Viele regen sich über die angebliche Regelwut der Europäischen Union auf. Der Ökotoxikologe Dr. Werner Brack vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig sieht aber durchaus Vorteile. Seit dem Jahr 2000 verpflichtet die Europäische Wasserrahmenrichtlinie die Mitgliedsstaaten zur Messung und Dokumentation der Chemikalienkonzentrationen in den Flüssen.
"Wir konnten jetzt zum ersten Mal auf diese Datenbanken zugreifen sozusagen und konnten uns wirklich auf einer europäischen Ebene angucken, welchen Einfluss, welches Risiko von Chemikalien auf die Gewässerqualität ausgeht."
Die Leipziger Forscher konnten Daten von über 4000 Messstellen und zu 223 Chemikalien auswerten: von Pestiziden über Flammschutzmittel bis hin zu polyzyklischen Aromaten aus der Petroleumindustrie. Die einzelnen Messwerte verglichen die Wissenschaftler dann mit Labordaten zur Giftigkeit der Stoffe für Fische, Algen und Wasserflöhe. So konnten sie grob den Einfluss der Chemikalien auf das Ökosystem Fluss abschätzen. Ergebnis: bei 14 Prozent der Gewässer in Europa ist mit akuten Problemen zu rechnen. Die längerfristigen Folgen dürften noch viel weiter verbreitert sein, meint Werner Brack.
"Etwa die Hälfte aller Fließgewässer ist tatsächlich mit Chemikalien-Konzentrationen belastet, die zu einer chronischen Toxizität gegenüber Organismen führen. Das heißt, das ist also mitnichten ein lokales Problem hinter irgendwelchen Industrieanlagen oder Kläranlagen, sondern das ist wirklich ein Europäisches Problem."
Rückgang empfindlicher Arten wahrscheinlich
Zumal die Studie die Effekte eher noch unterschätzt, weil sie keine Wechselwirkungen berücksichtigt und zu vielen Stoffen gar keine Messdaten vorliegen. Die Belastung ist also in jedem Fall viel weiter verbreitet, als lange gedacht. Was das konkret für die Flüsse bedeutet, ist weniger klar. Während es überall in Europa Messstellen für Chemikalien gibt, sind detaillierte Studien zur Artenverteilung nur selten flächendeckend verfügbar. Werner Brack und seine Kollegen konnten aber an 22 Flüssen in Frankreich, Chemikalienkonzentration und Artenspektrum vergleichen. Grob gesagt gilt: eine hohe Belastung schädigt tatsächlich das Ökosystem.
"In erster Linie findet da eine Verschiebung der Arten statt eben von empfindlichen Arten hin zu weniger empfindlichen Arten. Das ist aber nicht nur schlecht für die empfindlichen Arten. Man könnte ja sagen, 'na gut, wer nix aushält, hält nix aus', sondern das hat natürlich auch Konsequenzen dann für die Ökosystemfunktion, weil eben genau diese empfindlichen Arten bestimmte wichtige Funktionen im Ökosystem erfüllen, die sie natürlich nicht erfüllen können, wenn sie nicht mehr da sind."
Gefahr durch Pharmazeutika und Pestizide
So bauen gestresste Artengemeinschaften organisches Material schlechter ab, damit gehen wertvolle Nährstoffe verloren. Ein wichtiger Aspekt der Leipziger Studie ist die Bewertung verschiedener Chemikalienklassen. Besonders problematisch für Algen sind, wenig überraschend, Unkrautvernichtungsmittel, während Wasserflöhe unter Insektiziden leiden. Die sind auch ein Problem für Fische, die aber auch mit Pilzmitteln und organischen Zinnverbindungen zu kämpfen haben, die Bootsrümpfe vor Bewuchs schützen sollten.
"Etwa 80 bis 90 Prozent der Überschreitungen unserer Risikoschwellen kommen durch Pestizide. Und dann gibt es noch eine ganze Menge an anderen Stoffen, die dazuzukommen - bromierte Flammschutzmittel und Polycyclische-Aromatische-Kohlenwasserstoffe und so weiter."
Werner Brack fordert, die Kläranalgen zu verbessern und in der Landwirtschaft konsequent darauf zu achten, dass an Uferstreifen keinerlei Pestizide ausgebracht werden. Der Einsatz vieler problematischer Stoffe ist auch bereits verboten. Allerdings entwickelt die Industrie ständig neue Chemikalien. Um die Gewässer Europas künftig besser zu schützen, ist nach Ansicht von Werner Brack ein Umdenken erforderlich.
"Viele Stoffe müssten eigentlich gar nicht in die Kläranlagen gelangen, sondern müssten eigentlich dort bereits entzogen werden, wo sie hergestellt werden oder wo sie genutzt werden. Ich sag mal, ein gutes Rücknahmesystem für Pharmazeutika würde schon da einiges verhindern, was bisher noch im Abwasser landet."