Am Eingang des Zentralfriedhofs von Bergamo misst ein Automat die Temperatur und prüft per Kamera, ob Besucher wie vorgeschrieben eine Maske tragen. Sicherheitsmaßnahmen gegen das Coronavirus. So viele Menschen sind der Pandemie hier zum Opfer gefallen, dass die italienische Armee mit ihren Lastwagen die Särge zu Krematorien in ganz Nord- und Mittelitalien bringen musste. Inzwischen gibt es für die Corona-Toten auf diesem Friedhof in Bergamo eigene Bereiche: Reihen über Reihen frische Gräber.
"Hier zu stehen ist jedes Mal wieder wie ein Stich in den Bauch. Wenn man sich umschaut und daran denkt, dass es so viele Opfer gegeben hat, gerade in dieser Stadt, auch wegen der Inkompetenz derjenigen, die eigentlich unser Leben hätten schützen müssen."
Consuelo Locati ist die Anwältin von "Noi Denunceremo": "Wir klagen an". Eine Organisation von Hinterbliebenen von COVID-Opfern. Sie wollen Antworten: Warum mussten in der wohlhabenden Lombardei so viele sterben und wer ist dafür verantwortlich?
Versäumnisse, die Leben kosten
Eines steht für Consuelo Locati schon fest: Weil die Lombardei das ökonomische Herz Italiens ist, sei der Lockdown mit Rücksicht auf die Wirtschaft zu spät verhängt worden.
"Dieses Versäumnis hat etwa 10.000 Todesfälle verursacht. Das ist skandalös. Sie hatten keinen Respekt vor dem Leben und der Würde der Menschen. Die Regionalregierung hat die Lektion aber nicht gelernt: Im Vergleich zum März ist die Zahl der niedergelassenen Hausärzte um etwa 100 zurückgegangen. Sie sind an COVID gestorben, in Rente gegangen oder haben sich versetzen lassen. Neu eingestellt wurden nur 25. Diese Allgemeinmediziner sind für die Erstversorgung aber fundamental wichtig."
Das lokale Gesundheitssystem der Lombardei hatte dem Virus nichts entgegen zu setzen, kritisiert die Anwältin, weil es vorher Jahre lang kaputtgespart wurde. Haus- und Bereitschaftsärzte hätten reihenweise aufgegeben, während Krankenhäuser gefördert und privatisiert wurden.
Bergamo und die umliegenden Dörfer waren im März und April das Epizentrum der europäischen Coronakrise.
Dörfer wie Palazzago zum Beispiel: 15 Kilometer nordwestlich von Bergamo. Hier lebt der 70 Jahre alte Roberto Pogna. Er ist einer der Mediziner, die die Regionalregierung in ihrer Not aus dem Ruhestand zurückrief.
"Ein Arzt, der sich in so einer Situation nicht verpflichtet fühlt mit anzupacken, der sollte den Beruf wechseln."
Ärzte auf verlorenem Posten
Roberto Pogna vertrat einen an COVID erkrankten Kollegen in dessen Dorfpraxis in den Bergen - und er war dabei komplett auf sich gestellt: Kein Kollege weit und breit, keine Praxishelferin, keine Masken, keine Handschuhe, keine Schutzkittel. Das musste er sich alles selbst besorgen. Die Kliniken in Bergamo und anderen größeren Städten seien anerkannt gut, sagt Roberto Pogna. Doch eine zweite Corona-Welle würde die Praxen in den Dörfern genauso hart treffen wie im Frühjahr.
"Ich hoffe sehr, dass die Lage dort nun verbessert wird. In den kleinen Bergdörfern ist der Arzt mutterseelenallein, ohne Ausstattung, ohne Instrumente und ohne Organisation, wie vor 100 Jahren."
In dem großen, modernen Krankenhaus Papa Giovanni XXIII in Bergamo leitet Luca Lorini die Intensivstation. 3.000 COVID-Patienten haben er und seine Kollegen hier in den vergangenen vier Monaten behandelt, knapp 400 von ihnen starben. Derzeit lägen noch zehn COVID-Patienten in der Klinik, sagt Lorini, zwei davon auf der Intensivstation. Und er hoffe inständig, dass die Zahlen so niedrig bleiben.
"Wir sind diesmal besser vorbereitet. Die Organisation des Krankenhauses kann jederzeit angepasst werden. Was die Region angeht, die Praxen außerhalb der Krankenhäuser, da glaube ich nicht, dass wir besser vorbereitet sind."
Luca Lorini berät jeden Tag Ärzte aus vielen Ländern, auch aus den USA, Großbritannien und Brasilien, wie sie ihren an COVID erkrankten Patienten helfen können. Er kann es nicht fassen, dass in Deutschland gegen die Maskenpflicht demonstriert wird.
Botschaften, auch an Deutschland
"Ich bin seit 30 Jahren Arzt. Ein Killervirus wie dieses habe ich noch nie gesehen, niemals! Wir müssen uns für die Zukunft wappnen, denn die Zukunft ist jetzt. Nicht in 100 Jahren, sondern in den kommenden Monaten. Wie man in ganz Europa sehen kann."
Auch in Italien steigen die Zahlen der Neuinfektionen wieder. Doch sehr viel moderater als beispielsweise in Frankreich oder Spanien. Das liege an dem sehr disziplinierten und verantwortungsbewussten Verhalten der Italiener, lobt Lorini: An seinen Landsleuten könne sich der Rest der Welt im Herbst und Winter ein Beispiel nehmen. Bis es frühestens in sechs bis 12 Monaten einen Impfstoff gebe, sei seine Botschaft klar: "Ein früher Lockdown. Tragt Masken, wascht die Hände und haltet Abstand. Das ist die Lektion aus Bergamo."