohne präzise und pointiert ausdrücken. Sein Selbstportrait als Familienvater fällt allerdings eher unscharf aus. Sein Biograph begnügt sich damit. Die "Lebenswelt" mag eine zentrale Rolle im Habermaschen Denken spielen, in seiner Biographie findet sie nicht statt.
    "In einem Gespräch hat er von sich selbst gesagt, sein Leben sei alles in allem unspektakulär verlaufen. Und in der Tat: Es ist eine Biographie ohne gravierende Einschnitte und Diskontinuitäten, gekennzeichnet in erster Linie durch eine akademische Erfolgsgeschichte auf der einen und ein energisches Eingreifen ins politische Geschehen auf der anderen Seite. "
    Und vielleicht deshalb ist dieses Buch hochinteressant, spannend gar. Es geht nicht um Herrn Habermas höchst-persönlich, sondern um Denkbahn und Lebenslauf eines der bedeutendsten Denker Deutschlands in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eines Mannes, der 1949 das Abitur ablegt, sein Studium aufnimmt und parallel zur neugeründeten Bundes-republik zu ihrem akademisch-intellektuellen Repräsentanten aufsteigt.
    "Das restaurative 'Profil der Adenauer-Periode' vor dem Hintergrund der 'Enthüllungen über Auschwitz' (…) führte beim jungen Habermas rasch zu der festen Überzeugung, dass ein Neuanfang im Geist der Demokratie gemacht werden müsse. 'Für mich', so entsinnt er sich später, 'war 'Demokratie' das Zauberwort, nicht der angelsächsische Liberalismus. (…) Umso mehr fühlten wir Studenten uns in der unverändert autoritären Umgebung einer Nachkriegsgesellschaft isoliert. Die Kontinuität der gesellschaftlichen Eliten und der Vorurteilsstrukturen, mit der sich Adenauer die Zustimmung zu seiner Politik erkaufte, war lähmend. Es hatte keinen Bruch gegeben, keine personellen Neuanfang und keinen Mentalitätswandel - weder eine moralische Erneuerung noch eine Umkehr der politischen Gesinnung."
    Kritiker und Essayist
    Im Sommer 1949 immatrikulierte Habermas sich an der Universität Göttingen im Hauptfach Philosophie - Geschichte, Psychologie, Literaturwissenschaft und Ökonomiebelegt er als Nebenfächer. Ein Jahr später wechselte er nach Bonn. Wie er selbst sagte, war er hochpolitisiert - doch schier unvermeidlich traf er auf Hochschullehrer, die gerade noch verzückt dem Führer treu gedient hatten. Es ist nicht ganz klar, wie genau er über die Vergangenheit seiner Professoren Bescheid wusste und welche Rolle das für ihn spielte. Jedenfalls nahm sich der einstige Parteigenosse und Antisemit Erich Rothacker seiner intensiv an und bereits 1953 promovierte Habermas mit Auszeichnung.
    Halb aus Not, halb aus Neigung schlug Habermas sich einige Jahre als Journalist durch. Als Kritiker und Essayist für so wichtige Blätter wie die 'Frankfurter Allgemeine Zeitung' oder die Zeitschrift 'Merkur' errang er einiges Ansehen. Und man darf sagen, es war durchaus bemerkenswert, was Habermas als Theater- oder Literaturkritiker zu Papier brachte. 1953 erschien in der FAZ auf zwei Seiten ein aufsehenerregender Artikel von Habermas über die nationalsozialistische Vergangenheit Martin Heideggers - die erste öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Skandal. Nicht zuletzt deshalb wird Theodor W. Adorno auf Habermas aufmerksam und gibt ihm kurzerhand eine Stelle am berühmten Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Hier beginnt er auch mit seiner Habilitationsschrift "Strukturwandel der Öffentlichkeit". In dieser Arbeit beschreibt er das Entstehen bürgerlicher Öffentlichkeit, also den Raum, in dem eine Gesellschaft sich über sich selbst informiert, diskutiert und ihre normativen Standards reflektiert. In gewisser Weise reflektiert er hier auch den Ort seiner eigenen medialen und akademischen Tätigkeit - und er kritisiert den Verfall jener Öffentlichkeit in der zeitgenössischen Medienlandschaft.
    Nach einem kurzen Zwischenspiel in Heidelberg wird Habermas der Nachfolger von Max Horkheimer auf dem Lehrstuhl für Philosophie in Frankfurt. Nicht zuletzt deshalb wird er lange Zeit als Erbe der sogenannten Frankfurter Schule gehandelt - aber in Wahrheit fühlt er sich den theoretischen Grundsätzen des Frankfurter Instituts nicht verpflichtet. Auch ihm geht es um eine kritische Gesellschaftstheorie, allein, er wird sie ganz anders begründen. Und er macht es sich nicht einfach dabei. So stellt er z. B. Oskar Negt als seinen Assistenten ein, der hatte zwar bei Adorno promoviert war aber theoretisch und politisch aus ganz anderem Holz:
    "Seit 1956 ist [Negt] Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und sympathisiert offen mit der Gewerkschaftsbewegung und dem demokratischen Sozialismus. Gerade diese linke Ausrichtung hat Habermas offenkundig bewogen, ihm die Stelle anzubieten. Er ahnte, so Negt später, dass "ich ein besonders hartgesottenes Exemplar marxistischer Orthodoxie war. Aber natürlich sollte diese Orthodoxie mit Argumenten ausgestattet sein." Denn "Habermas brauchte den lebendigen Kontrastpunkt. Er hat seine Mitarbeiter als Widerspruchsassistenten ausgewählt. Ich habe damals Tage und Nächte mit ihm diskutieren müssen. Er verlangte ein ungeheuerliches Maß an Begründungsanstrengung für eine Gegenposition. Daran ist er dann auch selbst gewachsen. (…) Das kennzeichnet seinen intellektuellen Lebensstil."
    Vom Arm der Revolte zur Zielscheibe
    Habermas festigt seinen Ruf als kritischer Denker von Rang. Anfang der 60er-Jahre bezog er dezidiert Position im sogenannten Positivismusstreit mit Karl Popper. Außerdem pflegte er seine mediale Präsenz, erweiterte sie gar stetig. Bald gab er im Suhrkamp Verlag eine eigene Theorie-Reihe heraus und wird bis heute als Berater des Verlags bezahlt. Auch im Kölner Kiepenheuer & Witsch Verlag betreute er eine eigene Wissenschaftsreihe.
    Habermas sympathisierte durchaus mit bestimmten Motiven des studentischen Protests, der sich Mitte der 60er Jahre unübersehbar zu formieren begann. Besonders lag ihm eine Reform der Universitäten am Herzen, und sein Engagement blieb nicht ohne Erfolg. Je mehr allerdings die Revolte eskalierte umso mehr distanzierte sich der junge Ordinarius. Er war und blieb stets ein Mann der kommunikativen Verständigung, der Diskussion, der parlamentarischen Auseinandersetzung.
    "Auf die studentische Parole, den, wie es hieß, 'bürgerlichen' Wissenschaftsbetrieb zu zerschlagen, reagiert Habermas im Übrigen geradezu allergisch, weil er fürchtet, dass damit auch die Basis von Aufklärung und Kritik gefährdet sei. "Habermas war damals außerordentlich mutig", sagt Ulrich Oevermann im Interview. "Er hat für alle den Kopf hingehalten. Er hat sich auf Teach-Ins hingestellt und seine Meinung gesagt. Davor habe ich einen außerordentlichen Respekt, das war nicht einfach und sehr mutig damals."
    1967 kurz nach der Ermordung von Benno Ohnesorg in Berlin platzte ihm allerdings auf einer dieser höchst turbulenten studentischen Diskussionen der Kragen und er prägte das böse Wort vom "linken Faschismus" - umgehend wurde Habermas nicht mehr als eine Art akademischer Arm der Revolte angesehen, sondern zu deren Zielscheibe. Umgekehrt denunzierten in den 70er-Jahren einige erboste konservative Kollegen ihn als Ziehvater des Terrorismus der Roten Armee Fraktion.
    Sein Biograph Stefan Müller-Doohm kommentiert nirgends. Er hält sich an die Chronologie der Ereignisse und ergänzt die Umstände. Kritisch wird man dies Buch nicht nennen dürfen. Das hat nicht nur mit dem Problem der Zeitgenossenschaft, sondern der Genossenschaft schlechthin zu tun. Stefan Müller-Doohm ist mittlerweile emeritierter Professor der Soziologie an der Universität Oldenburg. Adorno, Horkheimer und Jürgen Habermas selbst gehörten zu seinen akademischen Lehrern. 2003 erschien ebenfalls im Suhrkamp Verlag seine tausendseitige Biographie über Theodor W. Adorno. Akkurat und wenig inspiriert befanden die meisten Kritiker - ganz wie das Nachfolgemodell über Habermas. Beide Arbeiten wurden durch ein großzügiges Forschungsprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Man kann sich schon fragen, ob für dieses eher in die Breite als in die Tiefe gehende Curriculum Vitae ein solcher finanzieller Einsatz gerechtfertigt ist. Und natürlich stellt sich die Frage, ob Suhrkamp Verlag, Habermas, Deutsche Forschungsgemeinschaft und der Autor sich nicht wechselseitig zum allseitigen Erfolg arrangiert haben. Mag sein - und doch bleibt es ein lesenswertes Buch über den Lauf des deutschen Geisteslebens in den letzten 65 Jahren.
    Philosophie sollte ein begründetes Selbst- und Weltverständnis zu artikulieren
    1982 erscheint die "Theorie des kommunikativen Handelns" - Habermas‘ Opus Magnum auf fast 1.200 Seiten. Es geht um einen Gesellschaftsentwurf, der auf der normativen Verständigung der Bürger beruht. Allerdings kommen in diesem Buch keine Bürger zu Worte, sondern es findet ein riesiges Round-Table-Gespräch erlesener Geister von Plato über Kant bis Talcott Parsons statt, die die theoretischen Möglichkeiten normativer Verständigung erkunden. Eine Expertise von Rang - und dennoch verlangt Habermas, dass (...)
    "(...) die Philosophie nach wie vor ihrer Aufgabe nachgehen [sollte], im Licht der verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse ein begründetes Selbst- und Weltverständnis zu artikulieren."
    Er mutet der Theorie also eine gewisse Lebensbrauchbarkeit zu. Ob und inwieweit die überaus abstrakte Theorie des kommunikativen Handelns zur Welt kommt, scheint allerdings zweifelhaft.
    In den drei Jahrzehnten seit Erscheinen ist Habermas oft als Intellektueller in den Ring gestiegen und hat bei diesen Gelegenheiten meist tief in die Werkzeugkiste seiner Theorie gegriffen. 1986 bricht der sogenannte Historikerstreit aus. Der Historiker Ernst Nolte interpretierte den deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 als einen Präventivkrieg. Habermas sah darin einen besonders dreisten Versuch, die deutsche Kriegsschuld im 2. Weltkrieg zu verdrehen. Es folgte noch eine Reihe von Auseinandersetzungen, die man unter dem Etikett "Vergangenheitspolitik" zusammenfassen könnte. Der Streit um das Berliner Holocaust-Mahnmal, die Auseinandersetzungen über gewisse Thesen seines einstigen Freundes Martin Walser und natürlich die große Asyldebatte in den 90er Jahren. Es ging dabei stets um die deutsche Vergangenheit als moralische Aufgabe.
    Doch ausgerechnet beim ersten militärischen Einsatz Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg - beim Luftschlag gegen Serbien - versiegte die Vergangenheit als moralische Kraftquelle:
    "(Er) interpretiert den Krieg aus rein rechtsphilosophischer Perspektive, nämlich als Sprung auf dem Weg des klassischen Völkerrechts der Staaten zum kosmopolitischen Recht einer Weltbürgerschaft. (…) Er blickt nach vorne und antizipiert einen 'weltbürgerlichen Zustand über Gräben eines aktuellen, auch mit Waffen ausgetragenen Konflikt hinweg'."
    Fehleinschätzung zum Krieg gegen Serbien
    Habermas rechtfertigte einen Krieg, der klar gegen die Normen des Völkerrechts verstieß. Im Namen eines abstrakten Humanismus optierte er für einen Luftschlag, der mit Humanismus ebenso wenig zu tun hatte wie alle folgende humanitär genannten Militärinterventionen. Die rohe Machtpolitik und ihre Propaganda durchschaute der feinsinnige Philosoph nicht. Am Ende zerfiel das ehemalige Jugoslawien in viele kleine Staaten, die seitdem nach der Pfeife des Westens tanzen.
    Vielleicht hatte Habermas’ Fehleinschätzung auch damit zu tun, dass jener Krieg gegen Serbien ausgerechnet von der ersten rot-grünen Regierung geführt wurde. Für die Regierung Schröder -Fischer hatte er 1998 geworben. Natürlich entging ihm nicht, dass diese Regierung bald die purlauterste neoliberale Politik betrieb, die Habermas dann durchaus kritisierte.
    "Kritisch verfolgt er die demokratische Entwicklung im Westen. Er stellt, wenig überraschend in diesen Jahren, eine zunehmende normative Entkernung der Politik fest, die sich immer mehr an einer neoliberalen Agenda orientiere, was nicht nur zur Deregulierung am Arbeitsmarkt, sondern auch zum Abbau des Sozialstaates geführt habe. "
    Um das zu sehen, musste man aber kein Habermas sein und musste auch nicht seine Bücher kennen. Habermas hatte die Rolle des Intellektuellen immer damit begründet, dass sie eine öffentliche Debatte über gesellschaftliche Normen entfacht. Doch seine Interventionen in den letzten Jahren, Jahrzehnten vielleicht haben kaum mehr Funken geschlagen. Vielmehr als relativ zahme Meinungsäußerungen eines intelligenten Zeitgenossen sind dabei nicht rausgekommen. Und man darf wohl sagen, dass seine Gesellschaftstheorie in dieser Gesellschaft nirgends als Leuchtturm die Szene erhellt.
    Jürgen Habermas ist wohl einer der bedeutendsten Denker unserer Tage. Doch man hat den Eindruck, das spiele jenseits gewisser Expertenkreise keine große Rolle. Stefan Müller-Doohm wollte diesen Eindruck bestimmt nicht erwecken. Es ist nicht seine Schuld.
    Stefan Müller-Doohm: "Jürgen Habermas. Eine Biographie", Suhrkamp, Berlin 2014, 750 Seiten, 29,95 Euro.