Noch bevor die Aufklärungstornados der Bundeswehr ihren ersten Einsatz über Syrien absolviert haben, denkt der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Oberstleutnant André Wüstner, im Deutschlandfunk über ein Ende dieser Mission nach. Wenn es bei den Syriengesprächen nach einer bestimmten Zeit nicht zu substantiellen Ergebnissen komme, sollte man die Luftangriffe wieder einstellen.
Bundeswehr aus der Flüchtlingshilfe herausziehen
Bis Ende 2016 müsse sich die Bundeswehr auch aus der Flüchtlingshilfe im Inland herausziehen. "Es ist nicht unsere Kernkompetenz und auch keine Kernaufgabe", meinte Wüstner. Jetzt würden aus politischen Gründen rund 9.000 Soldaten täglich dort eingesetzt. Diese fehlten im Grundbetrieb wie im Einsatz. Den Ausstieg aus der Flüchtlingshilfe bezeichnete Wüstner als "zentrale Forderung".
Das Gespräch mit André Wüstner in voller Länge:
Rolf Clement: Herr Wüstner, wir haben uns heute verabredet bei Radio Andernach. Das ist eine Einrichtung der Bundeswehr, die eigentlich für die Betreuung der Soldaten da ist, die Programme macht für die Soldaten, unter anderem im Einsatz. Und jetzt, nach den zurückliegenden Weihnachtstagen, die wir gerade hinter uns haben, hat das eine besondere Rolle gespielt. Hat es Ihnen auch schon geholfen?
André Wüstner: Ja, natürlich hat mir das schon geholfen. Radio Andernach ist ein zentrales Thema in allen Einsatzgebieten. Es geht um Betreuung. Jetzt, gerade in der Weihnachtszeit, in der Vorweihnachtszeit, haben unwahrscheinlich viele Angehörige von Soldatinnen und Soldaten in den verschiedensten Einsätzen angerufen und Grüße ausgerichtet. Man war in der Kommunikation, es ging um Musikwünsche und vieles mehr. Es ist ein zentraler Ankerpunkt, Radio Andernach, und ich möchte es nicht missen.
Clement: Immer noch, auch wenn wir das Skypen haben, wenn wir Handys haben, wenn wir alle möglichen anderen Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den Soldaten und Familien haben, auch dann spielt Radio Andernach immer noch eine wichtige Rolle?
Wüstner: Ja, es spielt eine Rolle. Es ist so "aus der Truppe, für die Truppe" gemacht. Das heißt, die Redakteure hier, die wissen, wie der Soldat fühlt, die wissen, um was es geht, die wissen, wenn es mal emotional wird, wie man vielleicht auch Angehörige wieder runterholt und sagt: 'Komm, Kopf hoch, wir machen die Aufnahme nochmal' oder: 'Gib deinen Grußwunsch nochmal durch". Also, ich sage mal, das hängt mit sozialer Kompetenz zusammen. Das machen die hier sehr gut und deswegen sage ich nach wie vor, das ist ein wichtiger Anker, was die Einsatzwelt anbelangt.
Clement: Wie viele Soldaten an wie vielen Stellen wurden an diesem Wochenende, an diesen Weihnachtstagen, die hinter uns liegen, betreut?
"Das geht so nicht mehr weiter"
Wüstner: Na ja, also, wir haben aktuell rund 3.200 Soldatinnen und Soldaten in mandatierten Einsätzen. Wir haben aber noch Unmengen mehr in sogenannten Dauereinsatzaufgaben, einsatzgleichen Verpflichtungen. Da denke ich jetzt mal an die Kameradinnen und Kameraden im Baltikum – Stichwort "Air Policing" –, an die, die an verschiedenen Übungsszenarien teilnehmen, aber auch diejenigen, die beispielsweise in klassischen Auslandsdienststellen, NATO-Stäben et cetera, natürlich Radio Andernach empfangen können – und das ist mittlerweile eine Menge. Wenn man die Unterrichtung des Parlaments liest, dann weiß man, wir haben aktuell über 20.000 Soldatinnen und Soldaten in Einsätzen oder einsatzgleichen Verpflichtungen vergleichbar gebunden und da erreicht man richtig viele.
Clement: Wie belastet ist die Bundeswehr dadurch insgesamt?
Wüstner: Also, die Bundeswehr ist gut ausgebucht, in Teilen überbucht, das muss man ganz klar sagen. Das hängt eben nicht rein nur mit der Zahl, die wir in den Einsätzen haben, zusammen – Stichwort mandatierte Einsätze –, sondern es geht ums Ganze. Man muss immer noch wissen, wir sind noch mitten in der Neuausrichtung, die ist noch nicht abgeschlossen, wir haben die Zielstruktur noch nicht erreicht. Und die Soldatinnen und Soldaten sind teilweise noch mitten im Umzug und parallel kommen neue Einsätze dazu. Wenn ich zurückblicke, im Jahr 2010/2011, als es um die Grundlagen für die Neuausrichtung ging, hätte keiner angenommen, dass wir derart viele Einsätze heute haben, da ging es nur um kleine Einsätze. Alle dachten damals: Im Jahr 2016/17 sind wir aus Afghanistan weg, Nordirak war kein Thema, Russland-Ukraine-Krise war kein Thema, Bündnisverteidigung stärken, was die NATO belangt, war kein Thema. Und deswegen muss man hier aktuell sagen: Wir sind absolut im roten Bereich und es ist wichtig, dass die Ministerin, das Parlament jetzt nachsteuert, denn wir haben eine Lageänderung. Und all das, was wir machen sollen, das geht mit dem jetzigen Personal und Material so nicht mehr weiter.
Clement: Betrifft das alle Teile der Bundeswehr oder gibt es welche, die besonders stark überbucht sind und andere, wo man sagen kann, na ja, die haben noch Luft?
"Durchhaltefähigkeit ist ein Problem"
Wüstner: Ja, wir sind ja eine Armee von Spezialisten geworden und der logistische Bereich oder nehme ich mal den Bereich Feldlagerbetrieb, die sind klassisch überbucht. Wenn man überlegt – das ist aktuell so ein bisschen das Schizophrene –, im Nordirak bauen zivile Firmen unser Feldlager auf, während andere Teile in Deutschland im Rahmen der Flüchtlingshilfe den Lageraufbau unterstützen. Das ist schon irgendwo ein Wahnsinn. Da merkt man, dass wir in vielen Bereichen nicht die ausreichende Tiefe haben, auch Durchhaltefähigkeit ist da ein Problem. Und deswegen kann man schon sagen: Also das Gros ist momentan extrem gebeutelt. Es mag Nischenbereiche geben, wo wir sagen können: Okay, die sind momentan in einem Bereitschaftsstatus, aber das Gros ist extrem gefordert. Es hängt eben auch damit zusammen, dass wir keine Wehrpflichtarmee mehr sind – viele haben das noch nicht verstanden –, sondern eine Einsatzarmee. Und all das, was wir auch im Grundbetrieb tun, ist alles ausgerichtet auf den Einsatz. Und wie schnell das Parlament uns in den Einsatz entsenden kann, haben wir jetzt im Dezember gemerkt – Stichwort Syrien.
Clement: Plädieren Sie dafür, dass man die Wehrpflichtarmee wieder einführt?
Wüstner: Nein, ich kann mir das aktuell wirklich nicht vorstellen – A, weil es den politischen Willen nicht gibt dazu, und zweitens, weil ich die sicherheitspolitische Lageänderung so nicht erkennen kann. Und wenn man die Aussetzung aufhebt, dann muss man auch klar ins Auge fassen, was wir für rechtliche Rahmenbedingungen haben, was wir für Auflagen haben. Und da kann ich sagen: Ich kann es mir aktuell nicht vorstellen.
"Fehler in der Personalstruktur"
Clement: Also bleibt die Bundeswehr auch nach Ihrer Ansicht eine Armee ohne Wehrpflichtige, aber – Sie haben es schon gesagt – sie braucht mehr Leute?
Wüstner: Ja, wir brauchen definitiv mehr Personal. Wir haben materielle wie personelle Lücken, die sind ganz klar offensichtlich. Wir haben Einheiten, Verbände, die sind nur zu 50 Prozent personell besetzt. Das hängt noch an dem mangelhaften Umbau zur Freiwilligenarmee Bundeswehr. Und deswegen kann ich nur hoffen – und das ist eine klare Forderung –, dass noch in dieser Legislatur nicht nur eine Organisationsanalyse gemacht wird, wie sie Frau von der Leyen jetzt, Gott sei Dank, beauftragt hat, die auch in drei, vier Monaten fertig sein soll, sondern dass man dann auch handelt und anpasst.
Clement: Nun hat die Bundeswehr zurzeit eine Papierstärke von 185.000 – etwas in der Größenordnung, es kommt darauf an, wie viel von den länger Wehrdienstleistenden man hat –, die erreicht sie aber schon nicht. Wie wollen Sie denn noch mehr Leute kriegen, wenn Sie jetzt schon ihre Sollzahl nicht erreichen?
Wüstner: Na ja, bei den Sollzahlen sind wir gar nicht so schlecht. Uns geht es im Wesentlichen um die Anzahl der Zeit- und Berufssoldaten. Und da gibt es auf dem Papier von den 170.000 Zeit- und Berufssoldaten aktuell 169.000 und ein paar Zerquetschte, wie ich mal so schön lapidar formuliere. Aber der Punkt ist der: Aufgrund von Fehlern in der Personalstruktur haben wir ein Wirkpersonal zwischen 130.000 und 140.000 Soldatinnen und Soldaten nur verfügbar, der Rest ist in der Ausbildung, ist im Berufsförderungsdienst, ist noch in Überhängen in bestimmten Bereichen, die wir gar nicht mehr an Fähigkeiten vorhalten sozusagen. Und deswegen sind die Dinge nicht eingeschwungen. Wenn wir mehr Personal haben wollen, verstärken wollen, gibt es klar Möglichkeiten, die auf der Hand liegen. Es gibt Möglichkeiten, die auf der Hand liegen. Es gibt Möglichkeiten, im Bereich der Mannschaftsdienstgrade sofort einzustellen. Da ist die Bewerberquote enorm, und wir hätten Möglichkeiten, das zu tun. Der zweite Bereich ist der Bereich der Portepees.
Clement: Der Feldwebeldienstgrade.
Wüstner: Der Feldwebeldienstgrade. Dort haben wir einerseits die Möglichkeit, einzustellen, wobei man da beachten muss, dass wir natürlich einen Ausbildungszeitraum von bis zu drei, vier Jahren haben. Aber es gibt auch Unmengen an Feldwebeln in der Truppe, auch Fachleute, gut qualifiziert, die würden sozusagen sofort wechseln in das Verhältnis eines Berufssoldaten oder von zehn auf zwölf, auf 15 Jahre Verpflichtungszeit verlängern, sodass es kein Problem wäre, sozusagen den Bedarf, den wir jetzt vor Augen haben, 5.000 bis 10.000 Soldatinnen und Soldaten, je nach dem, was wir auch weiterführend für Anforderungen von außen an uns haben, definitiv zu decken.
"Ministerium wird nachsteuern müssen"
Clement: Da hört man manchmal, dass es da erstaunliche Hemmnisse gibt, gerade bei Weiterverpflichtungen, bei ähnlichen Dingen. Woran liegt das? Muss da irgendwie eine Blockade losgetreten werden?
Wüstner: Na ja, also wir haben eine klassische Personalstruktur und da geht es um Personalplanung und um Mechanismen, das ist recht komplex, und natürlich auch noch die Sorge, dass man auf keinen Fall die sogenannte "Personalobergrenze" reißt. Da hat man Ängste – so will ich es jetzt mal nennen –, dass das Parlament dann einem auf die Finger tritt oder schlägt, wenn es darum geht, eben mal um 2.000 drüber zu liegen. Und da, bin ich der Auffassung, sollte man etwas flexibler werden. Man sollte im Personalmanagement mutiger sein, um näher an die definitive Obergrenze zu gehen. Und insgesamt sage ich, mindestens wäre die Flexibilisierung von Nöten. Aber mittelfristig muss man nach oben, denn die NATO stellt immer mehr Anforderungen an uns. Deutschland ist Stabilitätsanker in Europa, muss mehr leisten, will auch mehr leisten. Aber immer mehr, mit immer weniger Personal und Material, das geht nun mal nicht.
Clement: Nun kommt Ihre Forderung in einer Zeit, wo die Demografie das Problem aufwirft, dass wir viele Arbeitgeber haben, die um weniger Leute konkurrieren. Sie müssen also noch mehr aus einem jeden Jahrgang herausziehen. Ist die Bundeswehr ein so attraktiver Arbeitgeber, dass sie da überall so bestehen kann, wie Sie sich das wünschen?
Wüstner: In vielen Teilen ja. Man hat da einen guten Schritt nach vorne gemacht mit dem jetzigen Attraktivitätssteigerungsgesetz, wo es um Zulagen ging, um Gehalt und vieles mehr. Aber natürlich gibt es noch Bereiche – Fachkräftemangel sagt man in der Wirtschaft dazu, bei uns gibt es ähnliche Begriffe, Führungsunterstützung, der IT-Bereich, der elektronische Bereich et cetera –, da haben wir natürlich eine extreme Konkurrenz und da wird das Ministerium noch nachsteuern müssen, um sozusagen Stand zu halten dem, was in der freien Wirtschaft gezahlt wird und was an Rahmenbedingungen zur Verfügung gestellt wird. Aber insgesamt – nochmal – meine Auffassung, die Bewerberlage ist gut, wir könnten aufwachsen. Und ich bin auch der Auffassung, es wäre jetzt wichtig. Denn Sie sprachen zurecht die Demografie an, ab 2020 wird es schwieriger. Und deswegen sind jetzt alle Großunternehmen und Organisationen dabei, jetzt mal zu atmen und zu sagen: 'Ich stelle jetzt ein und binde Personal, damit ich sozusagen für die Zukunft gut aufgestellt bin.' Egal wo Sie hinschauen, das erfolgt momentan überall. Und deswegen sollte die Bundeswehr nach unserer Auffassung jetzt auch atmen, denn all das, was ab 2020/25 ist, ist eine Glaskugel, wir wissen nicht, wie attraktiv Politik uns noch macht. Da geht es ja um Rahmenbedingungen, die der Gesetzgeber vorgibt und auch verändern kann. Und deswegen nochmal: Jetzt sollte nochmal geatmet werden, denn jetzt ist die Situation noch gut.
Haltung und Handlung
Clement: Das heißt also, wenn man das umsetzt – eine politische Forderung, müsste das sein –, jetzt muss zumindest zeitweise die Personalobergrenze der Bundeswehr angehoben werden, damit man atmen kann, damit man einen Schluck aus der Pulle nehmen kann, um es mal so zu sagen?
Wüstner: Definitiv noch in dieser Legislatur. Ich hoffe, dass spätestens in der Phase Weißbuchprozess das Thema Personal dann enduntersucht ist, diese Organisationsanalyse, die ich ansprach, um dann zu folgern. Denn die ganze Zeit, was Verantwortung betraf, ob das jetzt im Bereich der Flüchtlingskrise ist, ob das im Bereich der Einsätze ist, ob das im Bereich der Bundeswehr im Allgemeinen ist, ging es sehr viel um Haltung. Haltung ist wichtig, aber es geht eben auch um Handlung. Und Handlung ist noch bedingt erfolgt bisher, was Material und Personal anbelangt, da muss Frau von der Leyen noch liefern.
Clement: Und jetzt sagen Sie, Sie brauchen mehr Leute, gleichzeitig stellt die Bundeswehr in erstaunlichem Umfang Soldaten ab, die bei der Aufnahme von Flüchtlingen helfen. Wie lange können Sie das aufrecht erhalten?
Wüstner: Also ich bin der Auffassung, dass wir spätestens Ende nächsten Jahres aus der Flüchtlingshilfe raus müssen. Es ist nicht unsere Kernkompetenz und auch keine Kernaufgabe, auch wenn Frau von der Leyen aus politischen Gründen, auch mit Blick auf die Notlage im Land entschieden hat: Wir gehen jetzt in diese Amtshilfe und wir unterstützen teilweise, je nach Tag, mit bis zu über 9.000 Soldatinnen und Soldaten, die uns fehlen, im Grundbetrieb wie im Einsatz. Das ist eine Menge an Personal und deswegen müssen wir raus. Und die Länder und Kommunen müssen nach einer gewissen Zeit auch in der Lage sein, diese Probleme und Herausforderungen wieder selbst zu lösen. Das ist eine zentrale Forderung. Und wir hoffen, dass man im nächsten Jahr auch tatsächlich diesen Übergang schafft.
Clement: Im Interview der Woche im Deutschlandfunk heute der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Oberstleutnant André Wüstner. Herr Wüstner, Sie haben vorhin gesagt, nicht nur am Personal knappt es, auch am Material. Was meinen Sie damit konkret?
"Wir geben immer nur, aber es fließt nichts zurück"
Wüstner: Ja, das betrifft den gesamten Bereich. Wir sind aktuell so transparent, wie schon lange nicht mehr, was die Bundeswehr in Richtung Parlament betrifft. Es gab jetzt mehrere Ausschusssitzungen, wo es um Zahlen, Daten, Fakten ging. In den vergangenen Legislaturperioden – ich sage es ja mal salopp – wurde ein Tick mehr verschleiert als bisher. Warum, kann man jetzt auch relativ klar sein, weil natürlich das Parlament in den vergangenen Jahren aufgrund verschiedener anderer Schwerpunkte – Stichwort Eurokrise et cetera – den Geldhahn zugedreht hat. Wir wissen noch um die Rede von Herrn zu Guttenberg, "design to cost", "8,3 Milliarden einsparen" und viel mehr. Und dieses Problem damals und die Entscheidungen zu sparen, die wirken sich heute nun einmal aus. Und deswegen ist jetzt das Parlament gleichermaßen wieder gefordert, wenn es darum geht, schnellstmöglich nachzusteuern. Und die Probleme sind bei den geschützten Fahrzeugen, sind aber auch bei den ungeschützten Fahrzeugen vorhanden. Wir haben die Thematik jetzt der Handwaffen, G36-Neubeschaffung. Wir haben aktuell die Herausforderung, dass Politik von uns möchte, dass wir wiederum G36, Milan abgeben in Richtung Peshmerga. Die Dinge haben wir nicht rumliegen wie zu Zeiten des Kalten Krieges, sondern die fehlen uns. Und deswegen gehe ich fest davon aus – und das ist auch wiederum eine zentrale Forderung –, dass all die Dinge, die wir jetzt abgeben, 1:1 ersetzt werden, da muss eine Art Gegenrechnung erfolgen. Eigentlich die gleiche Gegenrechnung wie im Bereich der Flüchtlingshilfe. Denn wir geben immer nur außerhalb unserer Aufgaben und außerhalb unseres Auftragsportfolios, aber wir haben den Eindruck, es fließt nichts zurück. Und deswegen nochmal: Material ist ein großes Thema. Wenn wir – Stichwort "VJTF" (Very High Readiness Joint Task Force) und all das, was mit NATO-Übungen zusammenhängt ...
Clement: Das ist die NATO-Speerspitze.
Wüstner: Richtig, die Speerspitze, weiterhin ab 2018 aufwärts, sozusagen das leisten wollen, wozu wir uns verpflichtet haben, müssen wir materiell massiv Gas geben in der Bundeswehr. Und die Staatssekretärin Suder muss da nicht nur die strategischen Projekte voranbringen, sondern auch das Einmaleins; die Dinge, die auch noch in dieser Legislatur wirksam werden können.
Clement: Nun sind ja eine ganze Reihe von Geräten, die aus Afghanistan wiedergekommen sind, erst mal in der Instandsetzung, das dauert ja auch seine Zeit. Kommen diese Einsätze, die Sie jetzt gewärtigen müssen, auf die Sie sich vorbereiten müssen, zu früh, auch für die Materiallage der Bundeswehr?
"Haben nicht alles, was wir brauchen"
Wüstner: Na ja, in Teilen merken wir das schon. Ich nehme mal jetzt den verstärkten Einsatz in Nord-Mali im nächsten Jahr. Da geht es klassisch darum, dass wir eigentlich extrem dringend eine Drohne á la Heron brauchen, im Idealfall sogar eine bewaffnungsfähige Drohne. Denn Aufklärung und Schutz sind elementar, gerade im Bereich von MINUSMA in Nord-Mali. Und deswegen hoffe ich, dass die Bundesregierung alles daransetzt, eine zusätzliche Drohne zu bekommen. Denn die jetzigen aus Afghanistan abzuziehen, wäre gleichermaßen unverantwortlich. Und das sind so Beispiele, wo ich sage: Achtung, wir gehen in ein neues Einsatzszenario, haben aber nicht alles, was wir an Fähigkeiten brauchen. Und so könnte ich gleichermaßen jetzt von der Luftwaffe sprechen, die natürlich als Herausforderung hat, diese sechs Tornados – und eigentlich ist es ein Wahnsinn: nur sechs Tornados – jetzt in Richtung Türkei zu bringen, um sie dann ab Januar voll einsatzbereit zu haben. Und auch dort kommen wir an Grenzen. Und das darf für so ein großes Land, so ein starkes Land wie Deutschland eigentlich nicht sein.
Clement: Viele der Beschaffungsentscheidungen sind ja getroffen. Merkt man das in der Truppe noch nicht? Dauert der Zulauf zu lange? Bei Großgeräten wissen wir, da dauert er zu lange, aber Sie haben ja jetzt vieles an kleineren Geräten angesprochen – Nachtsichtgerät ist auch so ein weiteres Stichwort – da habe ich das Gefühl, dass das zu lange braucht, bis es da ist.
Wüstner: Ja, das braucht noch zu lange. Da werden natürlich auch Fehler gemacht – auch die hängen wiederum mit der Neuausrichtung zusammen und dem Wissen- und Kompetenzverlust, den wir durch Umgliederung erlitten haben. Aber es ist schon ein Wahnsinn, wenn man überlegt, dass wir nicht einmal in der Lage sind, innerhalb von einem Jahr eine entsprechende Anzahl an Nachtsehgeräten zu beschaffen. Und da liegt es nicht immer nur an der Industrie, die angeblich nicht liefern können. Denn innerhalb von ein, zwei Jahren ist man schon in der Lage, Nachtsehgeräte zu beschaffen – um nur ein Beispiel zu nennen. Das geht weiter über Schutzwesten und vieles mehr. Also wenn man eine klare Idee hat, eine klare Absicht hat, die finanziell unterlegen kann, dann ist Industrie schon in der Lage zu liefern. Und deswegen ist eben wichtig, dass man auf der einen Seite, die Makroebene, die großen strategischen Rüstungsprojekte im Blick hat, diese auch ordnet, aber eben das, was die Truppe heute braucht, gleichermaßen im Fokus hat. Und da, muss ich sagen, kommt noch zu wenig.
"Kurswechsel in Richtung Bündnisarmee"
Clement: Fühlen sich Soldaten im Stich gelassen von der Politik?
Wüstner: "Im Stich gelassen", so würde ich es nicht sagen, aber sie erkennen: Wir sind seit einem Jahr an der Spitze des Problembewusstseins angelangt; Parlamentarier, eine Ministerin, viele andere reden davon, dass wir doch enorme Lücken im Bereich des Materials haben. Und jetzt fragen sich die Soldatinnen und Soldaten: Also, nur darüber sprechen, also das kann es doch nicht sein? Also, warum wird nicht bestellt? Warum werden die Ressourcen, auch finanzieller Art, nicht zur Verfügung gestellt? Und woran scheitert es denn? Denn wenn es doch bekannt ist, dann müsste es doch möglich sein, auch das Material entsprechend in die Truppe zu bringen.
Clement: Wir haben das Personal angesprochen, wir haben das Material angesprochen. Ist die Bundeswehr denn von ihren konzeptionellen Grundlagen auf dem Stand, auf dem sie sein müsste, angesichts der Lage in der Welt, da die sich in den letzten zwei Jahren doch dramatisch verändert hat?
Wüstner: Ja, also sie hat sich dramatisch verändert. Und deswegen ist der Gedanke, den der frühere Generalinspekteur, General Schneiderhahn, immer ausgesprochen hat – Stichwort "Transformation/Wandel", "Die Welt passt sich nicht an uns an, wir müssen uns an die Welt anpassen". Das ist ja auch der Gedanke, den der jetzige Generalinspekteur weiterverfolgt, der ist nach wie vor elementar. Und das heißt, natürlich muss sich die Bundeswehr schleunigst anpassen. Dennoch, vor Jahren oder zumindest als Grundlage für die jetzige Neuausrichtung war Bündnisverteidigung nicht im Schwerpunkt, sondern es ging klassisch um "Out-of-Area", wie Afghanistan, Mali vergleichbar. Und spätestens seit der Russland-Ukraine-Krise, dem NATO-Gipfel in Wales, ist der neue Schwerpunkt Bündnisverteidigung. Man spricht wieder vom "gefährlichsten und komplexesten Einsatz" nicht mehr vom "wahrscheinlichsten", wie im letzten Weißbuch. Das ist eine Art grundlegende Lageänderung und bedeutet, dass die Bundeswehr, die ja zu einer Art Kontingent-Gestellungsarmee geworden ist, wieder einen Kurswechsel machen muss in Richtung Bündnisarmee als zentrale Aufgabe. Das ist ein enormer Kraftakt. Denn all das, was wir in fünf, sechs, sieben Jahren auch verlernt haben – früher sprach man vom Gefecht der verbundenen Waffen –, das muss jetzt mühselig wieder erarbeitet werden. Wir haben Oberstabsgefreite, die sind klassisch ausgebildet, sehr gut, gestandene Frauen und Männer, die in Afghanistan überzeugen, die aber noch nie einen größeren Marsch im Brigaderahmen durchgeführt haben oder Beziehen eines Verfügungsraums bei Nacht – klassisch das, was man sozusagen jetzt in Polen oder im Baltikum mal üben sollte, mit Blick auf die VJTF. Und das ist eine enorme Herausforderung. Deswegen sage ich: Keine Reform der Reform, was den gesamten Apparat betrifft, aber zumindest im Bereich der Kommandos. Denn – nochmal –, es darf kein Problem sein, dass wenn man in kürzester Zeit sagt: Wir sollen eine Brigade abrufen, die im Baltikum wirksam wird und wenn es nur durch einen Marsch ist – Show of Force –, dass wir da schon überfordert sind. Insbesondere, weil im nächsten Jahr es zumindest schon beim NATO-Verteidigungsministertreffen im Februar darum geht, ob Deutschland nicht sogar ein Divisionsäquivalent stellen soll. Und da muss man sagen: Na ja, also jetzt erst mal die weißen Tasten am Klavier, bevor man in Richtung schwarze kommt, denn da sind wir weit weg davon. Und all das ist eine enorme Kraftanstrengung, wenn man sagt: Man möchte wieder in diese Größenordnung, in diesen Bereich der Bündnisverteidigung. Die Militärs sind momentan auf diesem Weg. Aber es ist ein enormer Kraftakt und dafür brauchen wir das Material, denn es geht allein schon um das Üben von diesen Szenarien.
"Krieg an sich ist kein Selbstzweck"
Clement: Es gab im Umfeld des Syrien-Einsatzes eine Diskussion darüber, dass man sagt, jetzt hat man ihn relativ schnell auf den Weg gebracht, aber man hat eigentlich gar kein Ziel, man hat gar keinen Endpunkt, man hat nichts, wohin so ein solcher Einsatz führen soll. Vermissen Sie das auch?
Wüstner: Ja, insbesondere zu Beginn. Da war ja noch die Absicht zu erkennen, dass man ein Mandat nicht nur schnell, sondern auch gar nicht laut durchs Parlament bringen möchte. Und wir als Berufsverband haben natürlich ein Interesse, dass das Parlament in Gänze darüber debattiert und auch die Gründe einer Bundesregierung nachvollziehen kann. Denn die Parlamentarier sind ja auch die Mittler in die Gesellschaft. Wir haben ja mit Blick auf Afghanistan zu oft erlebt, dass Parlamentarier zwar abgestimmt haben, aber im Wahlkreis nicht erklären konnten, warum, mit welchem Ziel man derzeit in Afghanistan ist. Und deswegen provozieren wir auch bewusst und fordern diese Ziele ein. Militärisch ist es benannt, was das Eindämmen betrifft, durch Luftschläge – damit wird man den IS nicht nachhaltig beeindrucken. Eindämmen, unter Druck setzen, das ist möglich, aber man wird ihn nicht vernichten, so wie es einzelne Abgeordnete aussprechen. Aber insgesamt ist es so, dass die politische Strategie gerade ja parallel erarbeitet wird, also noch nicht da ist. Und wir weisen nur darauf hin: Also Krieg an sich ist kein Selbstzweck – klar –, es muss ein Ziel haben, es muss vor allem ein politisches Ziel haben. Und wir weisen jetzt schon darauf hin, wenn sich das nicht darstellt in den nächsten ein, zwei Jahren, dann muss man auch schnell konsequent sein und Truppen wieder abziehen.
Clement: Das würde also bedeuten, wenn man in Wien bei den Syriengesprächen, die teilweise ja auch in New York laufen, also bei diesen Syriengesprächen nicht irgendwann nach einer bestimmten Zeit zu substantiellen Ergebnissen kommt, dann lieber die Luftangriffe wieder einstellen?
Wüstner: Ja. Also ansonsten wäre der Einsatz nicht durchhaltbar, insbesondere mit Blick auf das, was die Gesellschaft anbelangt. Auch in Frankreich diskutiert man schon über die Ziele dieses Einsatzes. Es ist nicht nur so, dass man bei uns diese Ziele erwartet und hinterfragt, das ist in den anderen Ländern gleichermaßen. Und wenn sich da eben keine Lösungen sozusagen abzeichnen – es ist nun einmal komplex, was die regionale Situation betrifft und die globale Situation betrifft in dieser Region –, aber wenn sich keine Lösungen abzeichnen, glaube ich, dass die Bevölkerung – egal in welchem europäischen Land –, eben nicht mehr mitgeht bei diesen Einsätzen. Weil man sagt, also nochmal: Krieg ist kein Selbstzweck, im Gegenteil, vielleicht nährt Krieg den Krieg und man ist extrem auf dem Holzweg.
"Weg von dieser Abwärtsspirale"
Clement: Herr Wüstner, Weihnachten ist vorbei, aber wenn Sie für das Jahr 2016 beschreiben sollten, was Sie sich für die Bundeswehr wünschen, wo sollen wir heute in einem Jahr stehen aus Sicht des Berufsverbandes? Was wären sozusagen die Kern- und Hauptforderungen, die Sie da erheben würden?
Wüstner: Also, Erstens wünsche ich mir ein gutes und besseres Weißbuch als bisher, mit klar formulierten nationalen Interessen und dann auch eine Grundlage für eine Zukunft der Bundeswehr, was die Fähigkeiten betrifft und das im Idealfall parteipolitisch breit getragen, auch in der Gesellschaft. Der zweite Bereich ist, dass wir endlich wegkommen von diesen personellen und materiellen Lücken. Wir müssen weg von dieser Abwärtsspirale. Das hängt auch mit Psychologie zusammen, wenn es um Nachwuchs geht. Wer möchte schon Bekannten, Freunden oder den eigenen Kindern anraten, zu einer Organisation zu gehen, die sozusagen im Downsizing ist. Und der dritte Punkt ist, dass wir all die Dinge, die wir gerade mit Blick aufs Personal und Material jetzt angehen, auch tatsächlich umsetzen. Also nicht nur von Haltung sprechen und Verantwortung sprechen, sondern eben auch von Handlung. Das wäre mein Wunsch für 2016.
Clement: Herr Wüstner, ich bedanke mich für das Gespräch.
Wüstner: Danke ebenso, Herr Clement.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.