"Wenn Sie von Manuskriptseiten Kenntnis haben und meinen, dass wir noch nicht darüber informiert sind, schicken Sie bitte eine Email oder rufen Sie an."
So lautet ein Aufruf auf der Homepage der Thoreau Library, einem auf das Jahr 1966 zurückgehenden Projekt, das eine "vollständige, endgültige, kommentierte und leicht erhältliche" Ausgabe der Schriften von Henry David Thoreau anstrebt. Von geplanten 28 Bänden sind beim Partner Princeton University Press bisher achtzehn erschienen.
Wer war dieser Vielschreiber, der am 12. Juli vor zweihundert Jahren geboren wurde und, neben verstreuten Artikeln und Essays, in seiner knapp 45 Jahre währenden Lebenszeit nur zwei relativ erfolglose Bücher veröffentlichte? Was macht Thoreau neben seinen berühmten Zeitgenossen Herman Melville, Nathanael Hawthorne, Walt Whitman und Henry James zu einem der großen amerikanischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts?
Der ideale amerikanische Präsident?
Nimmt man das Urteil seines langjährigen Mentors Ralph Waldo Emerson wörtlich, dann wäre Thoreau der ideale amerikanische Präsident gewesen.
"Da es ihm [an Ehrgeiz] fehlte", schrieb er im Nachruf, "führte er nur beim Heidelbeerpflücken das Regiment, statt ganz Amerika anzuleiten."
Damit spielt er auf eine Szene an, die sich in Thoreaus eigenen Worten so liest: "Ich wurde ins Gefängnis gesteckt, als ich gerade auf dem Weg zum Schuster war, um einen geflickten Schuh dort abzuholen. Als ich am nächsten Morgen herauskam, setzte ich diesen Gang fort, zog meinen geflickten Schuh an und stieß zu einer Gruppe von Heidelbeersammlern, die schon darauf warteten, von mir angeführt zu werden. In einer halben Stunde (...) waren wir mitten in den Heidelbeeren auf einem unserer höchsten Hügel, sieben Meilen abseits, und vom Staat war nichts mehr zu sehen."
Einsames Lebensexperiment in den Wäldern
In diesen Zeilen aus der bahnbrechenden Schrift "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" steckt der ganze Thoreau: Der Waldläufer, dessen wichtigstes Werkzeug seine Schuhe waren, und der stoische Individualist, der den Institutionen der Gesellschaft, auch ihren Zwangsmaßnahmen, eine provozierende Genügsamkeit entgegensetzte - jene naturverbundene Bedürfnislosigkeit, die ihm das Attribut "Yankee Diogenes" einbrachte.
Die geschilderte Szene bildet den Knotenpunkt zweier Begebenheiten und zweier Texte, für die der Name Thoreau bis heute steht. Verhaftet wurde er, weil er aus Protest gegen die Sklaverei und den Eroberungskrieg gegen Mexiko keine Steuern bezahlt hatte; der Essay "Civil Resistance" (Ziviler Widerstand), später in "Civil Disobedience" (Ziviler Ungehorsam) abgemildert, ist das Ergebnis des Gefängnisaufenthalts. Thoreaus Gang zum Schuster, bei dem ihn der Steuereinnehmer erwischte, fiel in die Zeit seines Rückzugs in eine selbstgebaute Hütte am Walden-See, aus der sein Buch "Walden oder Leben in den Wäldern" entstand. Der oft zitierte Kernsatz steht heute auf einem Schild am Walden Pond.
"Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es ans Sterben ging, einsehen müsste, dass ich gar nicht gelebt hatte."
In "Walden" dekliniert Thoreau seine Zivilisationskritik von der Ökonomie bis zur Ethik durch. Er hat damit nicht nur eine lange Wirkungsgeschichte angestoßen, sondern auch späte, eigenwillige Nachfolger gefunden - nachzulesen etwa in Friedhelm Rathjens findigem Vergleich zu Arno Schmidts "Schwarze Spiegel" in seinen in der Edition ReJoyce neu aufgelegten Studien zu Arno Schmidt und der amerikanischen Literatur unter dem Titel "Poe Cooper Thoreau Twain". In dem Vortrag "Leben ohne Prinzipien" schärft Thoreau seine Erkenntnisse zu polemischen Paradoxen, die ein ursozialistisches Potential enthüllen.
"Wenn ein Mensch einen halben Tag in den Wäldern spazierengeht, weil er sie liebt, dann besteht die Gefahr, dass er als Tagedieb angesehen wird; wenn er dagegen den ganzen Tag als Unternehmer zubringt und diese Wälder abhackt (...), wird er als fleißiger Bürger betrachtet. (...) Etwas getan zu haben, wodurch du nur Geld verdient hast, heißt in Wirklichkeit gefaulenzt zu haben - oder Schlimmeres. Wenn ein Arbeiter nichts außer dem Lohn erhält, den sein Arbeitgeber ihm zahlt, ist er betrogen - und betrügt sich selbst. Um als Schriftsteller und Redner Geld zu verdienen, musst du populär sein, und das heißt: senkrecht absteigen. (...) Du wirst bezahlt, weil du nicht ganz Mensch bist."
Die Tagebücher sind sein Hauptwerk
Thoreau, der im neuenglischen Städtchen Concord geboren wurde und seine Heimatgegend wie ein Entdeckungsreisender erforschte, ließ alle Aussichten auf Beruf und Vermögen ungenutzt. Er quittierte den Dienst als Lehrer, weil er die Prügelstrafe ablehnte, und gründete mit seinem Bruder John eine Privatschule, in der er klassische Philologie und die Kunst des Spazierengehens lehrte. Von Johns frühem Tod bis zu seinem eigenen verdiente er seinen Unterhalt mit Gelegenheitsarbeiten als Schreiner, Gärtner, Maler und Landvermesser; in den ersten drei Jahren lebte er als Faktotum und Hauslehrer bei der Familie seines Freundes Emerson. Der abtrünnige Unitarier-Pfarrer war der Prophet des Transzendentalismus - eine Denkrichtung, die Einflüsse des deutschen Idealismus mit dem Menschenbild des freien Siedlers verknüpfte und den Überbau einer sozialutopischen Bewegung bildete.
In und um Concord entstanden reihenweise Reformkommunen, denen Thoreau allerdings sein einsames Waldexperiment vorzog. Emerson verdankte er neben vielfältiger materieller Unterstützung, darunter das Walden-Grundstück, zwei entscheidende Impulse. Der eine war die Lektüre seines Essays "Nature", der andere der Rat, ein Tagebuch zu führen. Damit begann der zwanzigjährige Henry noch am selben Tag. Drei Jahre später notierte er:
"Mein Tagebuch ist das von mir, was sonst überfließen und verfließen würde, Nachlese auf einem Feld, das ich täglich abernte. Ich brauche nicht dafür zu leben, sondern lebe in ihm für die Götter. Mit ihnen korrespondiere ich; ihnen schicke ich täglich dieses frankierte Blatt (...) Dieses Blatt gleicht einem Blatt, das auf dem Weg über meinem Kopf hängt. Ich biege den Zweig zurück und schreibe meine Gebete darauf; dann lasse ich los, der Zweig schnellt nach oben und zeigt dem Himmel das Gekritzel."
Die Tagebücher gelten als Thoreaus Hauptwerk. Die 47 handschriftlichen Bände dienten ihm als Materialvorrat und Experimentierfeld für seine schriftstellerische Arbeit. Zahlreiche Seiten schnitt er aus, Hunderte handschriftlicher Blätter führten ein verstreutes Dasein. Das erschwerte die Veröffentlichung: In der Werkausgabe von 1906 fehlt insgesamt fast die Hälfte der Einträge. Erst die Princeton-Edition wird dem Anspruch der Vollständigkeit genügen können. Dort sind seit 1981 acht von sechzehn Tagebuchbänden erschienen; die Faksimiles und Transkriptionen der noch ausstehenden können online eingesehen werden. Während die Thoreau Library diese ungeheure Arbeit leistet, hat der Verlag Matthes & Seitz eine zwölfbändige deutsche Ausgabe in Angriff genommen, deren zweiter Band nun zum 200. Geburtstag erscheint. Natürlich kann bei diesem Umfang nur eine Auswahl erscheinen. Deren Kriterien sind allerdings schwer zu durchschauen. Rainer G. Schmidt ist der Übersetzer der mal sprunghaften, mal meditativen, aphoristischen oder weit ausholenden, immer aber starken und präzisen Notate. Thoreaus Talent zur Zuspitzung kann die Zitierlust entfesseln.
"Die Walddrossel ist ein modernerer Philosoph als Platon oder Aristoteles.
Die Natur ist ein Zauberer. Die Nächte von Concord sind seltsamer als arabische Nächte.
Ich sah eine Bisamratte aus einem Loch im Eis hervorkommen. Das war ein Kerl (...) Er ist auch nur eine Art Mensch, das ist alles.
Wo immer ein Mensch geht, werden Menschen ihn verfolgen und mit ihren schmutzigen Institutionen betatschen.
Ich lese selten einen Satz, der zu meiner Muse so spricht, wie die Natur dies tut.
Wer möchte nicht ein Hund sein und den Mond anbellen?
Die Sprache der Dichtung ist kindlich. Sie kann nicht reden.
Welches Tagebuch führen denn Dattelpflaume, Rosskastanie oder Habicht?"
Die Natur ist ein Zauberer. Die Nächte von Concord sind seltsamer als arabische Nächte.
Ich sah eine Bisamratte aus einem Loch im Eis hervorkommen. Das war ein Kerl (...) Er ist auch nur eine Art Mensch, das ist alles.
Wo immer ein Mensch geht, werden Menschen ihn verfolgen und mit ihren schmutzigen Institutionen betatschen.
Ich lese selten einen Satz, der zu meiner Muse so spricht, wie die Natur dies tut.
Wer möchte nicht ein Hund sein und den Mond anbellen?
Die Sprache der Dichtung ist kindlich. Sie kann nicht reden.
Welches Tagebuch führen denn Dattelpflaume, Rosskastanie oder Habicht?"
Funkelnder Fundus des Denkens und der Sprache
Und so weiter. Hier geht es weder um biographische Gefühlsprotokolle noch um die Entwicklung einer Privatphilosophie. Thoreaus Journale sind ein funkelnder Fundus des Denkens und der Sprache. Wer darin eintaucht und querliest, wühlt oder sortiert, entdeckt eine faszinierende Kombination von handfester, erdnaher Präsenz und synästhetischer Phänomenologie. Der mystisch-vitalistische Zugang zur Wirklichkeit, den er aus seiner bodenständigen Lebenspraxis entwickelt, erinnert den deutschen Leser hier an die Signaturenlehre, dort an die Romantik - und ist doch in seiner verspielten Leichtigkeit weit entfernt von metaphysischem Tiefsinn. Thoreau hat Emersons Transzendentalismus auf die Füße gestellt.
In den Tagebüchern kann man studieren, was Philipp Wolff-Windegg in einer klugen Charakteristik so formulierte: "In Thoreaus Werk führt der Genius Amerikas mit sich selbst auf merkwürdige Weise Zwiesprache."
An keiner Stelle bewährt sich dieses Selbstgespräch so wie im Verhältnis zu den amerikanischen Ureinwohnern. Im ersten Band liest man.
"Überall ist die Erde mit den Resten eines Volkes übersät (...) Heute Nachmittag bin ich über ein (...) Feld nahe beim Haus gewandert, wo jene fremdartigen Menschen einst ihre Bleibe hatten (...). Die Krähen flogen über den Waldrand, und während sie über meinem Kopf kreisten, schienen sie zu schelten, da sie als schwarzflügelige Geister den Indianern näher verwandt waren als ich."
Thoreau hat stets Beziehungen zu Indianern gesucht, ihre Sprachen und Gebräuche studiert und auf Exkursionen in ihrer Begleitung von ihren Künsten gelernt. Im zweiten Band schildert er, wie die Indianer selbst zu Relikten wurden.
"Hier und da wird man noch (...) einen einzelnen, reinblütigen Indianer erblicken, der zwischen den Kiefern so wild wie eh und je aussieht, einer der letzten der Massachusetts-Stämme, der mit seiner Flinte in einen Eisenbahnwagen steigt. Hier und da lebt immer noch eine indianische Squaw mit ihrem Hund, ihrem einzigen Gefährten, in einem einsamen Haus, wird von Schulkindern beschimpft (...). Man wird sie auf der Landstraße antreffen (...), voll Schwermut ihr Gesicht, ihre Geschichte, ihr Geschick (...) [Sie] trägt das Leichenhemd ihrer Rasse und erweist ihren hingeschiedenen Stammesangehörigen die letzte Ehre. Noch nicht wieder in den Elementen ganz aufgegangen; eine Tochter der Erde; eine vom Adel des Lands. Der weiße Mann, ein eingeschlepptes Unkraut - Klette und Königskerze, die die Erdbirne verdrängen."
Undurchschaubare Auswahl, schlampige Biografie
Wenn Thoreau von den Behinderungen und Unterbrechungen schreibt, die in sein Journal eingehen, so gilt das auch für die Lektüre. Tagebücher lesen sich immer so holprig und arbiträr wie der Alltag, in dem sie entstehen. Fehlt auch dieser Bezug, dann bekommt die Lektüre etwas Haltloses - und genau dies geschieht leider in der deutschen Ausgabe. Die Erläuterung des Übersetzers, welche Einträge übernommen wurden und welche nicht, erschöpft sich in vagen Bildern: Man wolle "nicht nur Preziosen auf dem Silbertablett servieren", sondern "einen Teppich ineinandergewirkter Motive herstellen".
Nachdem der erste Band wegen editorischer Mängel eine vernichtende Kritik erfahren hat, wurde im zweiten nachgebessert.Inzwischen sind Monat und Jahr am oberen Seitenrand notiert, was die Orientierung deutlich erleichtert. Die Anmerkungen sind zahlreicher geworden, aber leider nicht sinnvoller. Bei einer Passage im Telegrammstil wird angemerkt, sie stehe im Telegrammstil; dafür fehlen nicht nur Namens- und Worterklärungen, z.B. beim Begriff "Shaker", sondern auch biographische Hinweise dort, wo der Leser zum Rätseln geradezu genötigt wird. Begründung: Die Einträge sollten nicht "vorschnell" mit der Biographie verbunden und damit zu bloßen Belegen degradiert werden.
Dass ein Leser die Freiheit hat, im Kommentar nachzuschlagen oder nicht, scheint dieser didaktischen Sichtweise fremd. Offenbar aus demselben Impuls wird weiterhin auf eine Zeittafel verzichtet. Das ist umso bedauerlicher, als hiesige Leser auf die englischsprachigen Thoreau-Biographien angewiesen sind. Es sei denn, man verließe sich auf abfällige Äußerungen wie die folgende, die sich mit Thoreaus verschwiegenem Geschlechtsleben beschäftigt.
"Hier zeigt sich einmal mehr, wie sich idealistische Schwärmerei und Realität vertragen. Überhaupt nicht. Das erklärt (...), warum [Thoreau] keine echte Beziehung zu einer Frau eingehen konnte. Die hätte handfeste, unsublimierte Körperlichkeit erfordert (...). Zum Glück für die Frauen hat sich Thoreau schließlich von ihnen ferngehalten. (...) Es gibt noch eine Möglichkeit, die Thoreaus Ressentiments gegenüber Sinnlichkeit, Wollust, Sex erklären könnte: Thoreau war schwul. So schwul man sein kann in körperfeindlichen, prä-homosexuellen Zeiten. (...) John Schuyler Bishop hat (...) Thoreau eine wilde Affäre mit einem Mann angedichtet. Dahinter steht offenbar die menschenfreundliche Hoffnung, er möge nicht als Jungfrau gestorben sein. So sieht es aber leider aus."
Was auch immer "prä-homosexuelle Zeiten" sind: Dieser halb kumpelhafte, halb süffisante Stuss steht in einer schlampig heruntergeschriebenen Demontage des Menschen und Autors Thoreau, die sich Biographie nennt und Seite um Seite mit rhetorischen Hieben aufwartet. Es scheint, als wolle der Autor Frank Schäfer unter dem Titel "Henry David Thoreau, Waldgänger und Rebell" demonstrieren, wie man jemandes Lebensgeschichte schreibt, den man auf den Tod nicht ausstehen kann.
Das Rätsel, warum der Suhrkamp Verlag diesen bestenfalls überflüssigen, schlimmstenfalls schädlichen Sermon zum Jubiläum in Auftrag gegeben hat, findet seine Lösung wohl darin, dass der Verlag keinen einzigen Thoreau-Titel aufzuweisen hat. Dabei sind Thoreau-Übersetzungen überall verstreut; es fehlt ein Verlag mit dem Mut, Thoreaus Vorträge, naturkundliche Forschungen und Exkursionen gesammelt herauszugeben, statt, wie es nun mit den Tagebüchern fortgesetzt wird, immer neue Fragmente anzubieten.
Unter den Neuerscheinungen von Einzeltexten glänzt, zwei Jahre nach der Sommerreise "Die Wildnis von Maine", beim Jung und Jung Verlag die sorgfältige Veröffentlichung von Thoreaus Bericht "Ktaadn" über seine Besteigung dieses den Indianern heiligen Berges, die Petrarcas epiphanischem Erlebnis auf dem Mont Ventoux in nichts nachsteht. Hier wandelt sich Thoreaus Naturerleben in archaischen Schrecken. Alexander Pechmann hat übersetzt.
"Ein Teil des Betrachters (...) scheint durch das lose Gitter seiner Rippen zu entfliehen, wenn er hinaufsteigt. Die gewaltige, titanische, unmenschliche Natur (...) lächelt nicht auf ihn herab wie in der Ebene. Streng scheint sie zu fragen, warum er hierher komme (...). Genügt es dir nicht, dass ich dir in den Tälern zulächle? Ich habe diese Erde nie und nimmer geschaffen für deine Füße, diese Luft ist nicht für deine Lungen, diese Felsen sollen dir keine Nachbarn sein. (...) Warum suchst du mich, wohin ich dich nicht gerufen habe, und beschwerst dich dann, weil du in mir nur eine Stiefmutter findest? Solltest du erfrieren oder verhungern oder dich zu Tode zittern, hier ist kein Schrein, kein Altar, noch sonst ein Zugang zu meinem Ohr."
"Plain living and high thinking"
Viele Übersetzer haben sich um Thoreau verdient gemacht, was dazu führt, dass - neben diversen "Best of"-Kompilationen - die beliebtesten Essays in verschiedenen Interpretationen vorliegen. In den schönen bibliophilen Bändchen der Leipziger Verlagsbuchhandlung Stefan Göbel gibt Susanne Schaup, die schon 1996 eine dreihundertseitige Tagebuchauswahl vorlegte, dem Amerikaner einen hohen goethischen Ton, ebenso wie Uda Strätling in dem illustrierten Prachtband "Wilde Früchte", der bei Manesse erschienen ist. Schlichter und moderner ist die Wiedergabe von Esther Kinsky in dem Büchlein "Lob der Wildnis" - wobei Matthes & Seitz hier sogar auf Angaben der Originalteitel und -quellen verzichtet - sowie diejenige von Klaus Bonn. Dieser hat, neben einigen, teilweise nur als E-Book erhältlichen Veröffentlichungen, Thoreaus Berichte über seine Reisen zum Kap Cod für den Residenz Verlag in ein glasklares, geradliniges Deutsch übertragen. Auch hier begegnet die Natur dem Betrachter als gleichgültige Macht.
"Das Meeresufer ist eine Art Nullpunkt, ein überaus günstiger Platz, um diese Welt zu betrachten. (...) Die ununterbrochen ans Land brausenden Wellen sind zu weit herumgekommen und zu unbezähmbar, um uns vertraut zu sein. (...) Es ist ein wilder, kraftvoller Ort, und er ist ohne jede Schmeichelei (...) - eine riesige Morgue, in der ausgehungerte Hunde in Rudeln herumstreunen können und täglich Krähen kommen, um die Almosen aufzusammeln, die die Flut ihnen hinterlässt. Die Gerippe von Mensch und Tier werden hier angemessen gemeinsam ausgestellt, sie verfaulen, werden von Sonne und Wellen ausgebleicht, und jede Flut wendet sie in ihrer Bettstatt und unterfüttert sie mit frischem Sand. Da ist die nackte Natur; auf unmenschliche Art ehrlich, keinen Gedanken an den Menschen verschwendend, nagt sie am felsigen Ufer, wo Möwen mitten in der Gischt ihre Kreise ziehen."
Im Kontrast zu Thoreaus stilistischer Prägnanz steht der einleitende Reiseessay von Ilja Trojanow mit reichlich geschwätzigen Impressionen von Cape Cod, die in zweifelhaften Allgemeinplätzen über Thoreau münden. Thoreau ist beispielsweise gerade nicht, wie Trojanow behauptet, "ein Stilist vom Range Ralph Waldo Emersons": Während sich der pastorale Vordenker im jenseitigen Dunst verstieg, war Thoreau ein politisch hellsichtiger Praktiker, der das "plain living and high thinking" kompromisslos lebte, ein Mann der Gegenwart, der Unmittelbarkeit. Während es Emerson, in den Worten des Amerikanisten Gert Raeithel, "wichtiger war, eingekerkerte Gedanken zu befreien als schwarze Zwangsarbeiter", engagierte sich Thoreau mutig gegen die Sklaverei - derselbe Mann, der köstliche Tiraden gegen eine bigotte Philanthropie verfasste.
Es sind die Widersprüche, die ihn so produktiv anstößig machen: Als ekstatischer Naturliebender trieb er empirische Naturforschung, er wetterte gegen die puritanische Arbeitsmoral mit puritanischem Eifer, er teilte den expansiven Impetus der Pioniere und trauerte über die Auslöschung der Wildnis, er glaubte an die Liebe und hielt sich Freunde vom Leib, er geißelte die Absurdität des Handels und war fasziniert von der Eisenbahn. Wer an diesem undogmatischen Denken seinen Geist schärfen will, halte sich an "Walden", die unbestreitbare Krönung seines Werks - allerdings nicht in der Übersetzung von Fritz Güttinger, sondern in jener von Emma Emmerich und Tatjana Fischer - und erfrische sich an Sätzen wie diesen:
"Ich wundere mich oft darüber, dass wir so (...) leichtfertig sein können, uns um die (...) Schwarzensklaverei zu bekümmern, wo es so viele strenge und schlaue Herren gibt, die sowohl den Süden wie den Norden in Sklavenketten halten. Es ist hart, unter einem südlichen Sklavenaufseher, härter, unter einem nördlichen zu stehen, am schlimmsten aber, wenn wir unsere eigenen Sklavenaufseher sind. Da redet man vom Göttlichen im Menschen!"
Henry David Thoreau: "Tagebuch I und II", Aus dem amerikanischen Englisch von Rainer G. Schmidt. Verlag Matthes & Seitz, 328 und 379 S., jeweils € 26,90
Bibliographie der erwähnten Literatur:
Henry David Thoreau: "Tagebuch I", Übersetzt von Rainer G. Schmidt, Matthes & Seitz 2016
Henry David Thoreau: "Tagebuch II", Übersetzt von Rainer G. Schmidt, mit einem Nachwort von Holger Teschke, Matthes & Seitz 2017
Henry David Thoreau: "Ktaadn", Mit einem Essay von Ralph Waldo Emerson. Übersetzt von Alexander Pechmann, Jung und Jung Verlag 2017
Friedhelm Rathjen: "Poe Cooper Thoreau Twain: Drei Studien zu Arno Schmidt und der amerikanischen Literatur", Edition ReJoyce 2017
Henry David Thoreau: "Wildäpfel / Herbstfarben / Ein Winterspaziergang", Hg. und übersetzt von Susanne Schaup, Verlagsbuchhandlung S. Göbel
2012 / 2016, im Schuber
Frank Schäfer: "Henry David Thoreau, Waldgänger und Rebell. Eine Biographie", Suhrkamp Verlag 2017
Henry David Thoreau: "Walden oder Leben in den Wäldern", Übersetzung von Emma Emmerich und Tatjana Fischer, Diogenes Verlag 2015 (Neuausgabe)
Henry David Thoreau: "Lob der Wildnis", Übersetzt von Esther Kinsky, Matthes & Seitz 2014
Henry David Thoreau: "Kap Cod", Übersetzt von Klaus Bonn. Mit einem Essay von Ilja Trojanow, Residenz Verlag 2014
Henry David Thoreau: "Die Wildnis von Maine. Eine Sommerreise", Übersetzt von Alexander Pechmann, Jung und Jung Verlag 2012
Henry David Thoreau: "Wilde Früchte", Übersetzt von Uda Strätling, Manesse Verlag 2012, im Schuber
Henry David Thoreau: "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat", Zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Walter E. Richartz, Diogenes Verlag 2010
Denken mit Henry David Thoreau: "Denken mit Henry David Thoreau", Übersetzung und Vorwort von Philipp Wolff-Windegg, Diogenes Verlag 2008
Henry David Thoreau: "Walden oder Hüttenleben im Walde", Übersetzt von Fritz Güttinger, Manesse Verlag 1972