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Christian Lindner
"Deutschland ist isoliert"

Die "Alleingänge" von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingspolitik erschweren eine gemeinsame europäische Lösung, sagte FDP-Chef Christian Lindner im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Er warnte, dass "das europäische Projekt doch erodiert", wenn etwa Polen sich nicht an der Lösung der Flüchtlingskrise beteilige, aber "deutliche Zahlungen von Brüssel" erhalte.

Christian Lindner im Gespräch mit Klaus Remme | 17.01.2016
    Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner.
    r FDP-Vorsitzende Christian Lindner warnt im DLF vor einer Isolation Deutschlands in Europa. (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Klaus Remme: Herr Lindner, das neue Jahr begann ab Minute eins eigentlich mit schlechten Nachrichten. Seitdem beherrschen die Themen "Innere Sicherheit", "Flüchtlingszahlen" und "Terrorgefahren" die politische Diskussion. Kaum ein Tag vergeht ohne Meldungen, wie die Bildung von Bürgerwehren, Anträge auf Waffenscheine, Flüchtlinge, die vor das Kanzleramt – ja, was? – gekarrt werden. Was geschieht hier im Moment in diesem Land?
    Christian Lindner: Ich sage, was geschehen sollte, nämlich, dass wir die Fassung bewahren und die Verfassung bewahren. Der Rechtsstaat muss gestärkt werden, das Recht muss durchgesetzt werden. Das ist die Grundlage dafür, dass wir unsere Freiheit ohne Angst leben können. Unsere Sicherheitsbehörden haben nicht das Problem, dass sie zu wenig dürfen, dass man also jetzt weitere Grundrechtseingriffe bräuchte. Unsere Sicherheitsbehörden haben das Problem, dass sie zu wenig können, weil bei Polizei und Justiz in den vergangenen Jahren doch stark gespart wurde, weil dort auch Stellen abgebaut worden sind.
    Remme: Aber, wenn Sie an die Stimmung im Land denken – darauf wollte ich eigentlich hinaus –, die Stimmung und die Symbolhandlungen, die so etwas dann zur Folge hat, haben Sie das Gefühl, dass hier etwas Grundsätzliches kippt?
    Lindner: Die Gefahr besteht. Es gibt eine Unsicherheit. Aber die Antwort darauf kann ja eben nicht, Herr Remme, eine Symbolhandlung sein. Mit Symbolhandlungen macht man Rechtspopulisten groß, mit Problemlösungen macht man sie wieder klein. Und deshalb sage ich ja gerade: Wenn der Staat in den vergangenen Jahren immer größer geworden ist, aber vor allen Dingen im Bereich Bürokratie, Subventionen, Umverteilung und in seinen Kernbereichen – Polizei, Justiz, auch Infrastruktur und Bildung – schlechter geworden ist, dann muss sich etwas verändern, damit das Vertrauen in unsere staatliche Ordnung weiter erhalten bleibt.
    "Gegen jede Form von Verdruckstheit"
    Remme: Über Köln ist viel, vielleicht schon zu viel gesprochen worden – ich will das kurz machen, Herr Lindner. Sie sagten Mittwoch im Landtag, die Silvesternacht in Köln habe ein ganzes Land traumatisiert. Beteiligen Sie sich durch diese Wortwahl nicht selbst daran, die Hysterie, die ich eben andeutete, zu schüren?
    Lindner: Nein, das ist eine Tatsachenbeschreibung. Sie selber haben ja gerade auch darauf hingewiesen, dass es einen gewissen Prozess der Aufrüstung gegenwärtig gibt. Das muss doch ausgesprochen werden – ich bin gegen jede Form von Verdruckstheit. Nur, mein Ziel ist es nicht, Ängste zu schüren, sondern den Menschen Ängste zu nehmen, indem der Staat wieder handlungsfähig gemacht wird. Eben, in diesem hoheitlichen Kernbereich, indem Gesetzen wieder Geltung verschafft wird und indem wir an die mit der Silvesternacht zusammenhängenden Ängste und Probleme rangehen, nämlich, dass Deutschland durch die gegenwärtige Flüchtlingslage systematisch überfordert sein könnte. Das ist ebenfalls ja ein Grund dafür, dass in Deutschland die Stimmung gegenwärtig von hoher Nervosität gekennzeichnet ist. Das darf man nicht wegdrücken, das muss ausgesprochen werden und dann müssen Taten folgen.
    Remme: Ich frage mich nur, ob die Größenordnungen stimmen. Wenn Sie von einem traumatisierten Land reden, dann weiß ich nicht, wie wir es beschreiben wollen, wenn Deutschland – Gott behüte – mal einen schweren Terroranschlag zu verarbeiten hat.
    Lindner: Mit solchen Vergleichen kann man jedes Ereignis relativieren, das weiß man schon. Aber ich bleibe dabei, dass das Ereignis in Köln in der Silvesternacht – die hohe Anzahl von geschädigten Frauen, denen die Würde genommen ist von einer hohen Zahl von Tätern und die Polizei, die machtlos zuschaut –, dass das ein Zustand ist, der völlig inakzeptabel ist und den man nicht dadurch relativieren darf, indem man sich noch schlimmere Szenarien ausdenkt.
    Aufarbeitung nach Kölner Polizeieinsatz nötig
    Remme: Ralf Jäger, der NRW-Innenminister, bleibt im Amt. Ist die Bewältigung dieser Nacht in Köln von politischen Konsequenzen, wie einem Rücktritt in Düsseldorf, abhängig?
    Lindner: Nein, sondern von der Aufarbeitung möglicher struktureller Mängel in der nordrhein-westfälischen Polizei, die den Kontrollverlust des Silvesterabends begünstigt haben könnten. Also, gibt es so etwas beispielsweise wie einen vorauseilenden Gehorsam, dass die Polizei vor Ort Verstärkung gar nicht in ausreichendem Maße anfordert, weil man weiß: Der Dienstherr will Personaleinsatz eigentlich nicht – davon sprechen Gewerkschaftler. Gibt es Führungsfehler in der nordrhein-westfälischen Polizei. Also, all das muss aufgearbeitet werden, damit sich das nicht ein zweites Mal wiederholen kann.
    "Merkels Alleingänge erschweren gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik"
    Remme: Ich will noch einen Ihrer Sätze aus den vergangenen Tagen in Erinnerung rufen. Beim Dreikönigstreffen sagten Sie: "Angela Merkel hat den Kontinent ins Chaos gestürzt". Schon wieder so ein Satz bei dem ich mich frage: Geht es nicht eine Nummer kleiner?
    Lindner: Herr Remme, ich will mir kein Schweigegelübde auferlegen, hinsichtlich meiner Überzeugungen. Und ich glaube, dass die Entscheidungen der Frau Bundeskanzlerin aus dem vergangenen Jahr, ihre Alleingänge heute eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik erschweren. Ganz offensichtlich sind die Zustände auch nicht geordnet, wenn eine große Zahl von Menschen nach Deutschland einreisen kann, ohne dass ihre Identität festgestellt wird. Und wenn Asylverfahren so lange dauern, wie sie gegenwärtig Zeit beanspruchen, das ist für mich ein Zustand, der nicht mehr geordnet, sondern der chaotisch ist. Auch das spreche ich aus, zugleich mit einem Lösungsvorschlag, nämlich, einem endlich anderen modernen Einwanderungsrecht. Mit der Möglichkeit, Kriegsflüchtlingen einen nur vorübergehenden humanitären Schutz zu geben, mit der Perspektive der Ausreise dann, wenn dereinst die Heimat stabilisiert ist. Der Möglichkeit des dauerhaften Aufenthalts, orientiert an Kriterien, der Qualifikation und der Integrationsbereitschaft. Und vor allen Dingen ein Schutz der europäischen Außengrenzen. Diesen Schutz, diese Aufgabe kann man nicht den Griechen überlassen alleine.
    Remme: Kommen wir gleich im Einzelnen drauf.
    Lindner: Erst recht nicht Herrn Erdoğan.
    Schröder realistischer als Merkel
    Remme: Hätten Sie an diesem Septemberwochenende, als die Kanzlerin sich entschied, die Flüchtlinge ins Land zu lassen, anders gehandelt an ihrer Stelle?
    Lindner: Ich will mir die Position von ihrem Amtsvorgänger Gerhard Schröder zu eigen machen, der davon gesprochen hat, dass man dies klar als eine absolut einmalige Hilfsmaßnahme hätte kennzeichnen müssen und dass man nicht dauerhaft das Dublin-Abkommen hätte außer Kraft setzen dürfen. Ich glaube, dass Gerhard Schröder hier eine realistischere Einschätzung hat als die Frau Bundeskanzlerin.
    Remme: So, und seit dem Sommer zeigt die EU nun eklatante Schwächen – die haben aber doch nicht ursächlich mit Angela Merkel zu tun. Oder glauben Sie, Merkel hat die engen Grenzen der Solidarität von EU-Partnern, die wir jetzt sehen, erst herbeigeführt?
    "Deutschland ist isoliert"
    Lindner: Frau Merkel unternimmt den Versuch, unsere eigene deutsche, ethische Abwägung für alle in Europa für verbindlich zu erklären. Diese grenzenlose Aufnahmebereitschaft wird allerdings nicht geteilt, noch nicht einmal mehr vom sozialdemokratisch regierten und geprägten Schweden, von Dänemark nicht und auch von so gut wie allen anderen europäischen Partnern nicht. Und das ist für mich ein klares Indiz, dass Deutschland auf diesem Kontinent mit seinen Entscheidungen isoliert ist. Und für mich gilt die alte Tradition von Hans-Dietrich Genscher weiter: Wir wollen kein deutsches Europa, sondern wir wollen ein europäisches Deutschland sein. Diesem Anspruch genügen wir gegenwärtig nicht hinreichend.
    Remme: Das hätte man alles sehen können, sagten Sie in Bezug auf das Flüchtlingsdrama in Stuttgart. Das reicht zurück, weit hinter die letzte Bundestagswahl, zu Jahren, als auch die FDP Regierungsverantwortung trug. Die FDP hat es offenbar auch nicht kommen sehen.
    Aufarbeitung von Fehlern in Flüchtlingspolitik nicht nötig
    Lindner: Die FDP war zumindest vorsichtig bei Interventionen in Libyen, wie Sie sich erinnern. Das sind auch alles schwierige Abwägungen. Aber mit Sicherheit kann man sagen, dass die Entscheidung der Großen Koalition im Jahr 2014, die Beteiligung am Mare-Nostrum-Einsatz, also der Sicherung des Mittelmeers und der Hilfe dort, das einzustellen im Jahr 2014, wo es die Konflikte dort schon gab, dass diese Entscheidung spätestens falsch war. Für mich ist aber nicht entscheidend, wissen Sie, im Nachhinein jetzt aufzuarbeiten: Wer, was, wann, wie? Sondern für mich ist entscheidend: Wie geht es jetzt heute weiter? Jetzt im Januar 2016, ...
    Remme: Dann kommen wir auf den Januar, Herr Lindner.
    Lindner: ... und die Lage unter Kontrolle zu bekommen.
    Krise für Merkel "nicht sehr gefährlich"
    Remme: Die Zahlen gehen nicht zurück. Über 50.000 Asylbewerber seit Jahresbeginn, das wissen wir. Sie kennen die Diskussion in der Union, jetzt rumort es auch in der SPD. Wie gefährlich ist diese Krise für die Kanzlerschaft von Angela Merkel?
    Lindner: Nicht sehr gefährlich. Die CDU ist ja trotz allem noch vergleichsweise stark in den Umfragen. Die schlechte Laune in der Wählerschaft hat sich dort noch nicht bahngebrochen, weil viele ganz offensichtlich – auch mit Verantwortungsgefühl – nicht so eine Kraft wie die AfD starkmachen wollen. Und wir wollen sehen, wie sich das weiterentwickelt nach den drei Landtagswahlen vom 13. März. Bis dahin wird innerhalb der Großen Koalition jedenfalls nichts Signifikantes passieren, dessen bin ich mir sicher.
    "Wir brauchen keine weiteren Autokraten in Europa"
    Remme: Sie empfehlen jetzt dringend – das haben Sie eben ganz kurz angedeutet – die Außengrenzen der Europäischen Union zu schützen, gleichzeitig warnen Sie davor auf die Türkei, auf Erdoğan zu setzen. Wie geht das zusammen?
    Lindner: Wir brauchen keine weiteren Autokraten in Europa. Wir haben ja mit den polnischen und ungarischen Regierungen jetzt genug zu tun. Herr Erdoğan hat unlängst noch Hitler-Deutschland als ein Präsidialsystem verniedlicht. Auch viele andere seiner innenpolitischen Entscheidungen werfen große Fragen auf. Dass er jetzt zum Beitrittskandidaten befördert wird und zum Hoffnungsträger stilisiert wird, halte ich für falsch. Man muss mit der Türkei zusammenarbeiten – natürlich –, aber wir dürfen uns doch in der signifikanten Frage, der entscheidenden, wirklich entscheidenden Frage des Schutzes, der Souveränität der Außengrenzen unseres Staatenverbundes, nicht auf ihn, also auf eine andere Nation verlassen. Das ist im europäischen Interesse, dass wir unsere Rechtsstaatlichkeit, unseren Rechtsraum schützen und die Kontrolle zurückgewinnen, wen wir einladen oder wen wir aufnehmen aus humanitären Gründen. Und das ist eine ureigene europäische Aufgabe, die man lösen muss, indem wir jetzt sehr schnell eine mit hoheitlichen Befugnissen und personell hinreichend ausgestattete europäische Grenzpolizei bekommen. Denn Grenzen kann und muss man schützen.
    "Keine Abstriche bei Standards in Europa"
    Remme: Konkret: In dieser neuen Woche stehen deutsch-türkische Regierungskonsultationen an. Wir brauchen die Türken, heißt es allenthalben. Neben der Flüchtlingsproblematik kommt jetzt noch die Terrorbekämpfung hinzu – Stichwort: Istanbul. Was erwarten Sie denn bei diesen Konsultationen von der Kanzlerin? Was soll sie tun und was sollte sie auf jeden Fall vermeiden?
    Lindner: Sie sollte vermeiden, dass wir Abstriche bei unseren demokratischen, rechtsstaatlichen Standards in Europa machen. Es gibt klare Kriterien für den Beitritt in die Europäische Union, die sogenannten Kopenhagener Beitrittskriterien. Da geht es um offene Gesellschaften, marktwirtschaftliche Ordnung, aber eben sehr stark auch um Rechtsstaatlichkeit, um Bürger- und Menschenrechte. Daran kann es keinen Rabatt geben, weil sich sonst die Fliehkräfte in Europa vergrößern. Das muss Herr Erdoğan auch wissen, dass nicht in unserer Not, wegen der notwendigen und auch gewünschten Kooperation, in der Not wir Abstriche bei dem machen, was Europa ausmacht.
    "Europäisches Recht muss wieder aktiviert werden"
    Remme: Schutz der Außengrenzen, sagen Sie, also Frontex aufbauen. Welchen Unterschied macht es, Herr Lindner, ob wir schutzsuchende Menschen an der griechischen oder an der deutschen Grenze abweisen?
    Lindner: Das macht einen fundamentalen Unterschied, weil es um das europäische Recht geht. Nach dem europäischen Recht, die Dublin-Vereinbarung, ist eine Einreise von sicheren Drittstaaten nach Deutschland, um Asyl zu beantragen, nicht möglich. Das ist europäisches Recht, Herr Remme, und das muss wieder aktiviert, dass muss wieder auch in Deutschland geachtet werden.
    Remme: Sie fordern auch die europaweite Verteilung der Flüchtlinge. Sie sprechen mit Blick auf Polen und Ungarn von Autokraten, jetzt schon mehrfach auch in diesem Gespräch. Das geht ja alles, solange Sie außerparlamentarische Opposition sind, aber wie wird denn daraus Regierungspolitik?
    Lindner: Das war schon mal Regierungspolitik. Wenn wir uns daran erinnern, wie Europa mit der mindestens teilweise von den Rechtspopulisten mitgetragenen Regierungen in Österreich umgegangen ist, da gab es dann auch eine entsprechend kritische Ansprache. Ich bin froh, dass die Europäische Kommission mit Polen jetzt ähnliche Schritt prüft. Von unserer deutschen Bundesregierung haben wir nur diplomatisch beschwichtigende Höflichkeitsformeln gehört – das kann nicht sein.
    Remme: Der Unterschied ist aber, dass wir nicht in einer Situation waren, wo wir gleichzeitig von Österreich etwas höchst Kritisches für uns selbst wollten.
    Lindner: Europa kann nicht eine Union sein, die an einer fairen Lastenverteilung vorbeigeht. Polen ist ein Land, das seinen Platz in Europa natürlich hat, mit dem wir eng zusammenarbeiten wollen. Ich bin auch beeindruckt von den großen Fortschritten, die die polnische Gesellschaft in den vergangenen Jahren gemacht hat. Aber auch hier gilt das Gleiche, wie ich ja eben mit Blick auf den von Herrn Erdoğan gewünschten Beitrag zur Europäischen Union gesagt habe: Es gibt klare Standards und Werte, die müssen eingehalten werden, auch im Nachhinein, weil sonst das europäische Projekt doch erodiert, wenn man immer weiter seine Werte verwässert. Die Polen haben ein großes Interesse an Europa – müssen Sie haben –, weil sie doch deutliche Zahlungen von Brüssel erhalten. Sie haben ein Interesse an unserer Solidarität als NATO-Partner. Sie profitieren vom europäischen Binnenmarkt. Also muss auf der anderen Seite von ihnen auch erwartet werden können, dass sie im Rahmen ihrer wirtschaftlichen und demografischen Möglichkeiten sich auch einer Beteiligung einer solchen Flüchtlingskrise auch stellen.
    Remme: Ja, sollte man meinen.
    Lindner: So ist es.
    "EU-Fördermittel für Polen verrechnen"
    Remme: Aber das geschieht nicht. Was soll die Kanzlerin machen? Sanktionen gegen unsolidarische EU-Länder durchsetzen?
    Lindner: Ich halte es für möglich, dass man das in der Zukunft verrechnet mit Fördermitteln, die Polen von der europäischen Union bekommt. Denn Flüchtlingsunterbringung ist eben auch eine ökonomische Frage. Wenn ein Land sich nicht durch die Bereitstellung von Kapazitäten beteiligt, indem es Menschen aufnimmt, dann muss man eben an anderer Stelle einen Ausgleich schaffen.
    Remme: Was ist mit anderen Maßnahmen? Muss die Liste sogenannter "sicherer Herkunftsländer" erweitert werden?
    Lindner: Mit Sicherheit um einige nordafrikanische Staaten, wie Marokko, ja.
    Remme: Was ist mit Afghanistan?
    Lindner: Das ist eine Frage der Region dort. Das ist eine fachliche Einschätzung, die jetzt von der Bundesregierung vorgenommen werden muss. Es gibt auch einen Unterschied zwischen ganzen Staaten und einzelnen Regionen, befriedeten Zonen. Also insofern, hier ist eine präzise und genaue Untersuchung nötig, welche Region Afghanistans als sicher eingeschätzt ist, welche nicht.
    Remme: Unterm Strich, Herr Lindner, was bleibt, wenn die Verteilung der Flüchtlinge scheitert, die Fluchtursachen aber weiter andauern? Wann kommt der Punkt, an dem auch Sie sagen: 'Wir müssen die deutsche Grenze schützen'?
    Lindner: Diese Ultima Ratio wünsche ich mir nicht, denn damit sind sehr viele Abstriche an unserem täglichen Leben verbunden. Klar ist, wir müssen zum europäischen Recht zurückgehen. Und deshalb fordere ich die Bundeskanzlerin ja auch seit Wochen, seit Monaten fast, auf, ihre Politik zu korrigieren und allein schon das Signal auszusenden – auch an Menschen auf der Flucht –, dass wir ihnen dort helfen, wo sie jetzt sind, dass aber ihre Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland bitterlich enttäuscht werden könnten.
    Remme: Wie sollte dieses Signal aussehen?
    Lindner: Allein, dass die Bundeskanzlerin kommuniziert. Denn schon ihre Entscheidung vom 5. September, Selfies und anderes mehr, haben natürlich auch die Sogwirkung nach Deutschland erhöht. Hinzu kommt, dass wir ein Einwanderungsrecht haben, das de facto jedem, der nach Deutschland über die Grenze kommt, dauerhaften Aufenthalt garantiert, bei vergleichsweise hohen Sozialleistungen und hohen Hürden, für den eigenen Lebensunterhalt im Arbeitsmarkt Beitrag zu leisten. Und dieses System muss genauso verändert werden. Also, Kommunikation verändern, deutsches Recht verändern, europäisieren, in Europa europäisches Recht wieder anwenden, Außengrenze schützen und nicht die Augen vor der Not der Menschen in den Nachbarstaaten Syriens verschließen. Das ist ein Maßnahmepaket, das geeignet ist, die Zahlen auf ein Niveau zu reduzieren, das verkraftbar ist für Europa und Deutschland.
    Bundeswehr im Inland "zeigt große Überlastungssituation an"
    Remme: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Mein Gesprächspartner ist Christian Lindner, der Bundesvorsitzende der FDP. Herr Lindner, schon jetzt hilft die Bundeswehr mit 7.000 Mann im Inland – Amtshilfe nennt sich das und wird so begründet. Die Herausforderungen werden, so scheint es, ja nicht kleiner. Ist das verfassungsrechtlich noch in Ordnung?
    Lindner: Das ist ein grenzwertiger Zustand, den ich aber noch für verhältnismäßig halte, also für akzeptabel, weil die Bundeswehr ja keine polizeilichen Aufgaben übernimmt, sondern logistische Aufgaben. Das kennen wir und deshalb halte ich diesen Zustand, wie er jetzt ist, für nicht wünschenswert, kein Idealzustand. Weil es zeigt ja eine große Überlastungssituation an, wenn die Bundeswehr über ihren eigentlichen Verfassungsauftrag hinaus tätig wird. Aber es ist kein Grund, jetzt zum Verfassungsgericht zu laufen.
    Remme: In der Union wird laut über Kompetenzerweiterungen nachgedacht. Richtig?
    Lindner: Nein, das ist nicht richtig. Es ist eine große Sorge, die ich habe, dass jetzt in dieser Situation wir eben – wie ich eingangs sagte – Fassung und Verfassung verlieren. Und damit ist doch eine Situation gegeben, wenn die Bundeswehr jetzt breit eingesetzt werden könnte im Inneren, dass die Länder und auch der Bund bei der Polizeiorganisation noch stärker sparen, weil man ja immer die Einsatzreserve der Bundeswehr dahinter hat. Dann vermischen sich die Aufgaben, dann steht auch die Bundeswehr für ihren eigentlichen Verfassungsauftrag nicht mehr zur Verfügung oder ist zumindest in ihm geschwächt. Deshalb halte ich das für einen Dammbruch. Wir haben ja zu Recht eine Verfassung, damit es in so einer Ausnahmesituation, in der wir gegenwärtig sind, nicht fortwährend zu Grenzüberschreitungen kommen kann.
    "Saudi-Arabien wird dringend benötigt"
    Remme: Wir haben über schwierige Partner gesprochen. In den letzten Tagen wurde in Berlin, im Bundestag, viel über das Verhältnis zu Saudi-Arabien gestritten. Die Liste der Menschenrechtsverletzungen ist lang. Die Massenhinrichtungen vor wenigen Wochen waren Auslöser für die Diskussion. Die Liberalen hatten bis 2013 kein Problem damit, Waffen in die Golfregion, auch nach Saudi-Arabien zu exportieren. Sie stehen für eine neue, eine erneuerte FDP – so ist es vielleicht genauer richtig. Würden Sie als verantwortlicher Wirtschaftsminister auch aktuell noch Exporte nach Saudi-Arabien genehmigen?
    Lindner: Es gilt eine alte Regel von Hans-Dietrich Genscher, der hat mal gesagt: "Was schwimmt, geht." Also, man muss differenzieren, um welche Form von Rüstungsexport es sich handelt. Also, eine Fregatte kann nicht gegen politische Gegner im Inland eingesetzt werden, Handfeuerwaffen oder Panzer, Schützenpanzer schon. Also ist eine differenzierte Bewertung notwendig, um welches Rüstungsgut es geht und sich handelt. Klar ist doch, dass Saudi-Arabien dringend benötigt wird für eine Stabilisierung und auch für die weltanschauliche Auseinandersetzung mit dieser Sekte "Islamischer Staat", weil viele Geldgeber aus Saudi-Arabien eine sehr extreme Auslegung des Koran finanzieren, auch bei uns. Und das kann nicht hingenommen werden.
    Remme: Das heißt, Exporte, die unter Schwarz-Gelb vor wenigen Jahren noch gingen, gehen nach aktueller Einschätzung durch Sie heute nicht mehr?
    Lindner: Nennen Sie mal ein Beispiel.
    Remme: Panzer und die Lizenzproduktion des G36.
    Lindner: Die Lage hat sich möglicherweise verändert, muss man im Einzelnen sehen. Ich bin bei Handfeuerwaffen skeptisch, nach der Entwicklung in Saudi-Arabien. Der neue König, der dort jetzt seine Politik formuliert, handelt nicht so, wie ich das von einem gen Westen orientierten Golfstaat erwarte.
    "Fragen der Flüchtlingslage ganz vorne"
    Remme: Ich sagte das eingangs, Sie sind zurzeit viel unterwegs, in Sachsen-Anhalt, in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz, wo am 13. März ja gewählt wird, zwei ehemalige Stammländer für die FDP im Westen. Wonach werden Sie bei Gesprächen mit den Wählern am häufigsten gefragt?
    Lindner: Natürlich stehen die dringlichen Fragen der Flüchtlingslage ganz vorne. Und deshalb ist das auch ein Schwerpunkt von uns in den Reden und den Veranstaltungen. Das ist doch völlig klar. Ich bin aber zuversichtlich, dass vom 13. März ein Signal ausgehen kann, dass der Rechtsstaat gestärkt wird und nicht die Rechtsradikalen. Und das ist auch unsere Botschaft in dem Zusammenhang.
    "FDP ist der schärfste Kontrast"
    Remme: Also, Sie sind ja bekannt als Optimist, aber ich bin nicht ganz sicher, wo es herkommt. Bundesweit, auch in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz, steht die FDP an oder knapp über der Fünf-Prozent-Hürde – so weit, so gut.
    Lindner: Bei sechs.
    Remme: Ja, richtig, knapp über fünf Prozent, bei sechs. Die AfD liegt bundesweit in der Sonntagsfrage zweistellig, in Sachsen-Anhalt bei 15 Prozent. Wie gefährlich ist das für dieses Deutschland?
    Lindner: Na, Sie stellen jetzt FDP und AfD nebeneinander. Da will ich – nur der guten Ordnung halber – darauf hinweisen, dass die AfD für alle demokratisch auf den Boden des Grundgesetzes stehenden Parteien eine Herausforderung ist und dass von diesen Parteien die FDP der schärfste Kontrast ist. Also, wir suchen die Auseinandersetzung mit der AfD nicht, weil wir ähnliche Inhalte oder Werte oder Wähler hätten, sondern weil wir diese völkische Politik, die die AfD macht zutiefst ablehnen, weil wir weltoffen sind und individualistisch.
    Remme: Nein, ich wollte sie auch auf keinen Fall gleichsetzen.
    Lindner: Ich will das nur sagen.
    "Purer parteipolitischer Egoismus" der AfD
    Remme: Ich wollte nur darauf hinweisen, dass es eine erhebliche Differenz in den Umfragen gibt, und die Frage stellen: Diese Werte, die für die AfD doch erheblich nach oben gegangen sind, da ist die Frage, ob das für dieses Deutschland eine Gefahr bedeutet?
    Lindner: Es wäre für Deutschland in jeder Hinsicht eine schlechte Botschaft, wenn am 13. März eben nicht Rechtsstaatlichkeit gestärkt wird, nicht die traditionell freiheitlichen Werte von Marktwirtschaft und Rechtsstaat gestärkt würde, sondern eine Rechts-außen-Partei, eine rechtspopulistische Partei, die ja selber die Krise als Geschenk bezeichnet hat. Ich halte das für einen blanken Zynismus, dass eine Partei von der Krise profitiert, die diese Krise nicht lösen, sondern sogar ihre Verschärfung herbeisehnen will. Das ist also purer parteipolitischer Egoismus dieser Partei, wie ich ihn bei etablierten Parteien noch nie gesehen und beobachtet habe.
    "Innenpolitisches Debattenklima verroht"
    Remme: Erwächst hier Ihrer Ansicht nach dauerhaft eine Kraft, ähnlich wie die SPD Konkurrenz durch die Linkspartei bekam?
    Lindner: Das kann man nicht absehen. Solche Aufs und Abs bei populistischen Parteien hat es immer gegeben. Auch in Phasen der Unsicherheit kommt das mal. Die Republikaner waren zehn Jahre im Landtag von Baden-Württemberg. Das wird man sehen. Wir jedenfalls suchen die Auseinandersetzung mit denen und wollen die stellen. Denn wer die AfD wählt, der führt ja österreichische Verhältnisse herbei, dass es im Grunde nur noch Mitte-links-Regierungen gibt, weil andere Konstellationen in den Parlamenten kaum mehr möglich sind, wenn es eine solche rechtspopulistische Partei gibt. Die AfD hat keine Lösungen, sondern trägt nur dazu bei, dass sich unser innenpolitisches Debattenklima deutlich verroht.
    Remme: Ist das nicht ein sehr schmaler Grat, Herr Lindner? Noch einmal abschließend: Welches konkrete Angebot macht die FDP konservativen Wählern, die einerseits mit der Politik dieser Kanzlerin nicht einverstanden sind, die andererseits aber die AfD nicht wählen wollen?
    Lindner: In der Kategorie denke ich nicht, konservative Wähler durch irgendeinen Trick zur FDP zu bekommen. Wir sind eine liberale Rechtsstaatspartei. Wir haben auch eine Tradition darin, den Rechtsstaat stark zu machen. Die GSG9, das war eine Erfindung des Bundesinnenministers Hans-Dietrich Genscher. Der hat nicht Notstandsgesetze genutzt, sondern die Polizeitruppe gestärkt. Also, wir bewegen uns in unserer Tradition als marktwirtschaftliche, rechtsstaatliche Partei, die für die Grundwerte unserer Republik steht und diese Werte sowohl gegen die Feinde der offenen Gesellschaft von der AfD als auch gegenüber einer Bundeskanzlerin, die sich weit entfernt hat von rechtsstaatlicher Politik in der Flüchtlingsfrage wieder durchsetzen zu wollen.
    Remme: Herr Lindner, vielen Dank fürs Gespräch.
    Lindner: Ich danke Ihnen, Herr Remme.