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Bundeswehr-Einsätze
Historiker Wolffsohn schlägt Wiedereinführung der Wehrpflicht vor

"Die Bundeswehr ist überfordert und unterfinanziert", sagte der Historiker Michael Wolffsohn angesichts steigender Aufgaben der Bundeswehr im Deutschlandfunk. Es fehlten definitiv Soldaten. Die Regierung habe mehrere Möglichkeiten: Zum Beispiel die Besoldung zu erhöhen, um die Bundeswehr attraktiver zu machen - oder aber die Wehrpflicht wieder einzuführen.

Michael Wolffsohn im Gespräch mit Dirk Müller |
    Rekruten stellen sich am Freitag (20.07.2012) im Bendlerblock in Berlin für das feierliche Gelöbnis auf.
    Wolffsohn: "Der zivile Arbeitsmarkt ist dem Arbeitgeber Bundeswehr überlegen." (pa/dpa/Nietfeld)
    Wolffsohn kritisierte, hinter den Auslandseinsätzen der Bundeswehr sei keine wirkliche politische Strategie zu erkennen. Es stelle sich die Frage, ob das Parlament trotz Regierungsvorgaben zu solchen Einsätzen immer wieder nur Ja sagen könne. "Ich habe da meine Zweifel."
    Der Historiker betonte zudem, dass die aktuelle Situation keine Überraschung sei. Der zivile Arbeitsmarkt sei gut und sei dem Arbeitgeber Bundeswehr überlegen. Deshalb sollte man über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht nachdenken oder über eine erhebliche Verbesserung der Besoldung der Soldaten. Zudem müsse das Prestige der Bundeswehr gesteigert werden.
    Wegen des Syrienkrieges verstärkt die NATO die Luftverteidigung ihres Mitgliedstaats Türkei und verlegt dafür vorübergehend Awacs-Luftaufklärer vom nordrhein-westfälischen Geilenkirchen nach Konya. Die Linkspartei und die Grünen kritisieren den neuen Bundeswehr-Einsatz und verlangen mehr Informationen über Auftrag und Anzahl der deutschen Soldaten und Flugzeuge.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Syrien, Afghanistan, Mali, die Türkei - was soll die Bundeswehr noch alles leisten? Viele Beobachter meinen, dass die Truppe ihre Grenzen schon längst überschritten hat, wir haben das eben gehört im Bericht von Stephan Detjen, eben auch der Bundesverband, auch der Wehrbeauftragte sagt das. Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Historiker und Militärexperten Professor Michael Wolffsohn, guten Morgen nach München!
    Michael Wolffsohn: Guten Morgen!
    Müller: Robust gefragt, Herr Wolffsohn: Reden wir über Jammerlappen?
    Wolffsohn: Nein, in keiner Weise. Die Bundeswehr bringt das, was sie bringen kann und weit darüber hinaus, sie ist eigentlich überfordert und unterfinanziert, das ist die Situation.
    Müller: Wenn wir auf die aktuellen Zahlen schauen - das war gar nicht so einfach, das herauszufinden -, 3.100 aktuell im Einsatz, haben wir jedenfalls gestern herausgefunden, es könnten 5.000 Soldaten werden, das ist jedenfalls die Projektion für dieses Jahr. Wir haben rund 180.000 Soldaten bei der Bundeswehr. Wo ist da das Problem?
    Wolffsohn: Das Problem ist, wenn man Soldaten an immer mehr Orte schickt, um Frieden zu schaffen oder Frieden zu stabilisieren - momentan geht es ja wohl eher darum, Frieden zu schaffen, aber auch das ist außerordentlich zweifelhaft vom Ergebnis -, dann muss man genügend Personal haben, und das scheint nicht in Rechnung gestellt worden zu sein, ganz abgesehen davon, dass mir jedenfalls keine wirkliche politische Strategie erkennbar ist.
    Müller: Aber das wäre eine Frage nach Berlin.
    Wolffsohn: Aber selbstverständlich ist das eine Frage nach Berlin, es ist immer eine Frage nach Berlin, denn bei uns gilt erfreulicherweise das Primat der Politik, und die Bundeswehr ist darüber hinaus eine Parlamentsarmee. Jetzt stellt sich tatsächlich für das Parlament die Frage, ob trotz der Regierungsvorgaben man immer wieder nur ja sagen kann. Ich habe da meine Zweifel.
    Über Wiedereinführung der Wehrpflicht nachdenken
    Müller: Weil Sie ganz klar sagen, die Grenzen sind überschritten?
    Wolffsohn: Die Grenzen sind überschritten, und das war ja auch schon vorher abzusehen. Vielleicht sind sie jetzt noch nicht vollkommen überschritten, aber man weiß doch schon lange vor den jetzigen Einsätzen, die sich zum Jahresende gehäuft haben und noch weiter häufen werden, dass man nicht genügend Personal hatte. Diese Situation ist ja keine Überraschung - ich habe schon vor Jahren darauf hingewiesen im Zusammenhang mit der Abschaffung der Wehrpflicht, dass nicht genügend Personal, A, vorhanden sein, und B, noch weniger vorhanden sein werde, weil der zivile Arbeitsmarkt, was uns ja alle sehr freut, brummt, und der zivile Arbeitsmarkt ist dem Arbeitgeber Bundeswehr aus naheliegenden Gründen überlegen. Erstens, wegen des geringeren Risikos, zweitens, wegen der besseren Bezahlung.
    Müller: Ist das, Herr Wolffsohn, ein klares Plädoyer für die Wiedereinführung der Wehrpflicht?
    Wolffsohn: Zumindest muss man darüber nachdenken, erste Möglichkeit. Zweite Möglichkeit, eine erhebliche Verbesserung der finanziellen Entlohnung der Soldaten. Drittens, das Prestige der Bundeswehr ist zwar im Bezug auf die Anerkennung der Leistung deutlich gestiegen in den letzten Jahren, in den letzten Jahrzehnten. Die Bundeswehr ist gut, so die allgemeine Einstellung, aber nicht für mich, und das heißt wiederum, es gibt nicht genügend Personal.
    Müller: Das war ja auch nicht allzu schwer, die Leistung zu steigern, wenn wir über die Jahrzehnte nachdenken vor der Wiedervereinigung.
    Wolffsohn: Das ist richtig, aber das löst nicht das Personalproblem in der Bundeswehr, zum einen, und das strukturelle Problem der Unterfinanzierung, und drittens - und das ist die eigentliche Frage -, was will die Bundeswehr mit wem erreichen. Stichwort Türkei: Die Türkei ist nicht ganz unschuldig, um es zurückhaltend zu formulieren, am gegenwärtigen Flüchtlingsstrom. Die Türkei hat zu einem ihr genehmen Zeitpunkt sozusagen den Hahn geöffnet, und was daraus geworden ist, haben wir gesehen. Also kurzum, es werden nicht die politischen und die militärischen Zusammenhänge gesehen. Das andere Stichwort: Afghanistan - erst raus, jetzt wieder rein. Wie viel rein, das ist alles nicht durchdacht.
    "Keine Strategie erkennbar"
    Müller: Also gibt es keine konsistente Militärstrategie der Koalition.
    Wolffsohn: Ich kann keine erkennen, ich sehe nur, dass Löcher gestopft werden, das gleiche gilt für das andere von Ihnen genannte Stichwort Mali. Auch da ist keine politische Strategie erkennbar. Vor wenigen Jahren sind die Franzosen reingegangen, wurden als Sieger gefeiert, ließen sich feiern genauer gesagt - Präsident Hollande ließ sich feiern wie weiland Präsident Bush im Mai 2003 nach der vermeintlichen erfolgreich abgeschlossenen Aktion im Irak -, raus, rein, rein, raus, nicht erkennbar. Was soll dann nach einer Niederschlagung der dortigen Rebellen passieren - etwa die bisherige Regierung gestärkt, die im Grunde genommen für die Kalamität verantwortlich ist. Noch einmal: keine Strategie.
    Müller: Herr Wolffsohn, war das eine deutsche Hilfe für die Sicherung französischer Interessen in Afrika?
    Wolffsohn: Die französischen Interessen sind in diesem Falle auch unsere Interessen. Die Intervention in Mali gegen den Islamismus ist völlig berechtigt, aber da muss man wissen, was politisch nach einem militärischen Sieg, der hoffentlich erfolgen würde, geschehen soll, und das ist auch nicht erkennbar.
    "Ein Soldat zieht nicht einfach los und dann peng, bumm, ab"
    Müller: Herr Wolffsohn, kommen wir noch einmal zurück zur Bundeswehr, zur Verfassung der Bundeswehr beziehungsweise eben auch zur Kapazität der Bundeswehr: Ich möchte noch mal auf den Anfang unseres Gespräches zurückkommen. Für Sie ist das klipp und klar, das haben Sie ganz klar hier jetzt und unzweideutig formuliert: Bundeswehr ist überlastet, ist überfordert, nicht nur aufgrund fehlender strategischer Voraussetzungen, Vorgaben vonseiten der Politik, sondern es geht ja auch um die innere Konstellation. Frage noch einmal: 3.100 Soldaten im Einsatz, maximal 5.000 in diesem Jahr, wir haben 180.000 Soldaten, die finanziert und unterstützt werden - da kann doch ein normaler Laie doch keine Schwierigkeit drin sehen, das ist ja weit weniger als fünf Prozent, die dort eingesetzt werden.
    Wolffsohn: Ja, jeder einzusetzende Soldat bedarf ja einer Infrastruktur, es müssen organisatorische Vorleistungen gebracht werden, es müssen Absicherungen für den Fall von Verletzungen, gar Tötungen vorgesehen werden. Sie haben eine erheblich größere Zahl von, ich sage mal ganz allgemein verständlich, Vorbereitern und Helfern, damit ein Soldat überhaupt eingesetzt werden kann. Denken Sie nur an die technologische Infrastruktur, das muss vorbereitet werden, das muss gewartet werden. Also kurzum, ein Soldat zieht nicht einfach los, wie das mal früher der Fall war, nimmt seine Tornister und dann peng, bumm, ab, im wörtlichen Sinne.
    Müller: Aber gilt denn noch die Faustformel, so ungefähr mal drei muss man das Ganze nehmen, um das abzudecken, dann hätten wir auch maximal 15.000, wir haben 180.000.
    Wolffsohn: Ja, aber auch da ist es wirklich abhängig von dem, was die gesamte Infrastruktur bedeutet, das können wir jetzt nicht im Einzelnen in einem kurzen Interview nachrechnen, aber es fehlen definitiv Soldaten, und zwar vor den jetzt gesteigerten Einsätzen, das ist die Situation, ohne dass wir jetzt den Griffel nehmen müssen und nachrechnen.
    Müller: Bei uns heute im Deutschlandfunk der Historiker und Militärexperte Professor Michael Wolffsohn. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach München!
    Wolffsohn: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.