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Das Ende des American Dream
Die Abwicklung des alten Amerika

George Packer erzählt in seinem Buch "Die Abwicklung" intelligent und anschaulich vom Verfall der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen in den USA, die lange für Stabilität sorgten. Durch die detaillierten Langzeitbeobachtungen und die kluge Auswahl seiner Protagonisten lassen sich Entwicklungen verfolgen, die möglicherweise auch auf Deutschland zukommen.

Von Zaia Alexander |
    Früher hieß es, der Flughafen von New York sehe aus wie ein Flughafen in der Dritten Welt. Heute sehen selbst Dritte-Welt-Flughäfen besser aus als JFK. Das sagte der amerikanische Autor Elliot Weinberger kürzlich, und er fasste damit polemisch einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Abwärtstrend in den USA zusammen, dem George Packer in seinem neuen Buch auf den Grund geht. "Die Abwicklung: Eine innere Geschichte des neuen Amerika" beschreibt die enorme Veränderung, die die USA in den letzten 35 Jahren durchlaufen haben. Wesentliche Bestandteile des nationalen Selbstverständnisses haben sich unwiderruflich aufgelöst. Packer erzählt intelligent und anschaulich vom Verfall der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen, die über ein halbes Jahrhundert hinweg für Stabilität sorgten.
    In seiner Einleitung, die wie eine Ouvertüre die Themen und Motive des Buches anreißt, wird bereits deutlich, dass die einschneidenden Veränderung alle Schichten und gesellschaftlichen Ebenen erfasst und dass immer mehr Menschen darunter leiden. Packer beleuchtet aber auch die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger. Bei ihnen sieht er die Verantwortung für die Zerstörung eben der Institutionen und Gesetze, die ein Sicherheitsnetz für sozial Schwache gebildet und die größte Mittelschicht hatten entstehen lassen, die es in der Geschichte der Menschheit je gab.
    "Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann die Abwicklung begann - wann die Bürger Amerikas zum ersten Mal spürten, das die Bande sich lösten, die sie sicher, manchmal erdrückend fest wie eine eng gewickelte Spule, zusammengehalten hatten [...] Wer um 1960 oder später geboren wurde, hat sein gesamtes Erwachsenenleben im Taumel dieser Abwicklung verbracht. Er mußte mit ansehen, wie Bauwerke und Institutionen, die bereits vor seiner Geburt bestanden hatten [...] in der gewaltigen Landschaft wie Salzsäulen zerfielen. Auch andere Aspekte, weniger deutlich sichtbar vielleicht, aber mindestens ebenso unerlässlich für ein geordnetes Alltagsleben, zerbröckelten bis zur Unkenntlichkeit - der Umgang in den Hinterzimmern von Washington, die Tabus in den New Yorker Handelsbüros, Manieren und Moral [...] Die Lücke schloss eine Macht, die in Amerika immer zu Stelle ist: das organisierte Geld."
    Packers kritische Gesellschaftsanalyse beginnt 1978, zur Zeit der amerikanischen Ölkrise, als Jimmy Carter in einer Rede zur Lage der Nation vor einer bevorstehenden Inflation warnte. Das Ende der 70er-Jahre markierte den Beginn der Deindustrialisierung in den USA, die zuerst die Stahlindustrie massiv traf, die Gewerkschaften schwächte und dann die gesamte Gesellschaft durchdrang.
    Einfühlsame Porträts ganz unterschiedlicher Schicksale
    Packer wählt eine für ein Sachbuch ungewöhnliche Vorgehensweise. Über Jahre hinweg sammelte er eine Fülle von Fakten über Personen verschiedenster Herkunft. Er lässt sie selbst zu Wort kommen. So entstehen einfühlsame Porträts ganz unterschiedlicher Schicksale. Anhand des konkreten Einzelfalls erschließen sich größere Zusammenhänge, die Ursachen politischer Entscheidungen oder die Gründe bestimmter wirtschaftlicher Entwicklungen. Packer unterlegt seine Beobachtungen mit Collagen aus politischen Slogans, Titelüberschriften von Zeitungen, Songtexten und Zitaten aus der Popkultur, die die kollektive Gestimmtheit der jeweiligen Epoche widerspiegeln.
    Sein Buch sei von John Dos Passos großer Trilogie "U.S.A" inspiriert, schreibt Packer im Nachwort. Bei Dos Passos handelt es sich um polyphon erzählte Romane, die die amerikanische Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts porträtieren. Und obwohl Packers Bestseller, ausgezeichnet mit dem National Book Award, ein Sachbuch ist, gibt es doch Anklänge an ein episches Erzählwerk; in der Wucht seiner Sozialschilderungen erinnert es an Szenarien von Charles Dickens oder John Steinbeck. Und auch in der Sprache entwickelt Packer erzählerische Poesie. Einfühlsame Beschreibungen ersetzen den faktischen Berichterstatterstil.
    Obdachlose im Finanzdistrikt von Manhattan im August 1995
    Obdachlose im Finanzdistrikt von Manhattan. (dpa / picture alliance / Peer Körner)
    Packer schreibt für die "New York Times". Er ist Autor des viel besprochenen Buches "The Assasin's Gate: America in Iraq". Als politischer Journalist weiß er um die Macht der eigenen Stimme. Und obwohl er den Text für sich sprechen lässt, ist eine heftige moralische Empörung zu spüren, die dieses Buch beinahe auf jeder Seite durchzieht. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte versetzt ihn in Wut, und er verwandelt diese Wut in einen scharfsichtigen, kritischen Blick auf den Eigennutz und die Kurzsichtigkeit der amerikanischen Elite. Anhand von Fallbeispielen wird nachvollziehbar, wie sie das Land wissenden Auges auf ein Desaster zusteuern und eine beispiellose Polarisierung herstellen zwischen den Wenigen, die im Begriff sind, alles zu besitzen und der Masse, die bald nichts mehr hat.
    "Abwicklung verheißt Freiheit. Es ist die Freiheit sich neu zu erfinden [...], einen neuen Anfang zu wagen [...], zu scheitern und wieder von Neuem zu beginnen. Mit der Freiheit schafft die Abwicklung ihre eigenen Illusionen, denn all diese Versuche, diese Träume sind flüchtig wie Seifenblasen, die zerplatzen, sobald sie die konkreten Umstände berühren. Gewinnen und verlieren - das ist das große amerikanische Spiel, und in der Abwicklung ist der Gewinn größer als je zuvor. Die Gewinner entschweben wie riesige Luftschiffe, und die Verlierer fallen tiefer und tiefer, und manche kommen niemals an."
    Eine Ära der Ungleichheit
    In Packers Augen leben wir in einer Ära der Ungleichheit. Und in den Kapiteln, die den Gewinnern dieser Ära gewidmet sind, wird die Ungerechtigkeit, die das heutige soziale System kennzeichnet, am deutlichsten. Der unvorstellbare Erfolg Oprah Winfreys beispielsweise, die aus eigener Kraft zur reichsten Frau der USA aufgestiegen ist, bietet kaum noch Raum für Argumente, die das amerikanische Image vom Selfmade man als Instrument zur Selbstausbeutung entlarven könnten. Mit Newt Gingrich endete eine konstruktive politische Debattenkultur in Washington. Colin Powell ruinierte sein Ansehen, als er der UN den Irak-Krieg als notwendigen Militäreinsatz verkaufte. Sam Waltons Einkaufskette WalMart raubte der amerikanischen Kleinstadt mit ihren mittelständischen Handwerksbetrieben und Familienunternehmen die Seele.
    In den Aussagen von Unternehmern und Politikern wird klar, wie weit sich deren Wahrnehmung der Realität von der sozialen Wirklichkeit entfernt hat, unabhängig von Parteizugehörigkeiten oder politischer Einstellung, wie das Beispiel eines Demokraten im Wahlkampfteam Joe Bidens zeigt.
    "Für 95 Prozent der Amerikaner mag es seltsam klingen - aber mit 400.000 im Jahr kommst du auch nicht mehr so weit wie früher. Ich muss das Haus in Great Falls abbezahlen, und die Privatschule für die beiden Kinder. ... Ich kann froh sein, wenn am Ende des Jahres von den 400.000 etwas übrig ist."
    Auch Peter Thiel gehört zu den Gewinnern. Im Kapitel "Silicon Valley" wird das Porträt eines Mannes mit radikal neoliberalen Ansichten entworfen, der spekulativen Marktstrategien und darwinistischen Prinzipien von der Macht des Stärkeren das Wort redet und als Mitbegründer der Internetbezahlplattform PayPal reich wurde. Aber auch er fiel neuen Mechanismen an der Wallstreet zum Opfer. An der Börse herrschen nicht mehr die alten Eliten. Sie wird von computergenerierten Trading-Algorithmen dominiert, die nicht länger kontrollierbar sind.
    Obwohl Thiel ein Großteil seines Vermögens verlor, führte das weder zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus noch zu gesellschaftlichem Engagement. Thiels Schlussfolgerung war pragmatisch: Er investiert jetzt in Technologien zur Verhinderung des Todes, die nur Billionären wie ihm zur Verfügung stehen. Falls das nicht klappen sollte, setzt er außerdem auf die Gründung schwimmender Kolonien in den Weltmeeren, wo der Pöbel keinen Zutritt hat. Demokratie jedenfalls ist in Thiels Augen eine Bedrohung für die Zukunft.
    Blick auf das Silicon Valley in San Jose in Kalifornien
    Blick auf das Silicon Valley in San Jose in Kalifornien. (AP Archiv)
    "Als Liberalist begrüßte er ein Amerika, in dem weder auf die alten Institutionen mehr Verlass war, noch auf die Gemeinschaften, die lange das einzige Sicherheitsnetz geboten hatten, die jedem, der dazugehörte, eine Stelle im Leben angewiesen und die gemeinsamen Ziele vorgegeben hatten. All das widersprach Thiels Vorstellungen zutiefst."
    Blick auf Mittel- und Unterschicht
    Die Hauptfiguren des Buches sind Vertreter der amerikanischen Mittelschicht oder einfache Arbeiter wie die Afro-Amerikanerin Tammy Thomas, Tochter einer Drogenabhängigen, Mutter dreier Kinder. Ursprünglich arbeitete sie für einen Autoteilehersteller in Youngstown in Ohio. Während des Niedergangs der Stahlindustrie verlor sie ihren Job. Die Firma lagerte die Produktion nach Mexiko aus, löste fristlos Arbeitsverträge, entließ die Angestellten mit unverhältnismäßig niedrigen Abfindungen.
    Am Beispiel von Tammy Thomas wird der Wandel einer einst blühenden Stadt mit einer vielfältigen Kultur zur amerikanischen Hauptstadt der Kriminalität anschaulich. Während die Perspektivlosigkeit die meisten Einwohner in die Depression stürzte, steht Thomas für jene, die der american dream von der Möglichkeit eines besseren Lebens so tief durchdringt, dass sie immer wieder aufstehen. Nach 20 Jahren Arbeit am Band und trotz Verlust aller Ersparnisse, schafft sie es als alleinerziehende Mutter, zu studieren und fängt schließlich als Grassroot-Aktivistin und Sozialarbeiterin noch einmal von vorn an.
    "Wenn Tammy über den aufgebrochenen Asphalt ihrer Kindheitsstraßen fuhr, staunte sie immer wieder über die leeren Grundstücke, über die Stille in den einst so lebendigen Straßen. Sie hatte vielleicht gehofft, dass die alten Familien noch einmal aus ihren Häusern treten würden, und war nun enttäuscht, dass von dem Viertel nichts übrig geblieben war [...] Die Geschäfte und Schulen, die Kirchen, Spielplatze, Obstbäume - es war alles weg. Auch die Hälfte der Häuser war verschwunden und zwei Drittel ihrer Bewohner. [...] Damals konnte man im Lincoln Park Pfirsiche pflücken, heute fällt der Ort an die Natur zurück. Rehe grasen auf den überwachsenen Grundstücken, inmitten des Sperrmülls."
    Selten ein Happy End
    Tammy Thomas ist eine willensstarke und bewundernswerte Ausnahmeerscheinung, die schließlich sogar eine Rede in Washington hält. Allerdings ist ihre Geschichte die einzige in Packers Buch mit Happy End. Harte Arbeit, Leistung und Verzicht führen schon lange nicht mehr zu einem besseren Leben. Dieser alte Traum des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär erfüllt sich nach dem tiefenstrukturellen Wandel der Gesellschaft für so gut wie niemanden mehr. Auch Dean Price glaubt, er könnte soziale und ökonomische Widerstände durch die schiere Kraft des Willens überwinden. Price, der aus einer Familie von Tabakfarmern in North Carolina stammt und verschiedene Unternehmen gründet und immer wieder scheitert, steht symbolisch für den unzerstörbaren amerikanischen Optimismus.
    Sein Vertrauen in die Kraft positiven Denkens stammt noch aus der Ära der Großen Depression. Seine Selbstsuggestionen folgen dem Motto: "Denk nach und werde reich", das einmal Napoleon Hill mit einer Art Handbuch zum sozialen Aufstieg in die Welt setzte. Price wechselt seine politischen Loyalitäten. Einmal begeistert er sich für Reagans Republikaner, dann wieder für radikal grüne Theorien. Für Packer versammeln sich in diesem Unternehmer all jene essenziell amerikanische Eigenschaften, die einmal das Rückrad der Nation gebildet hatten. Aber Price kann sich auf die Dauer nicht gegen global agierende Unternehmen durchsetzen. Als eines seiner Restaurants pleite geht, versinkt er in einem apokalyptischen Selbstgespräch.
    "Manchmal saß er mit einem Glas Bourbon auf seiner Veranda und lauschte den Lastwagen, die über die Route 220 nach Süden rauschten, um lebendige Hühner zu den Schlachthäusern zu bringen. Sie fuhren nur, wenn es dunkel war, sie waren Drogenschmuggler, und was sie verschoben, waren mit Hormonen vollgepumpte Tiere, die so fett waren, dass sie unter ihrer eigenen Last zusammenbrachen. Und er dachte daran, dass diese Hühner bald schon in abgepackten Stücken zu dem Bojangles zurückkehren würden [...] und dass das Fleisch in einer blubbernden Fritteuse versenkt würde, von Angestellten, die ihre Arbeit hassten und ihren Hass auf Tellern zu den Gästen trugen, die ihn hinunterschlangen, die fett wurden und mit Diabetes oder Herzversagen im Krankenhaus landeten, wo sie auf Kosten der Allgemeinheit versorgt wurden. Später waren diese Leute so schwer, dass sie in Elektrokarts durch den WalMart fuhren, genau wie die hormonverseuchten Hühner konnten sie sich nicht mehr auf den eigenen Beinen halten."
    Verzweifelte Spirale nach unten
    Die Stadt Tampa in Florida entstand in der Zeit des Immobilienbooms als Stadt der Spekulanten und Banker ohne Infrastruktur, ohne jede stadtplanerische Idee und abhängig von immer dubioseren Kreditvergaben. Beim Zerfall der Stadt wurden nicht Banker, Spekulanten oder Politiker mit in den Abgrund gerissen, wie Packer in einem der anschaulichsten Kapitel schildert, sondern wie üblich tausende gewöhnliche Leute. Vor Gericht wurden täglich 120 Verfahren in geradezu maschineller Weise und ohne Rechtsgrundlage durchgejagt, so schnell verloren die Leute ihre Häuser. Oft wusste niemand mehr, bei wem die Besitzrechte eines Hauses lagen, so oft waren die überbewerteten Hypothekenpapiere weiterverkauft worden. Und dann gibt es noch jene Einwohner Tampas, die sich kaum die Miete leisten können, wie die Hartzells, die arbeitslos werden, verarmen und auf eine verzweifelte Spirale nach unten geraten, als bei der Tochter Knochenkrebs diagnostiziert wird.
    Als der Journalist Michael van Sickler die surrealen Gespenstersiedlungen bereist, stößt er zwischen verlassenen Häusern auf ausgemergelte Kühe. Jemand hatte sie eingeführt in der Hoffnung auf Steuererlass wegen landwirtschaftlicher Nutzung und dann zurückgelassen. Die Tiere werden zu Symbolen dafür, wie eine ganze Stadt zu Tode gemolken wurde. Das Eisenbahnprojekt, das Tampas wieder eine Zukunft hätte geben können, wurde von der Tea Party verhindert, die darin Anzeichen für sozialistische Machenschaften sah. Und hier schlägt Packer einen Bogen zu einem weiteren Katalysator des wirtschaftlichen Niedergangs, den Medien. Sowohl in den Printmedien, als auch bei Funk und Fernsehen haben religiöse und ultrakonservative Kräfte wie die Tea Party heute mächtige Partner.
    US-Präsident Barack Obama 2009 bei Malerarbeiten in einem Haus für obdachlose und vernachlässigte Jugendliche in Washington.
    US-Präsident Barack Obama 2009 bei Malerarbeiten in einem Haus für obdachlose und vernachlässigte Jugendliche in Washington. (dpa / picture alliance / epa Joshua Roberts/Pool)
    Spätestens mit der Abschaffung der "Fairness Doctrine", die seit 1949 jeden Sender verpflichtet hatte, wichtige öffentliche Angelegenheiten objektiv und ausgewogen darzustellen, wurde der seriöse Journalismus kontinuierlich ersetzt durch tendenziöse konservative Programme wie Fox News.
    Eine Achse des Bösen
    Die fatale Verbindung zwischen Wallstreet und Washingtoner Politik wird im Porträt des Lobbyisten Jeff Connaughton anschaulich. Mit seinem Lebenslauf liefert Packer das wohl eindrücklichste Beispiel dafür, wie die Legislative und das Justizsystem durch die Macht großer Konzerne ausgehöhlt werden. Connaugthon begann seine Karriere als glühender Unterstützer Joe Bidens, den er über 20 Jahre in seiner Laufbahn als Nummer zwei der amerikanischen Politik begleitete. In seiner Zeit am Capitol Hill war er zugleich an der Wallstreet beschäftigt und Teil der lukrativen Welt der Lobbyisten. Bei Connaughton wird das, was sich zwischen Großkonzernen und Amerikas Gesetzgebung abspielt, wirklich wie eine Achse des Bösen.
    "Power-Paare hatten noch ganz andere Möglichkeiten, zwischen Politik und Wirtschaft zu pendeln. Wenn einer das Geld nach Hause brachte, konnte sich der andere in der Regierung hocharbeiten, das Insiderwissen, das sie dabei sammelten, floss wiederum in beide Richtungen [...] In Washington konnte Bettgeflüster Millionen wert sein [....] Einige dieser Paare gehörten der permanenten Klasse in Washington an, einer Gruppe von Finanzleuten, die die Achse zwischen Wall Street und Washington bildeten und im Finanzministerium, im Finanzausschuss oder in den Aufsichtsbehörden arbeiteten.
    Packer hat mit "Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika" ein sorgfältig recherchiertes Buch über ein Phänomen vorgelegt, das sich auch in Europa seit der Finanzkrise abzuzeichnen beginnt. Packer faltet den Niedergang in seiner ganzen Dimension auf. Seine erzählerische Herangehensweise macht sowohl Ursachen als auch die zerstörerischen Konsequenzen anhand lebendiger Geschichten anschaulich. Durch die detaillierten Langzeitbeobachtungen und die kluge Auswahl seiner Protagonisten lassen sich Entwicklungen verfolgen, die möglicherweise auch auf Deutschland zukommen.
    Und auch wenn über der polyphonen Struktur und dem Detailreichtum zuweilen das große Ganze etwas aus dem Blick gerät, macht das Buch Entscheidendes deutlich: ein eklatanter Einkommensunterschied ist eine der größten moralisch-gesellschaftlichen Gefahren unserer Zeit und beruht auf einem Mangel an staatlicher Einflussnahme. Denn sind soziale Netzwerke einmal weggefallen, lassen sie sich nicht wiederherstellen. So wird Packers Buch auch als Warnung lesbar, besonders hinsichtlich des bevorstehenden Freihandelsabkommens zwischen Deutschland und den USA. Es erinnert daran, dass Gesundheit und eine gute Lebensqualität jedes Einzelnen die Voraussetzung für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft sind.
    George Packer: "Die Abwicklung: Eine innere Geschichte des neuen Amerika". S. Fischer Verlag, 2014. 512 Seiten, 24,99 Euro.