Am 3. April 1780, was schon eine Weile her ist, vertraut der noch nicht ganz 30-jährige Goethe seinem Tagebuch ein ganz besonderes Lektüre-Erlebnis an. Er schreibt:
"Von sechs Uhr bis halb zwölf Diderots Jacques le Fataliste in der Folge durchgelesen, mich wie der Bel zu Babel an einem solchen ungeheueren Mahl ergötzt. Und Gott gedankt, dass ich so eine Portion mit dem größten Appetit auf einmal, als wär's ein Glas Wasser und doch mit unbeschreiblicher Wollust verschlingen kann."
Und nur wenige Tage später empfiehlt Goethe auch seinem Darmstädter Freund Johann Heinrich Merck diese, wie er schreibt, "sehr köstliche und große Mahlzeit", die mit "großem Verstand für das Maul eines einzigen Abgottes zugerichtet und aufgetischt" zu sein scheint.
Ja, machen wir einen Sprung, noch ein Jahr vor seinem Tod, im März 1831, also ein halbes Jahrhundert später, schreibt Goethe an seinen langjährigen Briefpartner Carl Friedrich Zelter:
"Diderot ist Diderot, ein einzig Individuum; wer an ihm oder seinen Sachen mäkelt, ist ein Philister, und deren sind Legionen. Wissen doch die Menschen weder von Gott, noch von der Natur, noch von ihresgleichen dankbar zu empfangen, was unschätzbar ist."
Ein genialer Kopf
Mit solchen Empfehlungsscheiben ausgestattet, wurde der 1713 im französischen Langres geborene und 1784 in Paris verstorbene Denis Diderot für einige Zeit, wie sonst unter den Ausländern wohl nur Shakespeare, zur festen Größe in der deutschen Literatur. Goethe übersetzte ihn, Schiller übersetzte ihn, Hegel las ihn. Unter den großen französischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts war er der quirligste, der witzigste, der neugierigste, kurz: der intelligenteste und undogmatischste Kopf. "Man kann von mir verlangen, dass ich die Wahrheit suche", schrieb er einmal, "aber nicht, das ich sie finde...". Er war ein Sucher, kein Finder und also im besten Sinne ein Sokratiker.
Als Herausgeber, mit Jean Le Rond d'Alembert, der großen, zwischen 1751 und 1772 auf siebzehn Bände wachsenden "Encyclopédie", der ersten modernen Universalenzyklopädie der Wissenschaften, Künste und Handwerke überhaupt, interessierte er sich für alles: Für die Naturwissenschaften, die erst zu ihrem Siegeszug ansetzten, für das Bergbauwesen, für Technik und Landwirtschaft, für die Malerei, die Musik, natürlich auch die Literatur, die Kochkunst und nicht zuletzt die Liebe. Er rührte an alles, was Leben und Bücher ihm boten, genoss beides, das Leben und das Wissen, in vollen Zügen, war ein brillanter Causeur und Briefeschreiber – und doch war er, im Gegensatz zu seinem frühen Freund und späten Feind Jean-Jacques Rousseau und anderen Aufklärern, kein Systematiker, kein allwissender Welterklärer. Seine Zeitgenossen haben ihm das vielfach zum Vorwurf gemacht, und kein Revolutionär hat sich 1789, da war Diderot schon fünf Jahre tot, auf ihn berufen.
Fast vergessen, neu entdeckt
Das ideologische 19. Jahrhundert hätte ihn, nach Goethe, beinahe vergessen – was allerdings auch daran liegt, dass seine Schriften vielfach erst posthum erschienen sind oder, wie der Roman "Jacques le fataliste" nur stückweise und zum Teil in Rückübersetzungen aus dem Deutschen in Frankreich bekannt wurden. Fast zwanzig Jahre lang, von 1764 bis zu seinem Tode im Jahre 1784, hat Diderot an diesem Roman gearbeitet. Erst 1796, zwei Jahre nach der Geist und Literatur und erst recht dem Witz nicht gerade freundlich gesonnenen "Terreur", der Terrorherrschaft der Revolutionäre, erschien eine erste französische Ausgabe. In einer früheren Version, die eben auch Goethe und Schiller zu Gesicht bekommen hatten, zirkulierte der Roman zwischen 1778 und 1780 in den Einzellieferungen der handschriftlichen "Correspondance littéraire", mit der der in Paris ansässige deutsche Baron Melchior Grimm, ein Vertrauter Diderots, die deutschen Fürstenhöfe mit dem Neuesten aus Lutetia versorgte – wobei die handschriftliche Verbreitung in wenigen Exemplaren der einzige Weg war, die französische Zensur für Druckerzeugnisse zu umgehen.
Aber genug der philologischen Betrachtungen. Hören wir in diesen Roman, den Goethe mit so unbeschreiblicher Wollust verschlungen hat, hinein. Denn pünktlich zum dreihundertsten Geburtstag hat der Berliner Verlag Matthes und Seitz im vergangenen Jahr eine Neu-Übersetzung der Geschichten von Jacques dem Fatalisten und seinem Herrn vorgelegt. Dass das Lesevergnügen immer noch so frisch ist wie Goethes Glas Wasser, verdankt sich, dies sei gleich vorweg genommen, der meisterlichen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel, dem das bei modernen Klassiker-Übersetzungen nicht gerade leichte Kunststück gelungen ist, sich altertümelnder Wendungen zu enthalten, ohne dabei in die Falle blinder Aktualisierungen zu tappen. Und so beginnt der Roman:
"Wie waren sie einander begegnet?" ― "Durch Zufall, wie alle." ― "Wie hießen sie?" ― "Was schert Sie das?" ― "Wo kamen sie her?" ― Vom nächstgelegenen Ort. ― Wohin gingen sie? ― Wer weiß schon, wohin er geht? ― Was sagten sie? ― "Der Herr sagte nichts, und Jacques sagte, sein Hauptmann habe gesagt, alles Gute oder Schlechte, das uns hienieden widerfährt, stehe dort oben geschrieben."
Reise ins Ungewisse
Wer weiß schon, wohin er geht? Est-ce que l'on sait où l'on va? So keck und nassforsch beginnt einer der antikonformistischsten Romane der Literaturgeschichte, dem man allenfalls Laurence Sternes "Leben und Meinungen des Tristram Shandy, Esquire" zur Seite stellen kann, auf den Diderot sich explizit beruft. Und damit, lieber Leser, bist du gewarnt. Wir wissen nicht, wo es hingeht, der Autor offenbar auch nicht, aber nichts, wirklich nichts wird sich in dieser Geschichte, oder besser: diesen Geschichten so abspielen, wie wir es bis auf den heutigen Tag von den meisten Romanen gewohnt sind. Das beginnt schon mit dem Titel: Jacques der Fatalist und sein Herr.
Jacques, der Diener, steht an erster Stelle, hat einen Namen und auch eine Eigenschaft: Er ist Fatalist. Sein Herr hingegen steht, in Umkehrung der Machtverhältnisse, an zweiter Stelle und bleibt anonym und eigenschaftslos – wie sonst eben nur ein Diener. Warum? Auf diese Frage wusste ein recht prominenter und früher Diderot-Leser eine Antwort, der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Und die Antwort, die er in seiner "Phänomenologie des Geistes" gibt, fand er im Roman.
Doch davon gleich. Fragen wir zunächst, was es eigentlich mit Jacques' Fatalismus, seiner Schicksalsergebenheit auf sich hat. Alles, was uns im Leben zustoße, so erklärt er seinem Herrn, stehe dort oben auf einer großen Schriftrolle bereits geschrieben. Das habe ihm, Jacques, sein Hauptmann beigebracht. Von ihm weiß er auch, dass jede Kugel, die einer abfeuert, mit einer Adresse versehen sei. Belauschen wir Jacques und seinen Herrn, die unterdessen weiter geritten sind, beim Gespräch:
"Nach einer kurzen Pause rief Jacques aus: "Der Teufel hole diesen Wirt und seine Wirtschaft!"
Der Herr: Warum seinen Nächsten zum Teufel schicken? Das ist nicht christlich.
Jacques: Weil ich mich an seinem schlechten Wein berauschte und dabei vergaß, unsere Pferde zur Tränke zu führen. Mein Vater sieht das; er ärgert sich. Ich zucke mit den Schultern; er greift einen Stock und lässt ihn nicht eben sanft auf ihnen tanzen. Ein Regiment zog vorüber auf dem Weg zum Lager vor Fontenoy; aus Verdruss lasse ich mich anwerben. Wir kommen dort an; schon geht die Schlacht los.
Der Herr: Und du bekommst eine Kugel an deine Adresse.
Jacques: Sie haben es erraten; einen Schuss ins Knie; und Gott weiß, welche guten und üblen Abenteuer dieser Schuss nach sich gezogen hat. Sie hängen nicht mehr und nicht weniger zusammen als die Glieder der Kinnkette an einem Halfter. Ohne diesen Schuss zum Beispiel wäre ich wohl nie verliebt gewesen und würde nicht humpeln.
Der Herr: Du warst verliebt?
Jacques: Und wie!"
So hängt fatalerweise alles mit allem zusammen, wie in der modernen Katastrophentheorie, wo der Sack Reis, der irgendwo in China umfällt, auf der anderen Seite der Welt zu einem Erdbeben, einem frühen Wintereinbruch oder zu einem Börsenkrach führt. Der Herr aber wird von nun an nicht müde, genauso wenig wie der Leser, Jacques nach der Erzählung seiner Liebesgeschichte zu fragen. Vergeblich, denn immer wieder kommt etwas dazwischen, schieben sich andere Geschichten in Jacques Liebesgeschichte, Geschichten, in die sich wieder andere Geschichten schieben, wie etwa die der seltsamen und grausamen Rache der Madame de la Pommeraye, die Schiller – mit einem etwas unangenehm moralisierenden Anstrich - ins Deutsche übertragen hat: Von ihrem Liebhaber, dem Marquis d'Arcis, sitzen gelassen und verraten, ersinnt Madame de la Pommeraye eine teuflische Intrige, an deren Ende der Marquis sich unsterblich in ein keusches Mädchen verliebt, dieses heiratet und gleich nach der Hochzeit feststellen muss, dass das fromme Kind eine Prostituierte war. Hatte die verratene Madame de la Pommeraye ein Recht dazu, den Marquis dergestalt ins Unglück zu stürzen?
Es sind solche moralkasuistischen Fragen, wie man sie aus der europäischen Novellenkunst seit Boccaccio kennt, auf die alles in den vielen Erzählungen dieses Romans hinausläuft: Est-il bon, est-il méchant? Ist er gut, ist er böse?, wie es in einem berühmten Dialogstück Diderots heißt. Die Fragen sind wichtiger als die Antworten. Diderot war zwar, darin ganz 18. Jahrhundert und mutiger als mancher philosophische Zeitgenosse, ein entschiedener Atheist, ein Materialist, der davon überzeugt war, dass unsere Gefühlswallungen zuletzt nichts anderes sind als günstige oder ungünstige Konstellationen unserer Moleküle. Aber das hinderte ihn, den Hedonisten, nicht daran, wunderschöne Liebesbrief zu schreiben. Auf ein Paradox mehr oder weniger kam es ihm nicht an. Und: Er stellte seine Überzeugungen stets zur Disposition, zur Diskussion. Wie gesagt: Fragen waren ihm allemal wichtiger als Antworten.
"Sie sehen, werter Leser, ich bin auf einem guten Wege, und jetzt läge es an mir, Sie ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre auf den Bericht von Jacques' Liebesdingen warten zu lassen, indem ich ihn von seinem Herrn trenne und beide sämtlichen Zufällen unterwerfe, die mir so in den Sinn kämen. Was hindert mich daran, den Herrn zu verheiraten und zum Hahnrei zu machen? Jacques übers Meer auf die westindischen Inseln zu schicken? Seinen Herrn ebenfalls dorthin zu verfrachten? Beide auf demselben Schiff nach Frankreich zurückzubringen? Es ist ja so leicht, Geschichten zu erfinden! Aber ich lasse die beiden mit einer schlechten Nacht und Sie mit dieser Verzögerung davonkommen.
Der Morgen dämmerte. Da sitzen sie wieder auf ihren Pferden und reiten weiter. Wohin? Das fragen Sie mich jetzt schon zum zweiten Mal, und zum zweiten Mal antworte ich Ihnen: Was kümmert Sie das? Wenn ich erst auf das Ziel ihrer Reise zu sprechen komme, dann ist es mit Jacques' Liebesdingen vorbei... [...] Außerdem, lieber Leser, immer diese Liebesgeschichten, ein, zwei, drei, vier Liebesgeschichten habe ich Ihnen schon serviert, drei oder vier Liebesgeschichten stehen Ihnen noch bevor. Das sind viele Liebesgeschichten. Andererseits muss man ja, wenn man für Sie schreibt, entweder auf Ihren Beifall verzichten, oder sich nach Ihrem Geschmack richten, und der steht Ihnen entschieden nach Liebesgeschichten. Ihre sämtlichen Novellen, ob in Vers oder in Prosa, sind Liebesgeschichten [...] Fast all Ihre Gemälde und Skulpturen sind Liebesgeschichten. Seit Ihrer Geburt ernährt man Sie mit nichts als Liebesgeschichten, und es wird Ihnen nie zuviel. Man zwingt Ihnen diese Diät auf, und es wird noch lange so bleiben."
Brillanter Geschichtenerzähler, unwilliger Romancier
Diderot ist ein brillanter Geschichten- und Anekdotenerzähler – und ein unwilliger Romancier. Er spielt virtuos mit den Erwartungen seines Lesers, führt ihn an der Nase herum, vertröstet ihn, brüskiert ihn – und amüsiert ihn am Ende doch. Und mit jeder Zeile gibt er ihm zu verstehen, dass das Leben kein Roman ist, in dem alles sich zu einem erbaulichen Ende rundet, und dass Romane nicht das Leben abbilden, dass sie reine Kopfgeburten sind, die nichts mit der Wirklichkeit zu schaffen haben, sondern einzig und allein den Launen eines allmächtigen und selbstherrlichen Autors folgen.
Und man fragt sich, woher, nach Diderot, so mancher heutige Autor noch den Mut nimmt, Romane zu schreiben. Die große Illusionskunst des Romans wird von Diderot, noch bevor das 19. Jahrhundert mit einem Balzac, einem Zola, einem Dickens den Triumphzug dieser Gattung erleben wird, als das vorgeführt und desavouiert, was sie ist: eine gewaltige Gaukelei. Allein in den kleinen Geschichten und Anekdoten, für deren Wahrheitsgehalt Diderot wohl auch nicht seine Hand ins Feuer gelegt hätte – er bleibt ein bewusst unzuverlässiger Erzähler - , blitzt, eben weil sie wie kleine, notwendig offene Fallstudien daher kommen, etwas von der Wirklichkeit und Unentscheidbarkeit des Lebens auf.
"Ich schreibe Geschichten", lässt Diderot seiner Erzähler an einer Stelle sagen, "das wird die Leute interessieren oder auch nicht: Meine geringste Sorge. Mein Ziel ist Wahrhaftigkeit..."
"Das ist ja alles ganz schön und gut, sagen Sie jetzt; aber wo bleibt Jacques' Liebesgeschichte? – Jacques' Liebesgeschichte kennt nur einer, nämlich Jacques, und der hat gerade so ein furchtbares Halsweh, dass sich sein Herr nur noch an seiner Taschenuhr und der Tabaksdose festhalten kann, ein Notbehelf, der ihn genauso betrübt wie Sie: Was soll nur aus uns werden? – Mein Gott, woher soll ich das wissen?"
Fragen wir also, bis Jacques' Halsweh abgeklungen ist, noch nach seinem Fatalismus. Kurioserweise nämlich erweist sich Jacques, der angeblich davon überzeugt ist, dass ohnehin schon alles geschrieben steht und wir also nur Akteure in einem Schauspiel sind, dessen Text wir nicht kennen, kurioserweise also erweist sich Jacques stets als handlungsmächtiger und tatkräftiger als sein Herr, den er mehr als einmal aus der Bredouille rettet und vor bösen Halunken schützt. Jacques würde hier zu bedenken geben, dass daran nichts kurios sei, denn auch das stehe nun einmal so geschrieben. Daraus aber ergeben sich wichtige und durchaus brisante politische und philosophische Konsequenzen, für die Hegel ein Ohr hatte und die Jacques seinem Herrn in geradezu juristischer Manier vor Augen hält:
"Jacques: So wäre also Folgendes abgemacht: erstens. Da oben geschrieben steht, dass ich Ihnen unentbehrlich bin und ich spüre, ja weiß, dass Sie ohne mich nicht auskommen, werde ich diesen Vorteil bei jeder sich bietenden Gelegenheit ausnutzen...
Der Herr: Hey, Jacques, so etwas haben wir nie abgemacht.
Jacques: Abgemacht oder nicht abgemacht, so war es immer, so ist es heute, und so wird es sein, solange die Welt sich dreht. Denken Sie doch nicht, die anderen hätten nicht versucht, sich diesem Dekret zu entziehen, und denken Sie schon gar nicht, Sie wären geschickter als diese es waren. Verabschieden Sie sich von dieser Vorstellung und fügen sich in eine Notwendigkeit, die zu überwinden nicht in Ihrer Macht steht.
Abgemacht wäre zweitens: Da es Jacques ebenso unmöglich ist, von seiner Überlegenheit und Macht über seinen Herrn abzusehen, wie seinem Herrn, seine Schwächen zu verkennen oder seine Duldsamkeit abzulegen, muss Jacques folglich frech sein und darf sein Herr dies um des lieben Friedens willen nicht erwähnen. All dies hat sich ohne unser Zutun so eingestellt, all dies wurde dort oben besiegelt in dem Moment, da die Natur Jacques und seinen Herrn schuf. Es wurde festgelegt, dass Sie den Titel haben sollen und ich die Sache. Wollen Sie sich dem Willen der Natur widersetzen, so wäre das vergebliche Liebesmüh.
Der Herr: So gesehen, wäre dein Los aber besser als meins.
Jacques. Wer behauptet das Gegenteil?
Der Herr: Aber so gesehen, bräuchte ich nur deinen Platz einzunehmen und dich an meinen zu stellen.
Jacques: Wissen Sie, wozu das führen würde? Sie würden den Titel verlieren und die Sache nicht bekommen. Bleiben wir, wo wir sind, es uns beiden sehr gut damit; und der Rest unseres Lebens möge darauf verwendet werden, ein Sprichwort zu prägen.
Der Herr: Was für eines?
Jacques: "Jacques führt seinen Herrn". Wir würden die Ersten sein, von denen das gesagt wird; aber man wird es über tausend andere sagen, die mehr taugen als Sie und ich.
Der Herr: Wo zum Teufel hast du das alles her?
Jacques: Aus dem großen Buch. Ah! Lieber Herr, man kann in allen Büchern der Welt nachforschen und darüber meditieren solange man nicht in den großen Buch gelesen hat, ist man nur ein kleines Kirchenlicht."
Was Jacques hier seinem Herrn scheinbar beiläufig vorführt, hat Hegel in die Dialektik von Herr und Diener, beziehungsweise Knecht, übertragen: Der Diener, der Knecht – und das wäre hier, zurückübersetzt ins vorrevolutionäre 18. Jahrhundert – der dritte Stand, der Bürger, hat zwar die wissenschaftliche, technische, kaufmännische Kompetenz und Gewalt über die Sache, über die Dinge des Lebens, aber den Titel, und das heißt hier: Den Genuss an der Sache, den Profit, hat der Herr, mithin der Adel. Dieser lebt von der Arbeit und vom Können der Bürger. Jacques, und mit ihm Diderot, lassen dem Herrn zwar noch den Titel, aber nur um den Preis, dass er die Führungsrolle und mithin die Freiheit des Dieners anerkennt - und ihm letztlich auch den Genuss überlässt.
Vordenker der Französischen Revolution
Insofern nimmt Diderot die Französische Revolution schon vorweg. Karl Marx hat diesen Gedanken, wie bekannt, radikal zu Ende gedacht, indem er den Gegensatz nicht mehr im – zu seiner Zeit überholten – Konflikt zwischen Adel und Bürger sah, sondern, zwei Revolutionen später, im Kampf der Arbeiter, die den Wert schaffen, gegen die besitzenden Bürger, die ihn einstreichen.
Aber damit sind wir schon bei den unseligen, Diderot verhassten Systematikern, die vorgaben zu wissen, was dort oben geschrieben steht und auch den Autor zu kennen glaubten. Sie nannten ihn den "Weltgeist" oder die "Geschichte", die nach festem Plan verläuft.
Wir wissen, wohin das geführt hat. Jedenfalls nicht dorthin, wo Diderot, der Zweifler, der Skeptiker, der Nachfolger Montaignes geführt hätte. Aber kehren wir lieber zu Jacques und seiner Liebesgeschichte zurück. Er wird sie natürlich nicht erzählen. Oder doch: Denn natürlich meldet sich, wie in den großen Romanen des 18. Jahrhunderts so üblich, am Schluss, nachdem schon alles vorbei ist und wir Abschied von Jacques und seinem Herrn genommen haben, noch ein "Herausgeber" zu Wort, der, wer weiß wie und warum, über alles im Bilde ist. Also: der – Sie erinnern sich? – am Knie verwundete Jacques wird auf einem Schloss von einer schönen Denise sanft umsorgt, für die sein Herz entbrennt:
"Nach langem Schweigen sagte Jacques unter heißen Tränen: "Sie lieben mich also nicht..." Verdrossen steht Denise auf [...], führt ihn unsanft ans Bett, setzt sich auf dessen Rand und sagt: "Also gut! Herr Jacques, ich liebe sie also nicht? Also gut, Herr Jacques, tn Sie mit der unglücklichen Denise, was immer Sie wollen..". Und bei diesen Worten zerfließt sie in Tränen und erstickt an ihren Schluchzern. – Sagen Sie, lieber Leser, was hätten Sie ans Jacques' Stelle getan? Nichts. Eben genau das tat er. Er führte Denise zurück zu ihrem Stuhl, warf sich ihr zu Füssen, wischte ihr die Tränen vom Gesicht, küsste ihr die Hände, tröstete sie, redete ihr gut zu [...] Dieses Verhalten rührte Denise sichtlich. – Man wird vielleicht einwenden, dass Jacques, zu Denises Füßen liegend, ihr wohl kaum die Tränen abwischen konnte.. Es sei denn, der Stuhl sei sehr niedrig gewesen. Das Manuskript gibt darüber keine Auskunft, aber man muss es wohl annehmen."
Und da dieser Schluss so wunderbar unwahrscheinlich ist, werden noch zwei andere Schlussvarianten nachgeliefert, ähnlich wie es der Diderot-Schüler Friedrich Dürrenmatt später handhabte, als er in "Grieche sucht Griechin" noch eine Schluss-Variante für Benutzer von Leihbibliotheken nachlieferte. Wer Diderot liest, wird zwangsläufig klüger, übt sein Denken in Beweglichkeit. Das alles ist frisch, wie das Glas Wasser, das Goethe zu trinken vermeinte und dem noch viele Trinker zu wünschen sind.
Denis Diderot: "Jacques der Fatalist und sein Herr". Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Matthes und Seitz Verlag, Berlin.