Am 19. November finden in Chile Präsidentschaftswahlen statt. Michelle Bachelet kann nach zwei Amtszeiten nicht wiedergewählt werden. Sie hätte auch keine Chance, erneut ins höchste Staatsamt berufen zu werden, denn ihr Ansehen ist auf einen historischen Tiefstand gesunken.
Keine der von ihr angekündigten Reformen der Bildung, der Verfassung und des Rentensystems konnte sie realisieren. Der Konflikt mit dem indigenen Volk der Mapuche bleibt ungelöst. Es gelang ihr lediglich, das Abtreibungsgesetz, eines der frauenfeindlichsten der Welt, in wesentlichen Punkten zu verändern. Dafür sind in ihren Regierungsjahren Korruption, Gewalt und Kriminalität angestiegen.
Das Land wieder voranzubringen, hat Sebastián Piñera versprochen, der vorletzte Präsident und Vertreter der Rechten. Die politische und kulturelle Situation kurz vor den Wahlen erläutert der chilenische Schriftsteller Arturo Fontaine im Gespräch mit dem Publizisten Peter B. Schumann.
Peter B. Schumann: Es sind Wahlen in Lateinamerika. In Argentinien fanden wichtige Teilwahlen für Abgeordnetenhaus und Senat statt. Heute gibt es Präsidentschaftswahlen in Chile. Am vergangenen Sonntag hat der argentinische Schriftsteller Sergio Raimondi in diesem Programm eine kritische Bilanz gezogen. Heute will ich mit seinem chilenischen Kollegen Arturo Fontaine über die zweite Amtszeit von Michelle Bachelet und den möglicherweise bevorstehenden Regierungswechsel in Chile sprechen.
Wie Raimondi hat sich auch Arturo Fontaine durch sein Werk als ein besonderer Kenner der politischen Verhältnisse ausgewiesen. Er ist eine Ausnahmeerscheinung in der chilenischen Literatur, denn er stammt aus einer bekannten rechtskonservativen Familie und hat sich erst später zu einem 'liberalen Freigeist' entwickelt. Als erster Schriftsteller aus diesem Umfeld hat er in zwei Romanen kritischen Einblick in den Erziehungsprozess der rechten Elite und deren katholisch konservatives und autoritäres Denken geliefert. Außerdem hat er jahrelang das Umfrageinstitut Centro de Estudios Públicos geleitet, bis er wegen seiner kritischen Überzeugung entlassen wurde.
Präsidentin Michelle Bachelet trat ihre zweite Amtszeit mit einem großen Reformprogramm an. Sie wollte unter anderem das Bildungswesen, das Steuersystem, das Arbeitsrecht und die Verfassung ändern und damit viele von der Diktatur überkommene Strukturen beseitigen. Sie glaubte, durch ihre Popularität von 58 Prozent wäre das zu schaffen. Jetzt hat sie nur noch ca. 23 Prozent Zustimmung. Arturo Fontaine, war ihr Reformprogramm zu ambitioniert?
Arturo Fontaine: Ich glaube nicht. In beiden Kammern des Parlaments hat die Mehrheit dafür gestimmt, und Präsidentin Bachelet besaß wie gesagt damals eine enorme Popularität. Dennoch konnte diese Regierung ihre wesentlichen Ideen nicht in vernünftige Projekte umsetzen. Die Bevölkerung distanzierte sich allmählich von den Projekten und von der Regierung. Heute ist die große Mehrheit gegen diese Reformpolitik.
Verfehlte Steuer- und Bildungsreform
Schumann: Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Fontaine: Das Schlimmste war die Abschaffung von Anreizen für Investitionen innerhalb einer großen Steuerreform. Dadurch haben die Unternehmen sehr viel weniger investiert, was dazu führte, dass das Wirtschaftswachstum auf 1,5 Prozent sank, was für ein Land wie Chile äußerst niedrig und in allen Bereichen zu spüren ist. Hinzu kam allerdings noch der niedrige Kupferpreis. Das heißt: Die Steuerreform wirkte sich negativ aus.
Schumann: Nun hätte doch Michelle Bachelet bei der Bildungsreform punkten können.
Fontaine: Das chilenische Bildungssystem ist völlig anders als das deutsche. Es gleicht eher dem in Holland. 73 Prozent der Schüler gehen auf vom Staat finanzierte Schulen. 27 Prozent auf Privatschulen. Die 73 Prozent können wählen zwischen den kostenlosen öffentlichen Schulen und privaten Schulen, die vom Staat finanziert werden und zusätzlich eine Schulgebühr verlangen. Viele, die es sich leisten können, wollen auf diese vom Staat geförderten Privatschulen gehen, weil sie einfach besser sind. Die Regierung erließ eine Serie von Reglementierungen und schuf zum Beispiel die Auswahl an den staatlichen Schulen besonderer Qualität ab. Diese boten eine Aufstiegsmöglichkeit in die Führungsschicht. Durch den Wegfall des Auswahlverfahrens hat sich das Niveau des an Qualität orientierten Teils des öffentlichen Schulsystems gesenkt, der sich besonders um mittellose, aber sehr begabte Schüler kümmerte.
Schumann: Sind das Eliteschulen, für die das Verfahren nicht mehr gilt?
Fontaine: Es sind staatliche Eliteschulen, die zum Beispiel Ex-Präsident Ricardo Lagos besuchte und Michelle Bachelet sowie Antonio Skármeta. Schulen der Mittelschicht.
Schumann: Stand dahinter vielleicht ein demokratischer Gedanke, nur wurden die Folgen nicht ausreichend bedacht?
Fontaine: Ja, und deshalb haben die großen, traditionellen Oberschulen in Chile nach dem Wegfall der Auswahl an Bedeutung, an Prestige verloren. Es war ein Schlag gegen das öffentliche Schulsystem. Heute nehmen sehr viel weniger Schulabgänger aus diesem System an den Aufnahmeprüfungen der Universitäten teil. Die Regierung hat nichts getan, um das öffentliche Schulwesen nachhaltig zu verbessern. Sie fördert indirekt die vom Staat finanzierten Privatschulen.
Schumann: Nun sind die Probleme im chilenischen Bildungswesen nicht neu. Sie haben die Präsidentin bereits in ihrer ersten Amtszeit beschäftigt. Ich erinnere mich noch an die Schulbesetzungen 2006 durch Oberschüler und an die späteren Massendemonstrationen der Studenten für ein kostenloses Studium. Was nun während ihrer zweiten Amtszeit in diesem Bereich geschehen ist, das ist ja wohl ein Rückschritt.
Fontaine: Die von ihr intendierte Bildungsreform hat das öffentliche Schulsystem beschädigt. Und die vom Staat finanzierten Privatschulen regen sich auf, weil ihnen viele neue Reglementierungen und noch mehr Bürokratie auferlegt wurden. Auch die anderen Reformen haben nicht den erhofften Effekt gehabt. Nicht einmal die eigentlich attraktive Arbeitsreform, denn sie sollte die Rolle der Gewerkschaften stärken. Die Reformen haben die Betroffenen nicht überzeugt und letztlich der Popularität der Präsidentin geschadet.
"Orthodoxe" kommunistische Partei in der Regierung
Schumann: Dennoch erstaunt mich diese Entwicklung. Heute stellt ja nicht mehr die Concertación die Regierung, ein Mitte-Links-Bündnis, sondern die Nueva Mayoría, die "Neue Mehrheit", eine Allianz eher linker Parteien, in der auch die Kommunisten vertreten sind. Und dennoch funktioniert alles noch schlechter.
Fontaine: Gerade die Beteiligung der Kommunistischen Partei an der Regierung hatte negative Auswirkungen. Das ist eine sehr orthodoxe Partei, die Margot Honecker stets wie eine Heldin gefeiert und die DDR bis zuletzt verteidigt hat. Obwohl sie relativ klein ist, beeinflusst sie doch viele Entscheidungen. Diese zweite Bachelet-Regierung ist im Übrigen völlig anders als die erste, die eine moderate sozialdemokratische Linie vertrat. Die Richtung der jetzigen Regierung ist nicht wirklich definiert. Sie besteht aus einem sozialdemokratischen Flügel und Einflüssen der unabhängig von ihr agierenden Frente Amplio, die der spanischen Podemos sehr ähnlich ist.
Schumann: Wieso hat die Frente Amplio so viel Einfluss? Ist sie wirklich eine ernst zu nehmende Kraft?
Fontaine: Ja, lange Zeit lag die Kandidatin der Frente Amplio, Beatriz Sánchez, gleichauf mit Alejandro Gillier, dem Kandidaten der Nueva Mayoría. Es ist eine Situation ganz ähnlich jener in Spanien. Eine gespaltene Linke, die ein nicht klar definiertes Programm vertritt, und eine Frente Amplio, von der man nicht genau weiß, was sie will. Nur so viel ist klar: Sie lehnt die Sozialdemokratie völlig ab und auch alle von ihr bewirkten Errungenschaften wie die Marktwirtschaft. Sie will etwas völlig anderes, es ist nur nicht klar, was sie will, darüber gibt es heftige interne Auseinandersetzungen. Doch Ideen von ihr haben einen Teil des Regierungsbündnisses der Nueva Mayoría sehr beeinflusst. Als beispielsweise Ricardo Lagos als Präsidentschaftskandidat der Nueva Mayoría antreten wollte, wurde er abgelehnt, weil seine Position in der Partei nicht mehrheitsfähig war.
Schumann: Ist die Frente Amplio das Sammelbecken des Misstrauens gegenüber der Regierung von Michelle Bachelet?
Fontaine: Teilweise schon, aber die Rechten lehnen sie natürlich noch viel mehr ab. Die Frente Amplio kanalisiert jedoch vor allem die Unzufriedenheit mit der ökonomischen Entwicklung und mit dem Zustand der chilenischen Gesellschaft. Es ist eine Gruppe von Leuten der linken Elite, meist aus dem Hochschulbereich, die das Unbehagen verkörpert, der radikalste Teil der Unzufriedenen.
Verdienste der Regierung Piñeras
Schumann: 2006 gab es Kommunalwahlen in Chile. Deren Ergebnis hat mich etwas irritiert: Einerseits gab es eine Wahlenthaltung von 65 Prozent und andererseits den Sieg der Rechten Chile Vamos - Vorwärt Chile. Steht die Rechte wieder ante portas, obwohl die letzte Regierung Piñera doch eher gescheitert ist?
Fontaine: Sie ist nicht wirklich gescheitert. Er hat wichtige Dinge erreicht, vor allem verglichen mit dem Ergebnis der zweiten Regierung Bachelet. Ich denke nur an die wirtschaftliche Entwicklung. Chile ist eine Gesellschaft der Mittelschicht und diese Menschen wollen Arbeitssicherheit, sicheren Lebensstandard, eine gute Erziehung für ihre Kinder, keine Kriminalität. Sie wollen vor allem niemanden, der das System abschaffen und durch ein neues ersetzen will, das niemand kennt. Der Reichtum soll gerechter verteilt werden, und ihre Kinder sollen bessere Aufstiegschancen erhalten. Wir dürfen nicht vergessen: Eine große Mehrheit der Chilenen liebt den Konsum und hat in Piñeras Regierungszeit gesehen, dass die Arbeitsmöglichkeiten gestiegen sind, dass die Armut gesunken ist und dass sich das Leben vieler verbessert hat. Es gab zwar ein dramatisches Problem mit den Hochschulen, aber seine Bilanz war positiver als die der aktuellen Regierung.
Schumann: Bietet Piñera also einen Ausweg aus der Krise?
Fontaine: Er verkörpert etwas sehr Wichtiges: den Willen vieler Leute, vorwärts zu kommen, vor allem bei jenen Chilenen, die gerade die Armut hinter sich gelassen haben und jetzt Gefahr laufen, dorthin zurückzufallen. Denn in den letzten Jahren ist die Anzahl prekärer, informeller Beschäftigungen wieder enorm angestiegen. Das stürzt die Leute in Ungewissheit. Nur der Staat hat neue Arbeitsplätze geschaffen, doch das hat nichts mit Wirtschaftsdynamik zu tun. Für viele ist Piñera ein Machertyp und er versteht wirklich was von Wirtschaft. Er glaubt an die Zukunft, ist sehr energisch und verbreitet den Eindruck, er könne die Dinge voran bringen. Er hat zwar kein politisches Charisma und ist in der politischen Klasse nicht besonders angesehen. Aber wenn er gewinnt, dann wird er nach Michelle Bachelet und Arturo Alessandri erst der dritte Präsident in der chilenischen Geschichte sein, der ins Amt zurückkehrt. Das ist beachtlich. Wenn es Bachelet gelungen wäre, den Erfolg ihrer ersten Regierung zu wiederholen, dann hätte Piñera wohl keinen Spielraum gehabt.
Präsidentin stürzt über ihren Sohn
Schumann: Zu den Problemen der Präsidentin und ihrer Regierung gehört die Korruption. Sie hat auch Piñera während seiner Amtszeit zu schaffen gemacht. Doch Bachelet war durch ihren Sohn Sebastián Dávalos davon persönlich betroffen.
Fontaine: Das war das schlimmste Problem, viel schlimmer als die negativen Auswirkungen der Bildungs- oder der Steuerreform. Das hat sie wirklich viel Prestige gekostet. Dabei geht es gar nicht so sehr ums Geld. Ihre Schwiegertochter wollte von einer Privatbank einen Kredit für ein Stück Land haben, denn sie hoffte darauf, dass dessen Wert sich durch politische Entscheidungen wesentlich steigern würde. Ein Spekulationsgeschäft mit landwirtschaftlichen Flächen, die zur Bebauung freigegeben werden sollten. Der Betrag war nicht riesig und wurde längst zurückgezahlt. Doch bei dem Gespräch mit dem Bankdirektor war auch ihr Mann, der Sohn der Präsidentin, dabei und wies auf seinen politischen Einfluss hin, denn unter normalen Umständen hätte sie den Kredit wegen fehlender Sicherheit wohl nicht bekommen.
Schumann: Das ist zwar ein klares Fehlverhalten. Aber rechtfertigt es einen derartigen Skandal?
Fontaine: Ihren Sohn hatte die Präsidentin in die Moneda, in die Regierung geholt. Er sollte dort die Funktion ausüben, die normalerweise einer First Lady des Regierungschefs zusteht. Da sie zu dem Zeitpunkt nicht mehr verheiratet war, ernannte sie ihren Sohn für diese Aufgabe. Das ist eine Rolle mit vielen Auftrittsmöglichkeiten und dem Vorsitz über diverse Stiftungen… Er übte also eine hohe politische Funktion aus und wurde vom Staat dafür bezahlt. Als die Geschichte mit dem Bankkredit bekannt wurde, war sie gerade im Urlaub und es dauerte ewig, bis sie endlich reagierte und dieses Verhalten verurteilte. Diese Verzögerung nahm man ihr besonders übel, obwohl sie sich distanziert hat. Der Sohn trat zurück und zog aus der Moneda aus. Dieser Fall war der stärkste Schlag gegen ihr Ansehen und davon hat sie sich nie wieder erholt.
Schumann: Ich verstehe noch immer nicht ganz, warum diese Geschichte eine derartige Auswirkung hatte. Michelle Bachelet ist ja keine Heilige.
Fontaine: Sie ist jedoch meiner Meinung nach ein Phänomen, das sehr viel mit der chilenischen Gesellschaft zu tun hat. Sie hat die Folgen des Militärputsches am eigenen Leib erlitten. Ihr Vater, ein hoher General und einer der wenigen Gefolgsleute Allendes, ist unter der Folter gestorben. Ihre Mutter hat sich ihr ganzes Leben lang für den Sozialismus und die Sozialistische Partei eingesetzt. Michelle Bachelet wurde ebenfalls verhaftet und gefoltert. Sie ging ins Exil, in die DDR. Sie hat eine Zeit großen Leidens erlebt. Als sie zurückkehrte, nahm sie jedoch keine Haltung des Ressentiments ein, sondern entschied sich für die Hoffnung. Das macht einen wichtigen Teil ihres Charismas aus. Sie negiert die Vergangenheit nicht, im Gegenteil: Sie hat das Memorial, das große Museum der Erinnerung und der Menschenrechte, in Santiago errichten lassen. Sie strahlt Vertrauen in die Zukunft aus. Und besaß eine ganz unmittelbare Verbindung zu den Menschen. Und die geht in die Brüche, als ihr eigener Sohn, den sie an ihre Seite geholt hatte, in dieser Position etwas Unkorrektes macht.
Kuriose Parteifinanzierung
Schumann: Arturo Fontaine, lassen sie uns noch einmal auf die Korruption zurückkommen, denn es gibt nicht nur diesen Fall, sondern einen weiteren, der ein besonderes Licht auf die Usancen in der chilenischen Gesellschaft wirft: die Parteienfinanzierung.
Fontaine: Das Problem betrifft nicht nur die Regierung, sondern alle Parteien. Sie finanzieren sich durch Belege für nicht geleistete Arbeit - wie in Frankreich. Und so läuft das Geschäft in Chile: Wer einen Politiker unterstützen will, der mietet beispielsweise ein Studio, das gar nicht existiert. Das taucht jedoch in seiner Buchhaltung auf, das Geld kommt dem Politiker zugute. Das ist in allen Parteien gang und gäbe, nur diesmal wurde es während der Wahlkampagne von Präsidentin Bachelet öffentlich gemacht. Im Unterschied zu den Fällen, die es bei der Rechten gab, wurde ihre Kampagne sogar von Vertretern der Rechten finanziert und zwar von bekannten Unternehmern, die sich dadurch Vorteile erhofften. Der Hauptfinanzier Bachelets war kein Geringerer als Julio Ponce, ein ehemaliger Schwiegersohn Pinochets. Ein befreundeter Abgeordneter der Sozialistischen Partei sagte mir: "Dass diese rechten Mumien auf diese Weise ihre eigenen Politiker finanzieren, ist schon schlimm genug, denn es ist illegal. Wenn jedoch ein Schwiegersohn Pinochets unsere Leute und die Kampagne Bachelets finanziert, dann ist das schon ein starkes Stück." Ich glaube nicht, dass Ponce das Programm beeinflusst hat, aber dass die Partei das überhaupt akzeptierte, ist ungeheuerlich und hat dem Ansehen der Präsidentin, die davon nichts gewusst haben will, zusätzlich geschadet.
Schumann: Kann man sagen, das 'chilenische Modell' ist am Ende: das Modell der Absprachen, des Weichspülens von Positionen, des unendlichen Interessenausgleichs?
Fontaine: Ich glaube nicht, aber wir müssen abwarten, wie sich die kommende Regierung verhält. Andererseits basiert Demokratie auf Ausgleich, auf Absprachen, auf Positionen, die sich durchsetzen oder aufgegeben werden müssen. Ohne diese Flexibilität kommen keine Gesetze zustande, schon gar nicht in einem Präsidialsystem wie dem unseren.
Schumann: Was geschieht in der Rechten? Früher gab es dort große Meinungsverschiedenheiten, Widersprüche zwischen den Parteien der Rechten.
Fontaine: Sie haben viel weniger Probleme als die Linken. Die Rechten machen einen ziemlich geschlossenen Eindruck. Es gibt persönliche Konflikte und Leute mit sehr konservativen moralischen Prinzipien, jedoch auch andere. Aber sie erreichen bei weitem nicht die Tragweite wie die Identitätskrise bei der Linken. Und wir dürfen nicht vergessen: Das Mitte-Links-Bündnis der Concertación wurde vor allem durch den Kampf gegen Pinochet zusammengehalten. Als er beendet war, brachen viele interne Konflikte auf, bei den Christdemokraten wie bei den Sozialisten. Außerdem gibt es einen Generationskonflikt: Die Jungen setzen auf innere Reformen und wollen mit den Alten nichts mehr zu tun haben. Es gibt sogar Gruppierungen, die nichts von einer gemeinsamen Vision halten.
Piñera - "eine Figur jenseits von Gut und Böse"
Schumann: Es existiert also keine wirklich starke, politische Alternative zur linken Regierung, mit Ausnahme der Rechten.
Fontaine: Ja, das ist zumindest mein Eindruck, und das bestätigen auch die Umfragen. Die Linke ist orientierungslos. Ein Beispiel: Die Regierung bereitet ein neues Hochschulgesetz vor. Und postwendend wird es von den staatlichen Hochschulen abgelehnt, obwohl die meisten Rektoren Parteigänger der Nueva Mayoría sind. Es gibt zahllose solcher internen Spannungen, bei welchem Thema auch immer. Das ist ein Bündnis, das noch nicht zu sich selbst gefunden hat.
Schumann: Und das jetzt vor dem Aus steht. Welch ein Glück für Piñera.
Fontaine: Er rechnete damit, dass die eigene Linke das Renommee der Regierung beschädigen würde. Angesichts der inneren Konflikte erschien Piñera vielen Chilenen als eine Figur jenseits von Gut und Böse, was er sehr geschickt ausgenutzt hat. Bei seiner ersten Wahlkampagne Anfang dieses Jahrzehnts war für ihn alles sehr viel schwieriger, denn er musste gegen eine wirtschaftlich erfolgreiche Regierung gewinnen. Jetzt musste er gegen eine erfolglose Regierung antreten und das war für ihn ein großer Vorteil.
Schumann: Die Aufarbeitung der Vergangenheit - das war lange Zeit ein wichtiges Thema in der chilenischen Politik. Denn Chile ist eines der wenigen Länder in Lateinamerika, das in dieser mit vielen Problemen belasteten Materie sehr große Fortschritte gemacht hat.
Fontaine: Ja, das ist richtig. Wir setzen uns damit sehr intensiv auseinander. Das Museum der Erinnerung ist ein emblematisches Beispiel hierfür. Aber es gibt nach wie vor offene Fragen. Viele Verfahren gegen Schuldige sind noch immer nicht abgeschlossen. Andererseits wurden viele Militärs verurteilt. Die chilenische Gesellschaft ist heute für Auseinandersetzungen mit diesem Thema sehr viel aufgeschlossener. Auch die Medien haben das Ihre zu einer allgemeinen Bewusstwerdung beigetragen. Die jetzige Situation ist ganz anders als vor zehn Jahren. Die Leute reagieren sehr sensibel auf jede Verletzung der Menschenrechte. Das gilt übrigens auch für die Jugend und ihre Verhältnis zu diesem Thema und zu Pinochet.
Schumann: Die Militärs - wie verhalten die sich? Es hat einige einschneidende Reformen gegeben. Hat man sie zufrieden gestellt und beispielsweise gut versorgt?
Fontaine: Es gibt ein paar wunde Punkte, zum Beispiel die Frage der Finanzierung des Militärbudgets. Es ist an die staatlichen Gewinne aus dem Kupferexport gekoppelt und der Kupferpreis ist stark gefallen. Über dieses Finanzierungssystem wird heftig gestritten, denn die Militärs sind an hohe Gewinne gewöhnt. Wenn sie geringer werden, dann schwinden auch ihre Einkünfte.
Schumann: Gibt es beim Militär auch Fälle von Korruption?
Fontaine: Es gab einige für Chile erstaunliche Fälle bei den Carabineros, aber auch bei den Militärs. Die Korruption findet auf verschiedenen Ebenen statt: in der Politik, bei den Militärs, bei der Polizei und bei den Unternehmern.
Die schwierige Rolle der Mapuche-Indianer
Schumann: Chile ist auch längst nicht mehr der Musterknabe, als der es lange Zeit in Deutschland angesehen wurde. Und ungelöst ist noch immer ein Problem, das mir für das Selbstverständnis von Chile sehr wichtig erscheint und mit dem Sie sich als Leiter des Centro de Estudios Públicos ausführlich auseinandergesetzt haben: die Situation der Mapuche, der Ureinwohner im Süden des Landes. Jetzt wird ein neues Gesetz diskutiert, das die Schaffung eines neuen Ministeriums für indigene Fragen vorsieht.
Fontaine: Ich halte die Idee, jedes Mal ein neues Ministerium zu gründen, wenn es ein neues Problem gibt, eher für Marketing als für etwas Richtungsweisendes. Die Frage hat sich allerdings in den letzten Jahren zugespitzt, denn die Aktivitäten der Mapuche gegen die Regierungspolitik haben sich verstärkt. Und das hängt nicht zuletzt mit der weltweiten Zunahme des Bewusstseins für indigene Probleme zusammen. Bei uns gibt es verschiedene Aspekte: die Gewalt auf allen Seiten, die Diskriminierung und vor allem die ungeheure Armut, denn ihr Siedlungsgebiet, die Araucanía, ist eine der ärmsten Gegenden Chiles. Dann geht es um die kulturelle Anerkennung. Ihre Sprache, das Mapudungun, das von ungefähr 80.000 Indigenen gesprochen wird, wird nicht ausreichend gelehrt, denn es gibt zu wenig Lehrkräfte. Dann gibt es das Problem der verfassungsmäßigen Anerkennung: Sie wollen als eigenes Volk Bestandteil der chilenischen Nation werden. Bis jetzt gelten sie als Chilenen wie alle anderen. Es ist ein wirklich komplexes Thema, für das niemand bisher die angemessene Antwort gefunden hat.
Schumann: Sprechen wir mal über ein positives Ergebnis der Regierung Bachelet: das neue Abtreibungsgesetz. Bisher besaß Chile eines der reaktionärsten Gesetze der Welt: Abtreibung war praktisch verboten.
Fontaine: Auch dies ist kein Gesetz allgemeiner Abtreibung. Es ist sehr vorsichtig formuliert und ein erster Schritt der Öffnung des Gesetzes, dem später weitere folgen können. Es erlaubt Abtreibung lediglich in drei Fällen: bei Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben der Mutter und wenn der Fötus nicht überlebensfähig ist. Es war in der chilenischen Gesellschaft sehr umstritten, viele waren dagegen.
Schumann: Wie beispielsweise die katholische Kirche.
Fontaine: Die katholische Kirche und die Evangelikalen. Sie erreichen inzwischen 20 Prozent der Gesellschaft, vor allem in den unteren Schichten. Sie sind die härtesten Gegner und haben beispielsweise Michelle Bachelet am Nationalfeiertag bei ihrem jährlichen Te Deum beleidigt. Alle Pastoren haben das Gesetz und die Präsidentin bekämpft. In diesen Kreisen besitzt sie heute nicht das geringste Ansehen mehr. Und sie sind sehr gut organisiert.
Evangelikale als gesellschaftlich-politischer Faktor
Schumann: Haben sie - wie in Brasilien - auch politischen Einfluss?
Fontaine: Noch nicht, aber sie gewinnen ihn allmählich. Denn Ihre Anhänger sind sehr motiviert und gehen mehrfach in der Woche in die Kirche. Sie sind entschiedene Gegner des Alkohols und eine wirkliche Barriere gegen den Alkoholismus. Sie haben auch die Rollenverteilung in der Familie verändert. Der Mann respektiert seine Frau sehr, arbeitet im Haushalt mit und vertritt insofern eine modernere Auffassung von Familie. Auch ist er treu und kümmert sich um die Erziehung der Kinder. Außerdem sind die Evangelikalen sehr sparsam und stellen heute einen sehr wichtigen Faktor in diesem unteren Teil der chilenischen Gesellschaft dar.
Schumann: Und stimmen für die Rechte?
Fontaine: Das werden wir sehen. Es ist sehr gut möglich. So etwas hat es jedenfalls bisher nicht gegeben, denn sie waren früher zerstritten. Aber sie haben sich in diesem Te Deum erstmals als ein einheitlicher Machtfaktor gezeigt. Dabei sind sie sehr geschickt vorgegangen, haben als Redner einen berühmten Pastor aus den USA eingeladen, der erstmal 60.000 Bibeln kostenlos verteilen ließ. Bei seiner Ansprache hat er sich zwar nicht zur Innenpolitik geäußert, jedoch etwas politisch Bemerkenswertes gemacht: Er hat die Leute aufgefordert, zur Wahl zu gehen. So etwas ist sehr wichtig, denn bei den Kommunalwahlen war die Stimmenthaltung sehr hoch. Piñera hatte nämlich während seiner Amtszeit den Wahlzwang abgeschafft. Das hat auch dazu geführt, dass Minderheiten wie die Evangelikalen an Gewicht gewonnen haben, denn sie sind leicht zu mobilisieren, ihre Stimme abzugeben.
Schumann: Fassen wir zusammen, Arturo Fontaine. Die Linke hat abgewirtschaftet. Es gibt einen Generationenkonflikt. Sie ist zerstritten und hat sich durch ihre inneren Querelen als unfähig erwiesen, eine ambitionierte Reformagenda in praktische Politik umzusetzen. Sie hatte durch ihre Mehrheiten die Möglichkeit, Chile voranzubringen und diese einmalige Chance vertan. Sehr wahrscheinlich wird heute erneut die Rechte an die Macht kommen, was nicht nötig gewesen wäre, wenn die progressiven Kräfte nicht versagt hätten. Nun kommt also mit Sebastián Piñera erneut ein Unternehmer an die Regierung und soll das Land aus der Krise führen.
Fontaine: Ich glaube nicht, das dieses Land wirklich in der Krise ist. Wir haben ein schwaches Wirtschaftswachstum. Es gibt Fehlentwicklungen, gravierende Probleme, Unzufriedenheit in bestimmten Bereichen. Aber ich sehe nicht, wieso dieses Land einen Retter aus einer Krise brauchen sollte. Und Piñera ist das auch nicht. Er ist einer der reichsten Unternehmer Chiles, und was viele Chilenen beeindruckt: Im Gegensatz zu den meisten anderen Milliardären hat er seinen Reichtum allein geschaffen. Ihm wurden zwar immer wieder unsaubere Geschäfte unterstellt, aber bis heute gibt es keinen einzigen Beweis dafür. Er hat alle Verfahren gewonnen. Ökonomische oder politische Umbrüche sind von ihm nicht zu erwarten. Jedenfalls deuten bisher keine Anzeichen daraufhin. Er gilt als ein Machertyp und das überzeugt viele. Und nun kann er zum zweiten Mal Präsident werden, was in der chilenischen Geschichte völlig ungewöhnlich ist.