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Dagmar Leupold: "Die Witwen"
Abenteuerfahrt ins Ungewisse

Vier Frauen Ende 50 lassen sich von ihrem Chauffeur in die Vogesen kutschieren. Als das Auto den Geist aufgibt, beginnen die Protagonistinnen, sich aus ihrem Leben zu erzählen. Dagmar Leupolds "Die Witwen" ist ein charmanter Roman, der von unterdrückten Wünschen und dem Aufflackern einer Glut von Lebenslust erzählt.

Von Christoph Schröder |
    Die deutsche Schriftstellerin Dagmar Leupold.
    Die Schriftstellerin Dagmar Leupold. (dpa/picture-alliance/Inga Kjer)
    Zu fünft brechen sie auf, in einem Fiat Ulysse, ausgerechnet: Penny, Dodo, Laura, Beatrice. Und Bendix. Vier Frauen und ihr Chauffeur. Den haben Sie über eine Zeitungsannonce gefunden. Eine Bildungsreise wollen sie unternehmen, Ziel unbekannt. Aber dem Chauffeur wird zumindest Sinn für Ungewöhnliches abverlangt.
    Sie haben einiges gemeinsam: Ende 50 sind sie und gestrandet in Steinbronn, einem idyllischen, aber ereignisarmen Dörfchen an der Mosel. Eigentlich kommen die Frauen aus Berlin. Sind gemeinsam eingeschult worden. Und dann hat Penny Otto kennen gelernt, einen Winzersohn. Der hat sie mitgenommen nach Steinbronn. Eines Tages ist er dann spurlos verschwunden. Dodo, Laura und Beatrice sind ihr nachgefolgt, als die Leere in ihren Leben nicht mehr auszuhalten war.
    Keine der Protagonistinnen ist Witwe
    In Steinbronn kommen sie gut aus, als Gärtnerin, Logopädin oder Feldenkrais-Lehrerin. Witwe ist im Übrigen keine von ihnen, auch wenn Dagmar Leupolds neuer Roman das im Titel behauptet. Eine von vielen kleinen ironischen Volten. Ein Abenteuerroman, wie der Untertitel es ausweist, ist das Buch dagegen tatsächlich. Denn die Reise, die die vier Freundinnen unternehmen, ist weniger eine Bildungsreise als eine Fahrt in die Erkenntniswelt der eigenen Untiefen.
    " 'Wir haben Heimweh nach etwas, das wir nicht kennen. Also müssen wir es suchen.'- 'Du meinst einen Ort', fragte Laura, die nicht gerne mit Paradoxien abgespeist wurde, wenn es um Wünsche ging. Als Penny einsprang, geradezu erleuchtet von Beatrices Formulierung, die ihre eigenen stammelnden Bemerkungen stützte: 'Kein Ort! Aber etwas, zu dem wir in Bezug treten müssen, das uns auffordert, uns zu zeigen'."
    Auch Bendix, jener Mann, der zum Chauffeur auserkoren wurde, ist ein Gestrandeter. Nach einem schweren Unfall hat sich der studierte Philosoph aufs Land zurückgezogen. Die vier Freundinnen hat er schon seit längerer Zeit im Auge. Nun wird er zu ihrem Reisebegleiter – und schleppt dabei selbst eine Menge an Liebes- und Lebensballast mit sich herum. In seinem Notizbuch wirft Bendix einen so gnadenlosen wie vergnüglichen Blick auf sich und die vier Frauen, zu denen er, jeweils auf ganz eigene Art, zarte Verbindungen knüpft.
    "Projekt 'Privatgelehrter' kurz vor dem Scheitern. Und das Projekt 'Liebenswerter Einsiedler' auch. Unter Umständen gelte ich nicht einmal als Nachbar, der klaglos den Müll der alten Damen vom Erdgeschoss und ersten Stock zu den Tonnen trägt. Auch wenn ich es tue. Der Lauf der Mosel eine Krampfader, vom Deutschen Eck bis in die Vogesen."
    Roman mit heiterer Melancholie
    "Die Witwen" ist ein ungemein charmanter, im Plauderton erzählter Roman. Ein Buch, das getragen ist von einer heiteren Melancholie, die in jedem Augenblick kippen kann. Die Reisegesellschaft begibt sich in die Vogesen, an die Mündung der Mosel. Der Fiat Ulysse gibt den Geist auf. Also beginnen Penny, Dodo, Laura und Beatrice, sich Episoden aus ihren Leben zu erzählen. Begebenheiten, von denen keine der anderen etwas wusste, obwohl man stets glaubte, sich ungemein nahe zu sein.
    Die Eine hat nach einer jahrelangen Affäre ein uneheliches Kind abgetrieben. Die Andere litt unter der emotionalen Kälte der Mutter nach dem Tod des Vaters. Die Dritte berichtet von ihrem Körperekel. Diese Erzählungen sind die heimlichen Gravitationspunkte des Romans. Ohne platte psychologische Schlüsse zu ziehen, sondern mit größtmöglicher Dezenz und Eleganz, leuchtet Dagmar Leupold die dunklen Punkte in den Biografien ihrer Figuren aus und eröffnet auf diese Weise einen Erklärungsraum für all die kleinen Schrulligkeiten, Eigenheiten und Einsamkeiten.
    Vier Nachkriegslebensläufe in der Bundesrepublik
    Ganz nebenbei skizziert Leupold vier weibliche bundesrepublikanische Nachkriegslebensläufe in ihrem Schwanken zwischen Autoritätsgehorsam und Selbstbewusstsein. Und schließlich ist sie noch dazu eine ausgezeichnete Beobachterin, die den Blick für das Detail mit Formulierungskunst zu verbinden weiß.
    "Die fünf ließen die Türen sperrangelweit offen, warfen ihr Gepäck auf die Betten, rissen die Fenster auf, in der vergeblichen Hoffnung, den Mief aus Raumdeodorant, Milbenkot, altem Staub und Teppichbodenkleber zu vertreiben. So riechen Hotels nun einmal: Alle, die hier einkehrten, waren zu flüchtig in den Zimmern behaust, um eine Geruchsspur zu hinterlassen, die auf den jeweiligen Verursacher hätte verweisen können; so blieb nur ein globales Duftgemisch nach Vermietung übrig."
    "Die Witwen" ist ein Roman, der in der Tat von einem Abenteuer erzählt – vom Abenteuer, sich noch einmal den eigenen Sehnsüchten zu stellen, bevor es zu spät sein könnte. Ein erfahrungsgesättigtes, lebenskluges Buch, das von unterdrückten Wünschen, verpassten Möglichkeiten und dem Aufflackern einer Glut von Lebenslust erzählt. Und, um das deutlich zu sagen, ganz gewiss kein Frauenbuch. Der Zauber eines Aufbruchs ins Ungewisse kann schließlich jeden treffen.
    Dagmar Leupold: "Die Witwen: Ein Abenteuerroman"
    Verlag Jung und Jung, Salzburg 2016, 234 Seiten, 22,- Euro.