Die Einfahrt zum alten Hafen von Havanna wird von zwei Festungen gesäumt. Sie sollten die Stadt dereinst sicherer machen. Die Mühe aber war umsonst. Die Befestigungsanlagen wurden überrannt. Eine dritter Schutzwall musste her: die Fortaleza de San Carlos de la Cabana ist eine gigantische Festung mit wuchtigen Mauern, hohen Türmen und massiven Kanonen. Doch die Burg wurde längst umgewidmet und beherbergt einmal im Jahr eine der wohl stimmungsvollsten Buchmessen Lateinamerikas. Im Abstand von zehn Metern geben breite Öffnungen in den Mauern den Weg frei zu Bücherständen in weiß gestrichenen Gewölben. Alljährlich im Februar machen sich hunderttausende Kubaner auf den Weg zur Festung. "Leer es crecer" - "Lesen heißt wachsen" - steht überall an Infoständen auf dem Gelände der Burg. Kubas Wirtschaft liegt zwar darnieder, aber auf ihr Bildungssystem sind die Kubaner noch immer stolz - und das zu Recht. Nirgendwo sonst in Lateinamerika und der Karibik ist der Lesehunger so groß. Von der intellektuellen Neugier der Kubaner fühlt sich die Berlinerin Michi Strausfeld schon lange angezogen. Seit 40 Jahren bringt sie lateinamerikanische Literatur nach Deutschland. Auf der Buchmesse sucht sie zusammen mit manch anderem nach dem Roman, der von der Wendezeit in Kuba erzählt:
"Die Buchläden sind wie üblich leer. Das wenige, was erscheint, erscheint zur Buchmesse. Und deshalb stürzen alle Kubaner zur Messe und versuchen dort ihre Bücher zu kaufen. Im Rest des Jahres wird es dann schwieriger. Ob es zu einer Nachauflage kommt, weiß man ja nie."
Bücher-Knappheit wegen Produktionsengpässen
Für Michi Strausfeld wird es eine mühsame und schwierige Suche. Viele kubanische Autoren bevorzugen die kurze Form: Es werden mehr Erzählungen und Gedichte geschrieben als Romane. Hinzu kommt, dass die staatliche Verlagsindustrie subventioniert wird, die finanzielle Unterstützung jedoch zusehends geringer ausfällt. Auch deswegen leiden die Verlage immer wieder unter eklatanten Engpässen. Häufig fehlt es am Elementarsten. Der Lyriker David Curbelo, der für das Rahmenprogramm der Messe zuständig ist, erklärt das mit der Abhängigkeit von Importen:
"Es ist nicht so, dass es kein Papier gibt, sondern dass wir es importieren müssen. Vor zwei Jahren haben wir versucht, das Papier selbst herzustellen, in Zusammenarbeit mit Frankreich. Aber das hat nicht funktioniert, die Qualität war unzureichend. Und so haben wir es mit Blick auf andere wirtschaftlich wichtige Dinge in Kuba wieder sein lassen. Alle Materialien, die für die Buchproduktion notwendig sind, werden importiert: die Tinte, das Papier, sogar die Computer. Deshalb sind die Produktionskosten hoch und die Regierung muss die Produktion subventionieren."
Die Folge ist eine Knappheit, die auf der Messe zu besichtigen ist. Selbst die Regale der namhaftesten kubanischen Verlage sind nur spärlich bestückt. "Wir erwarten morgen eine neue Lieferung", sagt eine Mitarbeiterin von Editorial Letras Cubanas entschuldigend. Und auch Curbelo hofft auf rasche Besserung:
"Das Problem ist, dass wir in diesem Jahr große Produktionsengpässe hatten. Viele der Titel, die an den Ständen sein sollten, sind noch nicht angekommen. Das geschieht nach und nach. Leider können wir die Messe nicht verschieben und nur die Bücher ausstellen, die uns erreichen. Wahrscheinlich gibt es morgen und übermorgen mehr."
Die Spielräume sind größer geworden
Tatsächlich erreichen am nächsten Tag neue Bücherpakete die Stände. Beim wichtigsten Verlag für fremdsprachige Literatur Arte y Literatura erscheint George Orwells "1984". Zu Beginn der 60er Jahre gab es schon einmal eine kubanische Ausgabe des Klassikers. Es waren die freien Jahre, unmittelbar nach der Revolution. Danach aber änderte sich vieles und das Buch, das von der Zerstörung des Menschen durch eine totalitäre Staatsmaschinerie erzählt, verschwand aus der kubanischen Öffentlichkeit. Dass es jetzt wieder zu haben ist, lässt sich durchaus als Ausdruck einer zunehmenden Offenheit lesen. Davon profitieren auch die kubanischen Schriftsteller. Der bekannteste und international erfolgreichste unter ihnen, Leonardo Padura, hat mit seinen Büchern eine Art Chronik des kubanischen Lebens seit der Revolution verfasst – ohne die Schattenseiten auszusparen. Er kennt die Bedingungen einer Autorenexistenz auf der Karibikinsel.
"Der kubanische Schriftsteller bewegt sich in einem Spiel zwischen dem, was er sagen darf und dem, was er nicht sagen darf. Aber der Bereich dessen, was eigentlich nicht ausgesprochen werden soll, wird immer mehr von den Schriftstellern erschlossen. Ich selbst glaube, dass ich es mittlerweile geschafft habe, alles zu sagen, was ich sagen will, allerdings in einer künstlerischen Form."
Die Spielräume sind also größer geworden auf der Karibikinsel. Aber die Kubaner wissen auch, wo die Grenzen sind: Sie dürfen die Missstände im Land kritisieren, nicht jedoch die Ablösung der Regierung verlangen. Die kommunistische Partei bleibt vorerst unantastbar.