Ein Junge steht in einem Wald. Wir wissen nicht, wer ist er, wie ist er dort hingekommen? Der Spieler kann ihn nach links und rechts laufen oder hüpfen lassen. Und laufen ist bitter nötig, denn Gefahr droht, das weiß man schnell. Da sind die Scheinwerfer von Lastwagen. Männer mit Taschenlampen machen Jagd auf uns. Wir laufen weiter, durch Regenpfützen, plötzlich sind Hunde hinter uns her …
So beginnt "Inside", der neue Titel eines dänischen Entwicklungsstudios namens Playdead. Vor sechs Jahren hat die Firma schon einmal für Aufsehen gesorgt, mit ihrem Debüt-Spiel "Limbo". Auch damals ging es darum, einen Jungen durch eine Welt voller Gefahren zu navigieren. Doch wo Limbo noch etwas Märchenhaft-Verspieltes hatte, da ist "Inside" hart und erschütternd.
Auf Schritt und Tritt wartet der Tod auf unsere Hauptfigur. Wenn wir nicht schnell genug laufen, zerfleischen uns die Hunde oder erwürgen uns geheimnisvolle Männer. Später begegnen wir turmhohen Maschinen, die uns erbarmungslos mit Pfeilen durchbohren, an anderer Stelle zerfetzen uns unsichtbare Schockwellen.
Das Spiel weckt Schuldgefühle und Beschützerinstinkte
All das nimmt einen mit, wie selten ein Computerspiel. Während bei anderen Titeln ein verlorenes Leben nur der Ansporn ist, es beim nächsten Versuch besser zu machen – da hinterlässt bei Inside der Tod des Jungen fast schon Schuldgefühle.
Das liegt nicht etwa daran, dass die Grafik besonders realitätsnah wäre. Sie erinnert mit ihren scharfen Kontrasten und düsteren Farben eher an eine moderne Graphic Novel. Blutende Wunden sind bloß dunkelrote Tupfer, die Figuren kaum mehr als Scherenschnitte.
Allerdings: Die Körperbewegungen dieser Figuren sind doch äußerst realistisch. Und das reicht offenbar, um starke Empathie für den Jungen zu empfinden, dessen großer Kopf zudem das Kindchenschema erfüllt. Auch wenn wir nichts weiter über diesen Namenlosen wissen, wollen wir ihn beschützen in dieser unheimlichen und unverständlichen Welt.
Da werden Menschen auf Lastwagen geladen, was zunächst Assoziationen an den Holocaust weckt. Doch wie passen all die anderen Szenen dazu: Tote Schweine in einem Bauernhof, U-Bahn-Schächte mit verunglückten Zügen, überflutete Industrieanlagen. Überhaupt ist Wasser ein zentrales Element dieser Geschichte. Immer wieder müssen wir schwimmen oder tauchen, mehrfach begegnen wir dabei einem rätselhaften Unterwasser-Wesen, das uns zunächst feindlich gesinnt scheint. Es gibt Menschen, die mit gesenktem Kopf herumstehen – offenbar seelenlose Hüllen, die wir mit speziellen Helmen steuern können. Und dann sind da noch die Wissenschaftler, denen es gelungen ist, die Schwerkraft außer Kraft zu setzen, und die womöglich an noch Größerem arbeiten.
Reichlich Anknüpfungspunkte für Spekulationen
Auf der spielerischen Ebene hat Inside nichts Neues zu bieten. Laufen, über Abgründe hüpfen, Kisten an die richtige Stelle ziehen, um Hindernisse zu überwinden – all das kennt man seit Jahrzehnten. Erfahrenen Spielern werden viele der Aufgaben, die sich hier stellen, zu leicht vorkommen. Doch gerade das eröffnet den Blick auf diese unglaubliche Szenerie, die die dänischen Entwickler in jahrelanger Kleinarbeit geschaffen haben. Teil davon ist auch der ausgeklügelte Sound, für den angeblich Synthesizer-Klänge durch einen menschlichen Schädel geleitet wurden. Vielleicht ist aber auch das nur ein Teil der Erzählung.
Anmutung und Handlungselemente von Inside erinnern an George Orwell genauso wie an die Filme von David Cronenberg oder an manche Cover von Pink Floyd. Es ist ein Alptraum, der kein Happy End erwarten lässt. Nichts wird wirklich erklärt, aber es gibt reichlich Anknüpfungspunkte für Spekulationen. Im Internet wird schon eifrig diskutiert, welche Geschichte hier eigentlich wirklich erzählt wird. So geht große Kunst.