"Man kann DDR-Geschichte isoliert betrachten, und das halte ich auch für durchaus legitim. Das Problem ist nur, dass oftmals gesagt wird: DDR-Geschichte: völlig überforscht. Und DDR-Geschichte bewegt sich nur sozusagen im eigenen Saft, guckt nicht über den Tellerrand und deswegen ist es eigentlich etwas, womit sich ernsthafte Historiker eigentlich nicht mehr beschäftigen müssen. "
Prof. Hermann Wentker, Leiter der Abteilung Berlin am Institut für Zeitgeschichte, bestreitet, dass ein Gegenstand überforscht sein kann. Nicht nur, weil jede nachfolgende Generation neue Fragen stellt und damit die Geschichtsschreibung und ihre Rezeption voran treibt. Sondern auch, weil die DDR alles andere als lückenlos erforscht ist.
Der Historiker nennt ein Beispiel: Im Auftrag des Bundeswirtschafts- und des Bundesinnenministeriums untersuchen Historiker derzeit die NS-Belastung beider Ämter nach 1949. Beide Projekte nehmen zugleich auch die Staatliche Plankommission sowie das Innenministerium der DDR unter diesem Aspekt unter die Lupe.
Was erforschenswert ist und was nicht, darüber streiten die Wissenschaftler. Manche machen sich für eher harte Themen stark wie die politischen Strukturen des SED-Staats und den Repressionsapparat, die in den 90er-Jahren im Mittelpunkt standen, oder wie die Erforschung von Wirtschaft und Arbeit. Andere wie Prof. Dorothee Wierling, vor ihrer Emeritierung stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, plädieren für die sogenannte soft history als einen möglichen Zugang zur DDR-Geschichte: "Und ich glaube eben (...), dass die politische Bedeutung dieser weichen Themen oft unterschätzt wird, weil da nicht immer Kalter Krieg drauf steht. Es ist aber sehr viel Kalter Krieg drin, es ist auch sehr viel Repression drinnen. (...) Ich als Westdeutsche möchte gerne so viel wie möglich über die DDR wissen. (...) Wie haben sich Menschen unterhalb der Politik in der DDR ihren Alltag gestaltet? (...) Und ich glaube, dass das ein sehr wichtiges Wissen ist, um zu verstehen, warum sich ein solches System hält und wie."
Asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte
25 Jahre nach der Wiedervereinigung betrachten die Historiker es als überfällig, die DDR stärker als bisher in einen größeren räumlichen und zeitlichen Kontext einzuordnen. In Suhl stand deshalb zunächst das "doppelte Deutschland" mit seinen "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichten" zur Debatte. Den Begriff hatte der Zeithistoriker Christoph Kleßmann 2005 dafür geprägt, dass beide deutsche Staaten nicht unabhängig voneinander existierten, und dass die DDR sich stärker am westlichen Nachbarn orientierte als umgekehrt.
Dorothee Wierling hält den sperrigen Begriff inhaltlich für zutreffend. Die Historikerin erinnert daran, dass es bereits in den 90er-Jahren die Idee gab, eine deutsch-deutsche Vergleichsgeschichte zu schreiben "und dass das damals auf erhebliche politische Vorbehalte gestoßen ist. (...) Das galt irgendwie ein bisschen als politisch unanständig. Da stand ja ein ganz anderer Vergleich im Vordergrund: nämlich die DDR mit dem nationalsozialistischen Dritten Reich zu vergleichen. Und das hat sich eigentlich erst gegen Ende der 90er-Jahre verändert."
Auch heute noch wagen erst wenige Forschungsarbeiten den Ost-West-Vergleich - so eine Untersuchung der konkurrierenden Landwirtschaftsmessen, der "Grüne Woche" in West-Berlin und der DDR-Ausstellung in Leipzig-Markkleeberg. Oder ein aktuelles Projekt über den Computereinsatz bei der Stasi einerseits und bei Verfassungsschutz sowie BND andererseits.
Beim Sport guckte die BRD zur DDR
Manche Forschungen fördern dabei eine umgekehrte Asymmetrie zutage, zum Beispiel im Sport der 70er- und 80er-Jahre, betont Frank Bösch, Professor an der Uni Potsdam und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam: "Normalerweise gehen wir immer davon aus, dass die DDR gebannt auf den Westen schaut, während der Westen im Grunde genommen zunehmend die DDR ignoriert. (...) Beim Konsum etwa guckt natürlich die DDR viel mehr in den Westen, als der Westen in die DDR. Aber beim Sport haben wir auch umgekehrte Effekte: Wir haben 1969, nachdem die DDR in Mexiko bei den Medaillen vorne liegt, neun zu fünf bei den Goldmedaillen, (...) haben wir in der Bundesrepublik eine Riesendebatte im Vorfeld der Olympischen Spiele in München, wie man von der DDR auch lernen kann."
Ulrich Mählert von der Bundesstiftung Aufarbeitung beklagt nicht nur die mangelnde gesamtdeutsche Perspektive. Die Zeit der deutschen Teilung müsse mehr noch mit ihrer Vorgeschichte, der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, verknüpft werden, fordert der promovierte Historiker.
"Wir haben in den letzten Jahren eine nach West- und Ostdeutschland getrennte Debatte über Heimkind-Erziehung geführt. Forschungen zur Praxis in Kinderheimen, im Jugendstrafvollzug in der Nachkriegszeit machen eigentlich nur in einer gesamtdeutschen Perspektive Sinn, weil man nur dann heraus mendeln kann, ob vielleicht bestimmte Praktiken des DDR-Strafvollzugs der 70er-Jahre in den 60er-Jahren noch mehr oder weniger Praxis auch in der Bundesrepublik gewesen ist und sich eher aus der ersten Jahrhunderthälfte wurzeln."
Nebeneinander vieler Forschungsperspektiven
Die Frage bleibt, wo Vergleiche sinnvoll sind. Denn die Historiker müssen auch andere Bezüge berücksichtigen: dass die damalige Bundesrepublik sich Richtung Westen orientierte und die DDR mit den Ostblockstaaten und insbesondere der Sowjetunion verflochten war.
Die in den vergangenen Jahren in Mode gekommene transnationale Geschichtsschreibung überhöhe häufig die Ähnlichkeiten, kritisiert Frank Bösch – nicht nur beim Vergleich Bundesrepublik-DDR, sondern auch beim Vergleich mit Großbritannien oder Frankreich. Die Lösung sieht er darin, nach einem gemeinsamen Ausgangspunkt zu suchen. Zum Beispiel: "Dass es gerade in den 70er-Jahren übergreifende Herausforderungen gibt, die nicht an der Mauer halt machen: Die Luftverschmutzung stoppt nicht an der Grenze, sondern der Wind weht nun mal von West nach Ost und die Flüsse fließen von Ost nach West. Insofern (...) gibt es um 1970 in beiden Staaten zeitgleich Bemühungen, Antworten auf eine übergreifende Herausforderung zu finden. (...) Ein anderes Beispiel, die Ölkrise '73."
Deutsch-deutsche Forschung darf nicht zum Dogma werden, darin waren sich die Podiumsteilnehmer einig. Die 40 Jahre dauernde Teilung war zu lang, um alle Entwicklungen westlich und östlich der Mauer miteinander in Beziehung setzen zu können. Sie war aber auch zu kurz, um die Augen vor dem zu verschließen, was vor 1945 geschah – und die Menschen bis heute prägt. Nicht zuletzt wird auch der Zeitabschnitt seit dem Mauerfall immer länger und seinerseits zum Forschungsgegenstand.
Der Historiker Hermann Wentker fordert deshalb ein gleichberechtigtes Nebeneinander der vielen Forschungsperspektiven: "Sei es in einem deutsch-deutschen Rahmen, sei es in den Gesamtverlauf der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Oder etwa, was auch viel zu wenig gemacht wird, die Einordnung der DDR in die Geschichte des Ostblocks. Und ein letzter Punkt natürlich, (...) der vielleicht auch etwas wichtiger wird, die Einordnung der DDR in diese Phase der Transformation von dem geteilten Deutschland ins vereinigte Deutschland – also die Zeit der 70er- bis in die 90er-Jahre."