Die Studentenschicksale verwickeln und verweben sich, verquirlen und zerwabern. Das Changierende Ashdowns dehnt sich bis in die seelische Befindlichkeit seiner Bewohner aus; sie sind in ihrer Identität noch ungefestigt und suchend. Aber "Das Haus des Schlafes" ist keine alltägliche Campusgeschichte, sondern eher ein gruppendynamischer Entwicklungsroman in zwei Etappen. Streckenweise hat das Buch einen etwas sozialarbeiterischen Touch, aber dennoch ist es vergnüglich zu lesen. Zwölf Jahre nach ihrem Studienabschluß treffen der Sonderling Gregory, die verträumte Sarah und der schlafunfähige Terry noch einmal aufeinander. Ashdown beherbergt mittlerweile eine Schlafklinik, geleitet von Doktor Gregory Dudden, dessen wissenschaftliche Begeisterung für Schlafstörungen sich zu einem Doktor-Jekyll-artigen Forschungswahn gemausert hat. Und wieder verknüpft und verzwirbelt Coe die Biographien seines Figurenreigens. Dabei erfüllt Ashdown erzähltechnisch eine Brennglas-Funktion: hier laufen die Handlungsfäden zusammen, hier verbinden sich die zwei Zeitebenen des Romans. Jonathan Coe ist ein Komposition-Fanatiker: Er entwirft ein ausgeklügeltes System, das ein bißchen an die Erzählmuster der daily soaps erinnert, und weiht den Leser in einer kleingedruckten Vorbemerkung in sein Geheimnis ein. Kapitel mit ungeraden Zahlen erzählen nämlich von den Jahren 1983 und '84, Kapitel mit geraden Zahlen spielen im Juni 1996. Aber keine Angst, es wirkt längst nicht so schematisch, wie es sich anhört. Außerdem ergibt sich ein reizvoller Kontrast zwischen der exakt durchkalkulierten Struktur des Romans und seinem thematischen Kern, dem Schlafen und Träumen. Im Traum werden die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart Nacht für Nacht außer Kraft gesetzt, und Coes Helden erkennen in ihren Träumen uneingestandene Wahrheiten. "Ich wollte in meinem Buch nicht unbedingt die Ideen von Freud und Jung verarbeiten, die klassischen Denker, die über Träume geschrieben und sie als psychische Phänomene oder Symbole interpretiert haben. Mir ging es eher um die Poesie der Träume und diese Art besonderer archetypischer poetischer Wahrheit, die ein Bild aus einem Traum für uns beinhalten kann. Ich glaube nicht an prophetische Träume, zumindest waren meine Träume niemals prophetisch. Aber ich denke schon, daß wir in Träumen Bildern begegnen, die uns über Jahre begleiten, und die manchmal ganz plötzlich wieder auftauchen. Oberflächlich betrachtet gibt es vielleicht keine rationale Erklärung dafür. Auf jeden Fall werden diese Bilder oft sehr wichtig, sie können ein Muster bilden, um das herum man sein Leben im Wachzustand organisiert."
Jonathan Coe gelingt in "Das Haus des Schlafes" eine schöne und originelle Variation des alten Motivs, denn Träume, die göttliche Weisungen enthalten und entschlüsselt werden müssen, kommen schon in der Bibel, bei Homer, in Vergils Aeneas und in mittelalterlichen Legenden vor. Es ist ein faszinierendes Thema, und Coe läßt nicht nur die reiche literarische Tradition anklingen, sondern bezieht auch die moderne Schlafforschung mit ein und erfindet für jede seiner Figuren eine spezifische Schlaf-Geschichte. Der unsympathische Gregory experimentiert mit Schlafentzug und geht schließlich an seinen Obsessionen fast zugrunde. Für Robert wird ein Traumbild zum Subtext seines Lebens, dem er, wie einem Orakel, jahrelang nachspürt. Terry hat als junger Mann so schöne Träume, daß er darüber zu leben vergißt. Als er plötzlich nicht mehr schläft, muß er den Traumentzug durch Kinofilme ersetzen.
Die Biographien der sechs Helden sind aber auch typische Lebensläufe der Thatcher-Ära, einer Zeit, die Jonathan Coe schon in seinem satirischen Roman "Allein mit Shirley" so scharfzüngig beschrieb. In "Das Haus des Schlafes" nimmt er weniger die gesellschaftspolitischen Umstände auf die Schippe, sondern zeichnet die Auswirkungen von Erfolgsdruck, Verteilungskämpfen und sozialer Kälte im Privaten nach. Knapp 400 Seiten lang ist der Roman, und Coe jongliert virtuos mit aktuellen Bezügen, spürt auf phantasievolle Weise Zusammenhänge zwischen Träumen und Kino auf und stellt mit der Beschreibung eines medizinischen Kongresses auch noch sein komisches Talent unter Beweis. Trotzdem scheint er an seinen erzählerischen Fähigkeiten zu zweifeln. Um den Leser bei der Stange zu halten, greift Coe auf Elemente des Krimis zurück und spickt seine Geschichte mit Rätseln: "Ich habe schon immer Agatha Christie und Conan Doyle gelesen, also die klassischen englischen Detektivromane, dann beschäftigte ich mich mit Almore Lennison und James Elroy, weil ich herausfinden wollte, wie diese großen amerikanischen Krimiautoren Spannung erzeugen. Ich habe also ganz bewußt an diesen Aspekten meines Buches gearbeitet, um den Lesern etwas zu geben, woran sie sich festhalten können. Wenn andere Handlungsfäden kompliziert werden oder verwirrend, hat man immer noch das Geheimnis, das einem hilft, bis zum Schluß dabei zu bleiben."
Den Kollegen über die Schulter zu schielen, war keine schlechte Idee, aber Coe hat die Lektionen der Krimiautoren fast zu gut verstanden und schießt übers Klassenziel hinaus. Natürlich will man unbedingt Gregorys zwielichtiger Forschungspraxis auf die Schliche kommen oder alles über Sarahs verflossene Liebe in Erfahrung bringen, nur sind Coes Konstruktionen viel zu durchsichtig. Ohne Brüche und Widerstände plätschert seine Prosa daher und verstopft einem die Ohren wie ein gefälliger Serien-Trailer, und sein Drang, wirklich jeden Handlungsfaden aufzulösen, läßt den Schluß des Romans wie eine brav erledigte Hausaufgabe erscheinen. Das ist schade. Die eifrig vorgekauten und mundgerecht servierten Lösungen unterfordern den Leser und rücken dem Klischee gefährlich nahe. Coes missionarischer Erklärungsdrang widerspricht außerdem dem Charakter des Traums, den Coe doch erzählerisch erfassen wollte, denn Träume bleiben Mysterien und lassen sich niemals vollständig erschließen. Selbst bei seinen Figuren wird Coe am Ende von einem Eindeutigkeits-Fieber gepackt: das Offene und Unbestimmte vom Anfang verschwindet, jeder ist entweder gut oder böse, wird vom Schicksal belohnt oder bestraft. Jonathan Coe hatte mit seiner schönen Idee der schlafgestörten und traumgeplagten Studenten viele Trümpfe in der Hand, die er im letzten Drittel des Romans bedenkenlos verspielt. "Das Haus des Schlafes" fängt vielversprechend an, geht spannend weiter, aber läuft auf den letzten hundert Seiten allzu berechenbar aus.