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Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares

Ein Leben, so präzise wie ein Uhrwerk: Tag für Tag erhebt sich Bernardo Soares im Morgengrauen, verlässt sein bescheidenes Untermieter-Quartier, schreitet durch die schnurgeraden Straßen der Lissabonner Unterstadt, betritt das Bürokontor von Vasques & Co. in der Rua dos Douradores, legt Hut, Mantel und Spazierstock ab, geht an sein Stehpult, schlägt das Geschäftsbuch auf, vertieft sich in Zahlenkolonnen und kratzt mit seiner Feder stundenlang über das Papier. Soares, ein untadelig gekleideter Herr mittleren Alters, hat ein Auskommen als Hilfsbuchhalter, aber seine Leidenschaft gehört der Literatur. Der gewissenhafte Angestellte teilt etliche Eigenschaften mit seinem Erfinder Fernando Pessoa; sogar sein Gesicht scheint dem Konterfei seines Schöpfers zu ähneln.

Maike Albath |
    Ich erlitt die Wahrheit, als ich mich auf dem Photo sah, denn, wie man mit Recht vermuten darf, suchte ich zuallererst nach mir selbst. Nie habe ich mir meine körperliche Präsenz besonders nobel vorgestellt, aber auch noch nie habe ich sie als so null und nichtig empfunden wie im Vergleich mit den anderen, mir so wohlvertrauten Gesichtern bei dieser Aufreihung von Alltagsmenschen. Ich sehe aus wie ein abgewetzter Jesuit. Mein mageres, ausdrucksloses Gesicht strahlt weder Intelligenz noch Intensität noch etwas aus, das es über die Ebbe der übrigen Gesichter erheben könnte. Ebbe, nein, das ist nicht wahr. Wirklich ausdrucksstarke Gesichter sind darunter. Chef Vasques steht da, wie er leibt und lebt – das breite Gesicht hart und doch jovial, energisch der Blick; ein steifer Schnurrbart rundet seine Erscheinung ab. Die Energie, die Schläue dieses Mannes – im Grunde banal und bei vielen Tausend Männern auf der ganzen Welt anzutreffen – sind auf dieser Photographie so ausgeprägt festgehalten wie in einem psychologischen Reisepass. Die beiden Handelsreisenden sind prächtig herausgekommen; auch der örtliche Handelsvertreter ist gut getroffen, wird aber fast verdeckt von einer Schulter des Herrn Moreira. Und erst Moreira selbst! Mein Vorgesetzter Moreira, die Quintessenz der Eintönigkeit und des Beharrungsvermögens, wirkt gleichviel persönlicher als ich es tue!

    Mit bissigen Worten und unverhohlener Verachtung kommentiert Bernardo Soares seine kümmerliche Erscheinung und deutet bereits in Grundzügen die Form der Auseinandersetzung mit der eigenen Person an, die sämtliche Aufzeichnungen des Buches der Unruhe durchdringen wird. Praktiziert wird nämlich eine Ästhetik der Verkleinerung: er sei ein Nichts, eine Fliege, eine leere Geste, ein Buchstabe oder, wie es anderer Stelle heißt, ein glitschiger Brunnen ohne Wände, untauglich für alles, was das Leben von ihm verlangt. Doch der stilisierte Selbsthass des Buchhalters ist eine janusköpfige Angelegenheit: so bitter er die Nichtigkeit seiner physischen Präsenz auch beklagt, im Untergrund seiner Bezichtigungen vibriert ein unverkennbarer Stolz. Sein schwächliches, asketisches Äußeres unterscheidet Bernardo Soares ja gerade von den gewöhnlichen, kraftstrotzenden Männern, es zeichnet ihn aus und macht ihn zu etwas Besonderem. Er ist eben gerade kein Alltagsgeschöpf, sondern eine empfindsame Seele. Während die Unternehmer ungebrochene Gestalten sind, die im Medium der Fotografie ihren kongenialen Ausdruck zu finden scheinen, entzieht sich Soares’ komplexe Persönlichkeit der eindimensionalen Abbildung. "Ich" ist nicht nur ein anderer, wie es bei Rimbaud noch heißt, sondern viele andere, ein schillerndes, facettenreiches Gebilde ohne klare Konturen.

    Ich denke immer, fühle immer; doch mein Denken enthält keine Gedanken, mein Gefühlsleben keine Gefühle. Ich falle oben aus der Falltür durch den ganzen unendlichen Raum, in einem Sturz ohne Richtung, unendlichfach und leer. Meine Seele ist ein schwarzer Mahlstrom, ein weites Taumeln rings um die Leere, Bewegung eines endlosen Ozeans rund um eine Loch im Nichts, und in den Gewässern, die eher ein Kreisen als Gewässer sind, treiben die Bilder all dessen, was ich gesehen und gehört habe auf der Welt – strudeln Häuser, Gesichter, Bücher, Kisten, Spuren von Musik und Silben von Stimmen in einem düsteren, unauslotbaren Wirbel.

    Die schmeichelnden Satzketten, sorgsam geschmiedet wie die Balkongitter der Lissaboner Baixa, die lyrische Ausdrucksweise und die bildhaften Naturvergleiche, mit denen Soares seinen Gemütszustand illustriert, üben eine eigenartige Anziehungskraft aus. Trotz der selbstironischen Volten und Arabesken scheint die portugiesische Saudade mit ihrer Mischung aus Sehnsucht, Melancholie und verletztem Stolz über den Niedergang der einstigen Kolonialmacht Bernardo Soares alias Pessoa die Feder zu führen, man hat sofort den volkstümlichen Gesang des Fado im Ohr, verfällt dem klagenden Tonfall und lauscht der verhangenen Stimme. Pessoas Hauptwerk Das Buch der Unruhe, das wegen editorischer Schwierigkeiten erst 47 Jahre nach seinem Tod 1982 zum ersten Mal in Portugal erschien und nach Ergänzungen aus dem Nachlass jetzt in einer zweiten Fassung vorliegt, hat den Charakter einer Partitur. In den rund 500 Fragmenten umkreist der Hilfsbuchhalter Soares fortwährend sein eigenes Ich und variiert kunstvoll die ewig gleichen Motive: seine seelische Befindlichkeit in all ihren Abstufungen, den Ekel vor der Menschheit und den andauernden Überdruss, die Bedeutung des Traums, der eine wahrhaftigere Existenzform zu versprechen scheint als das Leben, und den Wunsch, sich in verschiedene Personen aufzusplittern. Es wird nichts gebündelt, nichts erzählt, keine Biographie entworfen, statt dessen stoßen wir auf poetische Verdichtungen von Gefühlen und labyrinthische Ausführungen über die Natur des Schmerzes, Gedankensplitter leuchten Soares’ Trauer aus und mit paradoxen Umschreibungen dringt er die Randzonen der Erkenntnis vor. Dann und wann trifft man auf Entwürfe zu einer Ästhetik der Gleichgültigkeit, Ausführungen über die Unsinnigkeit des Reisens und Reflexionen über die Sehnsucht und die Liebe, nur gelegentlich unterbrochen von Straßenszenen oder knappen Schilderungen der Bürotätigkeit. Keine Handlungsstränge, sondern sich wiederholende melodiöse Sequenzen mit leichten Abwandlungen bestimmen den Rhythmus. Wie in einer Symphonie wechseln die Tempibezeichnungen, auf ein Adagio mag ein Andante con moto folgen, auf ein Allegro moderato ein Andante maestoso, aber die Tonart bleibt dieselbe.

    Zwanzig Jahre lang schrieb Fernando Pessoa in unregelmäßigen Abständen zwischen 1913 und 1934 an seinen Prosafragmenten. Bis auf wenige Ausnahmen blieben die teils handschriftlichen Zettel, schon damals unter dem Titel Das Buch der Unruhe für die Veröffentlichung gedacht, unpubliziert. Erst nach Pessoas Tod 1935 stieß man in einer Holzkiste – einem der abenteuerlichsten Funde der europäischen Literaturgeschichte überhaupt - unter 27.543 Papieren auf die mitunter nur schwer entzifferbaren Notate. Das alter ego Bernardo Soares ist eine der vielen Dichter-Stimmen Pessoas, in die sich der portugiesische Schriftsteller Zeit seines Lebens aufspaltete und die er "Heteronyme" nannte. Es handelt sich um unabhängig voneinander existierende Masken, die Pessoa nach komplizierten Berechnungen der Horoskope mit Lebensdaten, Herkunft, Haarfarbe, Charaktereigenschaften, poetologischen Überzeugungen und einem Werk versah.

    Neben Bernardo Soares gibt es da zum Beispiel den großen Lehrmeister Alberto Caeiro, einen Bukoliker, der auf einem Landgut in Ribatejo lebt, gegen die Philosophie und die Metaphysik wettert, in seinen freien Versen die einfache Anschauung der Natur preist und schon 1915 von einer Lungentuberkulose dahin gerafft wird. Oder den ungehorsamen Schüler Caeiros Ricardo Reis, Arzt von Beruf, Jesuitenzögling, Epikuräer und Monarchist. Nach dem Sturz des portugiesischen Königs emigriert Reis, so malte es Pessoa sich aus, nach Brasilien. Reis schreibt er strenge Oden auf den Leib und macht ihn zu einem Vertreter der klassizistischen Linie. Pessoas viertes Geschöpf ist der ungestümen Álvaro de Campo, in England zum Schiffsingenieur ausgebildet, ansässig in Lissabon, ein monokeltragender Futurist, ein Provokateur mit Dandyattitüden und linealgeradem Scheitel.

    Abwechselnd schlüpfte Pessoa in die Häute seiner verschiedenen Dichter-Figuren, schrieb mal aus der einen, mal aus der anderen Existenz heraus, benutzte zwischendurch auch noch seinen eigenen Namen und praktizierte einen lustvollen Ich-Zerfall, der ihm viele Freiheiten gab. Als Álvaro de Campo konnte er sich zum Beispiel von herrschenden ästhetischen Strömungen distanzieren, die er mit Caiero gerade erst begründet hatte und seiner künstlerischen Entwicklung eine neue Radikalität abgewinnen. Wie auf einer Bühne ließ er Caiero, de Campo, Reis und andere, manchmal nur wenige Wochen lang existierende Schriftsteller interagieren und völlig entgegengesetzte Stilrichtungen vorantreiben. Bernardo Soares nun, der den zu Beginn der Prosa-Aufzeichnungen agierenden Vicente Guedes ablöste, war derjenige, der Pessoas eigener Person am nächsten kam. Sein beruflicher Status ist zwar etwas geringer als der Pessoas, denn Pessoa war ein angesehner Handelskorrespondent, der mehrfach eigene, allesamt gescheiterte Unternehmen gründete und eine Zeit lang sogar eine Fachzeitschrift heraus gab, aber genau wie der Schriftsteller verdient Soares seinen Lebensunterhalt mit Büroarbeit. Auch die möblierten Absteigen kennt Pessoa aus eigener Erfahrung, und ebenso wie Pessoa nimmt auch Soares seine Mahlzeiten in den Garküchen der Baixa ein, frequentiert die einschlägigen Intellektuellen-Cafés, widmet sämtliche freie Zeit dem Schreiben und verliert sich in verschachtelten Betrachtungen seiner Seelenlage.

    Wie ermüdend, geliebt zu werden, wahrhaft geliebt zu werden! Wie ermüdend, das Objekt emotionaler Belastungen eines anderen zu sein! Sich, wenn man sich frei, immer frei hat sehen wollen, mit einem Mal die Last der Verantwortung aufzubürden, Gefühle zu erwidern und so anständig zu sein, sich nicht zu entziehen, damit nur ja keiner auf den Gedanken kommt, man sei ein Prinz in Sachen Emotion und weise zugleich das Höchste zurück, das eine menschliche Seele zu geben vermag. Wie ermüdend, unsere Existenz ganz und gar abhängig zu sehen von der Gefühlsbeziehung zu einem anderen Menschen! Wie ermüdend, gezwungenermaßen ebenfalls ein bisschen lieben zu müssen, wenn auch ohne die volle Erwiderung!

    So wie die modulierenden Variationen für das gesamte Buch der Unruhe kennzeichnend sind, so wird hier die Wortwiederholung als Stilmittel eingesetzt: Mit der Anapher "wie ermüdend" gewinnt die Empfindung an Intensität, der identische Aufbau der Syntagmen verstärkt den Eindruck der Gleichförmigkeit und der Lähmung, der tédio, der Überdruss, wird auch auf grammatikalischer Ebene durch exzerziert. Obwohl Soares die Sehnsucht als Lebenshaltung propagiert, verspricht die Liebe keine Erlösung von der entleerten bürgerlichen Existenzform – im Gegenteil, die unterdrückte Liebe ist edler als der Besitz einer Frau, denn nur in der Vorstellung, so räsoniert Soares ganz im Sinne Kierkegaards in einem anderen Fragment, kann man die wahre Liebe erfahren und die Wirklichkeit gedanklich durchdringen. Verzicht lautet also die Maxime, und das passt zu der herausragenden Rolle, die die Kunst und der Traum in der Vorstellungswelt des Buchhalters einnehmen. Genau wie Italo Svevos Helden aus den habsburgischen Fin-de-Siècle-Romanen Senilità und Ein Leben, die ebenfalls als Angestellte ihr Dasein fristen, ist Bernardo Soares ein Lebensvermeider. Während Svevo die Passivität seiner Protagonisten ins Komische wendet, gibt es bei Pessoa noch den Ausweg der Literatur: sie ist der Hort der Wahrheit, die einzige feste Größe in dem sich auflösenden Koordinatensystem und steht für die Sphäre der reinen Erkenntnis. Der Einfluss der französischen Frühromantik mit Chateaubriand schlägt sich eben nicht nur in der ausführlich zelebrierten sehnsüchtigen Stimmungslage nieder, sondern auch in der Strategie, sich durch Kunst zu erhöhen, während Pessoas wortreich ausgeführte Leidensfähigkeit, das Ringen um Wahrheit und die esoterischen Anwandlungen von den Intimen Aufzeichnungen des Genfer Philosophieprofessors Henri-Frédéric Amiel beeinflusst sind, ein um die Jahrhundertwende viel beachtetes Tagebuch, das Tolstoi herausgegeben hatte. Dass Pessoa der Liebe und der Bindung an einen anderen Menschen eine so brüske Absage erteilt, erklärt sich aber auch aus seinen privaten Erfahrungen. 1920 vertauschte er die beständig wechselnden Logierzimmer mit einer Wohnung, wollte endlich sesshaft werden und plante die Verehelichung mit einer sozial angemessen gestellten Dame. Ophélia Queiroz, höhere Tochter und Sekretärin in einem der Handelsunternehmen, für das sich auch Pessoa verdingt hatte, schien sämtliche Anforderungen zu erfüllen, und Pessoa verfiel der jungen Frau mit Haut und Haaren. Obwohl die 19jährige den schmalen, bebrillten Herrn etwas sonderbar fand, erwiderte sie seine Annäherungsversuche. Die beiden verlobten sich, gingen täglich spazieren, Pessoa schrieb Ophélia glutvolle Briefe, nannte sie "mein Babylein", sendete ihr "Riesenküsse, Riesenschmatze, Kussküsschen", weigerte sich entgegen der damaligen Gepflogenheiten aber, mit ihrer Familie in Kontakt zu treten. Nach wenigen Monaten schwärzten ihn sogenannte "Respektspersonen" bei Ophélias Vater an, und inzwischen war Pessoas Mutter Dona Maria Madalena bei ihm eingezogen, was sein Bedürfnis nach weiblicher Gesellschaft bereits ausreichend zu befriedigen schien. Warum es zum Bruch mit Ophélia kam, ist bis heute nicht ganz nachvollziehbar. Pessoa sprach zwar davon, sich wegen akuter Angstzustände in eine psychiatrische Heilanstalt einweisen zu lassen, da aber seine Großmutter wahnhafte Züge besaß, war die Sorge vor ähnlichen Anlagen ein ständiger Begleiter. Entscheidend schien etwas anderes zu sein: Álvaro de Campo, so behauptete Pessoa, könne Ophelia nicht leiden. So weit ging es dann doch: seine erfundenen Figuren mischten sich in seine Angelegenheiten ein, und er überträgt ihnen die Last der Entscheidung. Kein Wunder, dass der Versuch, im wirklichen Leben heimisch zu werden, misslingen musste. In einem späteren Brief an Ophelia wirkt Pessoa dann auch eher erleichtert als verzweifelt. Die Liebe, heißt es im Buch der Unruhe, gibt es gar nicht, denn wir lieben allein die Vorstellung, die wir von jemandem haben, unsere eigene Idee. Keuschheit wird zum Ideal, die körperliche Liebe beschreibt er als eine unappetitliche Angelegenheit mit viel zu viel Schleim und Feuchtigkeit und unangenehmer Wärme. Neun Jahre später flackerte die Liebesgeschichte noch einmal auf, doch Pessoa lebte schon längst nur für das Schreiben und den täglichen Suff. Die Sehnsucht schien dennoch nicht erschöpft.

    Im Osten erhebt sich die Stadt, nur zum Teil sichtbar, fast senkrecht und erstürmt statisch das Kastell. Die bleiche Sonne umflort die unerwartete Häusermasse, die sie hier verbirgt, mit einer verschwommenen Aureole. Der Himmel ist von einem feuchtblassen Blau. Vielleicht regnet es heute wieder, doch sanfter als gestern. Der Wind scheint von Osten her zu kommen, denn mit einem Mal riecht es nach reifem Obst und Grünzeug vom nahen Markt. Auf der Ostseite des Platzes tummeln sich mehr Auswärtige als auf der Westseite. Die Rollläden der Geschäfte fallen wie gedämpfte Schüsse nach oben. Ich weiß nicht warum, aber das Geräusch trägt mir diesen Satz zu. Vielleicht, weil sie dieses Geräusch vor allem beim Nach-unten-Gehen verursachen, jetzt jedenfalls gehen sie nach oben. Alles erklärt sich. Mit einem Mal bin ich allein auf der Welt. Ich sehe all dies von der Höhe eines geistigen Daches aus. Ich bin allein auf der Welt. Sehen heißt abseits stehen. Klar sehen heißt stillstehen. Analysieren heißt fremd sein.

    Der Ammann-Verlag, wo die verdienstvolle Gesamtausgabe Pessoas erscheint, die der Übersetzer und Pessoa-Kenner Georg Rudolf Lind in den 80er Jahren auf den Weg gebracht hatte, entschied sich nach der revidierten portugiesischen Fassung des Buches der Unruhe zu einer Neuausgabe. Erst kürzlich aufgefundene Texte ergänzen die bereits bekannten Fragmente um 280 Seiten, die sich in ihrer Anordnung und Reihenfolge jetzt nach der textkritischen Originalausgabe des amerikanischen Pessoa-Exegeten Richard Zenith richten und von Inés Koebel übersetzt wurden. Inés Koebel verleiht Pessoa eine leichte, melodiöse deutsche Stimme mit einer stetig dahin fließenden Sprache, die der Atmosphäre seiner Prosa entspricht und einen suggestiven Sog entwickelt. In den behutsamen Revisionen der Lindschen Übersetzungen ist sie genauer als ihr Vorgänger und passt den Rhythmus an das portugiesische Original an. Wo es bei Lind "Der sinkende Tag endet flüssig in müdem Purpur" heißt, schreibt Koebel "Fließend endet der vergehende Tag in erschöpftem Purpur". Koebel scheint häufiger die Handlung, von der die Rede ist, mitzubedenken, ihre Syntax ist abwechselungsreicher, und oft sind ihre Satzschleifen einfach schöner. Bei Lind beginnt ein Fragment: "Vor mir liegen die aufgeschlagenen Seiten des schweren Hauptbuchs; von dem geneigten Schreibpult hebe ich mit meinen ermüdeten Augen eine noch mehr als die Augen ermüdete Seele auf". Koebel variiert viel eleganter: "Vor mir, auf der Schräge des alten Schreibpults, liegen aufgeschlagen die beiden großen Seiten des schweren Hauptbuches, von dem ich mit müden Augen und einer noch müderen Seele aufblicke." Das neue Buch der Unruhe ist kein neues Buch, aber der manische, obsessive Charakter dieser Fragmente, das niemals nachlassende Bohren, erschließt sich dem Leser auf kaum zu überbietende Weise. Unaufhörlich nagt es. Pessoas Werk ist wie eine Bibel, man kann es über Jahre hinweg mit sich herum tragen, jederzeit aufschlagen, immer wieder einen Abschnitt lesen und sich über die Merkwürdigkeiten des Lebens belehren lassen. Fernando Pessoas Buch der Unruhe umspannt die Seele mit sehnsüchtiger Trauer.