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Carl Haffners Liebe zum Unentschieden

Der Urgroßvater war ein wohlhabender Tuchhändler aus Königsberg. Der Großvater ein mittelmäßiger, aber erfolgreicher Komödienschreiber in Wien. Sein Vater ein Trinker und Stehgeiger in den Wiener Beiseln und Heurigen. Er selbst, Carl Haffner, spielte immer nur Schach und blieb immer nur Sohn. Fern vom Schachbrett kommt er nur bei seiner Mutter Maria, einer Toilettenfrau mit Herz, und bei seiner geliebten Halbschwester Lina, einer Klavierspielerin ohne Ehemann, zur Ruhe. Carl Haffner ist ein Schachgenie, weil er sich schon als Knabe aus der sozialen Welt verabschiedet und der künstlichen Welt der aristokratischen Figuren verschrieben hat. Er ist ein Besessener, der über das Spiel buchstäblich zu leben vergißt, der kaum spricht und kaum ißt, woran er schließlich auch zugrunde geht.

Hubert Winkels |
    Der erste Roman des sechsundzwanzigjährigen Steirers Thomas Glavinic erzählt nun von der Austragung einer Schachweltmeisterschaft im Jahre 1910 zwischen dem asketischen, bescheidenen, naiven Carl Haffner (Karl Schlechter heißt der Modell stehende historische Großmeister) und dem amtierenden Weltmeister und gebildeteten Weltbürger, dem klugen, berühmten, selbstbewußten Emanuel Lasker, dessen Name noch heute über die Schachwelt hinaus bekannt ist. Zehn Partien werden gespielt, fünf in Wien und fünf in Berlin. Die Öffentlichkeit nimmt regen Anteil, die Säle sind zum Bersten gefüllt, die Zeitungsberichte überschlagen sich, der Wettkampf nimmt immer dramatischere Züge an und endet trotz verräterischem Romantitel durchaus spannend.

    Es ist interessant zu sehen, was Thomas Glavinic aus dem teilweise historisch verbürgten Stoff macht. Man wirf den deutschsprachigen Schriftstellern gerne vor, sie verstiegen sich in extreme gedankliche Höhen, überanstrengten sich psychologisch, sprachlich und formal und gäben keinen Pfifferling auf rund erzählte Geschichten, deutlich konturiertes Personal und klare Handlung. Bei Thomas Glavinic ist es genau andersherum. Er hat seine Figuren und seine Geschichte so fest in der Hand und führt sie so sicher durch das tiefe Tal der vielfältigen literarischen Optionen, als ob er ein Urmuster des spannenden psychologischen Erzählens rekonstruieren wollte. Er hat alles, was zu einer klassischen Novelle gehört, versammelt, er hat einen übersichtlichen Ablaufplan, stark kontrastierende Figuren, eine überdeutliche Erzählabsicht, und er entledigt sich seiner Aufgabe stur und brav und schematisch wie ein Musterschüler, der all die Sperenzchen der modernistisch schlingernden Überflieger satt hat. Ich kann es wie die Alten, scheint er sagen zu wollen, ich kann schreiben wie einer aus der ´Welt von gestern´, und bei Stefan Zweig und seiner ´Schachnovelle´ habe ich gut aufgepaßt.

    Das erste Kapitel entfaltet die Wettkampfsituation und stellt den gehemmten, bescheidenen, herzensguten Carl Haffner und seine aufgekratzte, eitle, lebemännische Entourage vor. Die erzählte Zeit umfaßt mehr oder weniger einen Abend. Das zweite geht drei Generationen in der Familiengeschichte zurück und erzählt im Zeitraffer eine mit dramatischen Höhepunkten gespickte Saga mit K.u.K-Flair bis zur irdischen Ankunft des Helden. Und so klappert das Schema weiter zwischen Rückblenden in die Tiefe der Zeit und der Familienneurosen und dem tumultbegleiteten Wettkampfgeschehen hin und her. Schließlich vereinigen sich die Linien. Haffner hat nach vier Remis die fünfte Partie gewonnen, für die letzten fünf geht die Reise nach Berlin. Natürlich wird es spannend, die beiden letzten Partien entscheiden, aber will Haffner, der Liebhaber des Unentschieden, überhaupt Weltmeister werden? Kurz und kursorisch wird dann das elende Ende des nachgerade christlich selbstlosen Carl Haffners in den Zeiten des ersten Weltkriegs nachgetragen.

    Offenbar hat Glavinic bei Robert Schneider abgeschaut, wie man einen Außenseiter und Freak mit einer bizarren Spezialbegabung zum Helden stilisiert, indem man ihn den Durchschnittsmenschen mit ihrer Durchschnittsmoral entgegenstellt; nicht dagegen kämpfend, sondern einer anderen Kraft hörig. Schneider hat diese andere Kraft durch seinen sprachlichen Orgelsound wenigstens stilistisch zu inszenieren versucht. Glavinic hingegen, dessen sprachliche Mittel bieder bleiben, mit einem nur leicht antiquierten Zug, behauptet diese andere Kraft unentwegt und bringt eine Generationen- und Lebensgeschichte bei, die seinem Helden wie ein schwerer Sack auf der Schulter liegt, aber nie Teil von ihm wird. Man rätselt ein paar Minuten über seinen gelöschten Vaterbezug, über seine Schwesterliebe, über eine inzestuöse oder möglicherweise homosexuelle Disposition - aber es bleibt ein Stochern in dürren Daten der Vorgeschichte. Man überlegt, wie die Zeitgeschichte ins Schachspektakel hineinragt - wie im "Zauberberg" spielt die Handlung vor dem ersten Weltkrieg und das Ende ist von ihm geprägt -, aber es könnte alles auch früher oder später spielen. Haffners Gegner ist ein Jude, und tatsächlich meldet sich auch ein Antisemit zu Wort und fordert Haffner zum Ziehen des Königsbauern auf , er dürfe "sich auch keinesfalls mit Weiß des jüdischen Eröffnungszuges d4 bedienen", der typisch sei "für die feige jüdische Dekadenz", aber auch dieser ausgetretene (Stefan-Zweig)- Pfad entpuppt sich als Sackgasse. Zumal der Gegner, Emanuel Lasker, der immerhin als Gelehrter und Philosoph eine besonders schillernde und eben keine bloße Schach-Figur war, besonders blaß bleibt. (Und deswegen greift nicht einmal der zwischenzeitlich aufkeimende Verdacht, hier solle dem wendigen und windigem Kosmopoliten der bis zum Pathologischen verdichtete treuherzige Moralist entgegengestellt werden).

    Nein, des großen stillen Carl Haffners Geschichte kommt trotz allen nachgetragenen Familienwahns im Grunde nirgendwo her. Sie ist aus dem Willen geboren, eine Gestalt scheiternder Wahrhaftigkeit nach dem psychologischen Muster der Märtyrerlegende und der Erzähllogik der anachronistisch gewordenen realistischen Novelle zu konstruieren. Und sie führt nirgendwo hin, außer zur Enttäuschung des Lesers, der ahnt, daß Glavinic mit dem Stoff hätte mehr machen können, wenn er sich nicht schon mit den ersten Zügen, defensiv wie sein Held, in einer sicher geglaubten Stellung verbarrikadiert hätte.