Die Schubino-Kirche unweit des Roten Platzes in Moskau. Wie viele Gotteshäuser in Russland hat sie eine bewegte Geschichte. In der Sowjetzeit war sie 60 Jahre lang geschlossen. Zuerst brachten die Kommunisten eine Bibliothek dort unter, dann eine Druckerei. Die Wandmalereien wurden überstrichen, die Ikonen entfernt. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 gab der Staat das Gotteshaus der Russisch-Orthodoxen Kirche zurück. In jenem Jahr feierte Erzpriester Alexander Borisow dort die erste Liturgie. Seit dieser Zeit betreut er die Gemeinde der Schubino-Kirche. Wie andere Geistliche in Russland hat auch Borisow zunächst einen weltlichen Beruf ausgeübt: Er arbeitete viele Jahre lang am Institut für Genetik der sowjetischen Akademie der Wissenschaften.
In der Sowjetzeit, sagt Alexander Borisow, sei es für einen Geistlichen schwieriger gewesen, zu arbeiten. Denn damals hätten sich die Aktivitäten, die der Staat den Konfessionen zugestand, lediglich auf das Abhalten von Gottesdiensten beschränkt.
"Alle anderen Tätigkeiten waren verboten. Wenn ein Geistlicher etwas tat, war das nicht erlaubt. Wir hatten zwar Bibelgruppen und haben Taufen vorbereitet, aber das war illegal. Heute gibt es sehr viel mehr Möglichkeiten. Und wir verstehen, dass unser Dienst vielfältig sein muss. In diesem Sinne ist unsere Arbeit schwieriger. Aber andrerseits freut uns das, denn es gibt keine engen Vorgaben mehr. Was die religiösen Aufgabenbereiche angeht, so sind heute die Erfordernisse viel größer als unsere eigenen Möglichkeiten."
Jeden Sonntagabend versammeln sich in der Schubino-Kirche nicht nur Gläubige zum Gottesdienst. Seit vielen Jahren treffen sich im ersten Stock des Kirchengebäudes auch berufstätige Männer und Frauen. Erzpriester Alexander Borisow hat den Anonymen Alkoholikern in seiner Kirchengemeinde einen Ort angeboten, um sich zu treffen und sich auszutauschen.
Orthodoxe Geistliche, die wie Alexander Borisow auch Sozialarbeit leisten, sind heute in Russland immer noch die große Ausnahme. Mitglieder der Schubino-Gemeinde helfen entlassenen Häftlingen bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft und versorgen ein Kinderheim mit Kleidung, Spielzeug und Medikamenten. Im Frühjahr, Herbst und Winter richten sie im Kirchenschiff eine Suppenküche für Bedürftige ein. Zweimal pro Woche werden dann dort jeweils bis zu 600 Menschen mit warmem Essen verpflegt.
Im Unterschied zur katholischen Kirche, deren Caritas-Verband seit Jahren in Russland Sozialarbeit leistet, kennt die Russisch-Orthodoxe Kirche keine ausgeprägte Soziallehre. Im Jahr 2000 hat die Orthodoxie zwar eine Sozialdoktrin vorgelegt, in der eine breite Palette von Themen behandelt wird. Bemerkenswert sei, wie in dieser ansonsten recht allgemein gehaltenen Sozialdoktrin das Verhältnis von Kirche und Staat in Russland definiert werde, sagt der Religionswissenschaftler Joachim Willems von der Berliner Humboldt-Universität.
"Das traditionelle orthodoxe Ideal des Verhältnisses von Staat und Kirche, das Ideal der Symphonie, wird in der Sozialkonzeption entsprechend ausgelegt. Zitat: 'Ihr Wesen besteht in der gegenseitigen Zusammenarbeit, Unterstützung sowie Verantwortung unter Nichteinmischung in die jeweiligen ausdrücklich vorbehaltenen Kompetenzbereiche.'"
Russland ist ein säkulares Land, Kirche und Staat sind getrennt. So steht es in Artikel 14 der Verfassung des postsowjetischen Russlands. Die orthodoxe Kirche mischt sich nicht in die politische Grundausrichtung des Staatsapparats ein. Damit ist sie für die Machthaber im Kreml zum bequemen Partner geworden. Denn aus dem orthodoxen Ideal der Symphonia, des Zusammenklangs von staatlicher und kirchlicher Autorität, ergibt sich: Die Kirche kritisiert den Staat nicht. Als Dank für ihre Loyalität fordert die Kirche mehr Einfluss auf die Gesellschaft. Der Öffentlichkeitssprecher des Moskauer Patriarchats, Erzpriester Wsjewolod Tschaplin, weist jedoch entschieden zurück, dass die Orthodoxie in Russland Staatskirche werden wolle. Gleichzeitig aber gibt er zu Bedenken:
"Aber man darf das Volk nicht vom Volk trennen. Denn die Kirche ist ein bedeutender Teil des Volkes und der Staat ist in bedeutendem Maße auch das Volk. Wenn man sagt, die Trennung von Staat und Kirche verlange, dass religiöse Weltanschauungen aus Bildung, Politik oder Wirtschaft verbannt werden, so ist das nicht richtig. Die Trennung von Kirche und Staat betrifft nicht die Menschen mit ihrer Weltanschauung, sondern die administrativen Strukturen religiöser Vereinigungen. Deshalb ist für die Orthodoxie und auch für den Islam die Lehre von der Einheit von Kirche, Staat und Macht charakteristisch. Wir halten das für normal. Die politischen Machthaber und die Religionsgemeinschaften sollten am gleichen Strang ziehen. Darin liegt das Ideal der Symphonia, der Zusammenarbeit von weltlicher und kirchlicher Macht."
Seit zwei Jahrzehnten sucht Russland nach einer eigenen Identität, einer nationalen Idee. Sie soll das Vakuum ausfüllen, das nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 und dem Untergang der Sowjetideologie entstanden ist. Ein wichtiger Identitätsfaktor dabei ist die Orthodoxie. Zwischen 60 und 80 Prozent der Russen bezeichnen sich seit vielen Jahren in Umfragen als orthodox, auch wenn sie keine praktizierenden Gläubigen sind. Das weiß auch Regina Elsner, Mitarbeiterin am Ökumenischen Institut der Universität Münster.
"Dass sich die Leute als orthodox bezeichnen, hängt damit zusammen, dass sie sagen, wir sind russisch, das heißt: Wir sind orthodox. Allein daran sieht man, wie stark die Orthodoxie in dieses Identitätsvakuum hinein getreten ist. Die Orthodoxie symbolisiert auch Stabilität und gibt sich sehr viel Mühe, das zu unterstützen, diesen Gedanken von Stabilität und Einheit. Und deswegen ist die Kirche da nicht mehr frei, nicht die offizielle Seite."
Eine derartige öffentliche Gunst des Staates, wie sie seit Gorbatschow, vor allem aber unter den Präsidenten Jelzin und Putin der orthodoxen Kirche zuteilwurde, war diese nicht gewohnt. Vom neuen Zusammenklang von Kirche und Staat ließ sich der Patriarch gern vereinnahmen. Alexii der Zweite machte sich nutzbar, was ihm die Kremlherren Jelzin und Putin in die Hände legten. Für beide Politiker war er ein verlässlicher Partner. Innerhalb der Kirche galt Alexii als pastorales Gewissen. Seine herbe Kritik an Missständen unter der orthodoxen Geistlichkeit war unbequem. Eine kritische Haltung zu Putins Umarmungsstrategien aber hat er nie eingenommen. Alexiis Nachfolger Kirill ging noch einen Schritt weiter: Er nannte Putin ein "Wunder Gottes".
Die orthodoxe Kirche versteht sich unterdessen auch als konservative moralische Instanz. In der russischen Fernsehsendung "Ohne Krawatte" wurde Kyrill vor einigen Jahren – damals noch Metropolit – auch zu seiner Einstellung zur Homosexualität befragt.
"Das ist Sünde. Weshalb wir gegen Gay-Paraden sind? Weil das Propaganda ist und wenn die Machthaber diese Propaganda erlauben, dann wird sie im Bewusstsein der Massen zur Norm. Gay-Paraden sind dann erlaubt, jeder darf hingehen – weshalb es also nicht ausprobieren? Dann können wir ja gleich Paraden von Drogensüchtigen mit Spritzen erlauben."
Ein reserviertes Verhältnis zum Thema Homosexualität gebe es bei den Orthodoxen genauso wie in der römisch-katholischen Kirche, sagt die Religionswissenschaftlerin Regina Elsner. Und gelebte Homosexualität beurteilten beide als moralisch verwerflich. In der orthodoxen Kirche jedoch würden Homosexuelle häufig gar nicht als gleichwertige Menschen angesehen.
Sichtweisen wie diese stoßen in der russischen Gesellschaft auf breite Zustimmung. Nicht nur beim einfachen Volk, sondern auch in gebildeten Kreisen. Kaum jemand wagt es, in der Öffentlichkeit die Rechte von sexuellen Minderheiten zu verteidigen – aus Angst, selbst stigmatisiert zu werden. Homosexualität ist Sünde – diese unter Geistlichen weit verbreitete Ansicht steht damit unwidersprochen im Raum.
Die reformkritische, ja feindliche Haltung der Kirche kommt der reformfeindlichen Haltung des russischen Staates entgegen: Staat und Kirche, Putin und Kyrill, praktizieren auch hier einen Schulterschluss.
Doch so unwidersprochen, wie lange Zeit ist, dieser Kurs auch unter den Russen nicht mehr. Schon wächst die Zahl der Gläubigen, die sich von ihrer Kirche distanzieren. Zu ihnen gehört die Schriftstellerin Jelena Tschizhowa aus Sankt Petersburg.
"Viele Menschen bei uns haben verstanden, dass die heutige russisch-orthodoxe Kirche eine sehr harte, totalitäre Organisation ist. Dass sie die letzte totalitäre Insel in einem autoritären Land ist. Die Kirche kriecht gleichsam hinter unserer Gesellschaft her."
Auch dagegen haben die jungen Frauen der feministischen Punk-Band Pussy Riot protestiert, als sie im Februar in der Moskauer Christ Erlöser Kirche in einem Punkgebet Maria, die Mutter Jesu baten, Russland von Wladimir Putin zu erlösen.
Im August wurden drei Mitglieder der Gruppen wegen Rowdytums, motiviert aus religiösem Hass, zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Zehntausende Menschen in Russland baten den Patriarchen, Milde und Barmherzigkeit walten zu lassen und sich für die Frauen einzusetzen. Doch darauf antwortete der Patriarch nicht. Fundamentalistische Gläubige forderten öffentlich, die Frauen als Hexen zu verbrennen. Auch darauf hat die Kirche nicht reagiert.
In der Sowjetzeit, sagt Alexander Borisow, sei es für einen Geistlichen schwieriger gewesen, zu arbeiten. Denn damals hätten sich die Aktivitäten, die der Staat den Konfessionen zugestand, lediglich auf das Abhalten von Gottesdiensten beschränkt.
"Alle anderen Tätigkeiten waren verboten. Wenn ein Geistlicher etwas tat, war das nicht erlaubt. Wir hatten zwar Bibelgruppen und haben Taufen vorbereitet, aber das war illegal. Heute gibt es sehr viel mehr Möglichkeiten. Und wir verstehen, dass unser Dienst vielfältig sein muss. In diesem Sinne ist unsere Arbeit schwieriger. Aber andrerseits freut uns das, denn es gibt keine engen Vorgaben mehr. Was die religiösen Aufgabenbereiche angeht, so sind heute die Erfordernisse viel größer als unsere eigenen Möglichkeiten."
Jeden Sonntagabend versammeln sich in der Schubino-Kirche nicht nur Gläubige zum Gottesdienst. Seit vielen Jahren treffen sich im ersten Stock des Kirchengebäudes auch berufstätige Männer und Frauen. Erzpriester Alexander Borisow hat den Anonymen Alkoholikern in seiner Kirchengemeinde einen Ort angeboten, um sich zu treffen und sich auszutauschen.
Orthodoxe Geistliche, die wie Alexander Borisow auch Sozialarbeit leisten, sind heute in Russland immer noch die große Ausnahme. Mitglieder der Schubino-Gemeinde helfen entlassenen Häftlingen bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft und versorgen ein Kinderheim mit Kleidung, Spielzeug und Medikamenten. Im Frühjahr, Herbst und Winter richten sie im Kirchenschiff eine Suppenküche für Bedürftige ein. Zweimal pro Woche werden dann dort jeweils bis zu 600 Menschen mit warmem Essen verpflegt.
Im Unterschied zur katholischen Kirche, deren Caritas-Verband seit Jahren in Russland Sozialarbeit leistet, kennt die Russisch-Orthodoxe Kirche keine ausgeprägte Soziallehre. Im Jahr 2000 hat die Orthodoxie zwar eine Sozialdoktrin vorgelegt, in der eine breite Palette von Themen behandelt wird. Bemerkenswert sei, wie in dieser ansonsten recht allgemein gehaltenen Sozialdoktrin das Verhältnis von Kirche und Staat in Russland definiert werde, sagt der Religionswissenschaftler Joachim Willems von der Berliner Humboldt-Universität.
"Das traditionelle orthodoxe Ideal des Verhältnisses von Staat und Kirche, das Ideal der Symphonie, wird in der Sozialkonzeption entsprechend ausgelegt. Zitat: 'Ihr Wesen besteht in der gegenseitigen Zusammenarbeit, Unterstützung sowie Verantwortung unter Nichteinmischung in die jeweiligen ausdrücklich vorbehaltenen Kompetenzbereiche.'"
Russland ist ein säkulares Land, Kirche und Staat sind getrennt. So steht es in Artikel 14 der Verfassung des postsowjetischen Russlands. Die orthodoxe Kirche mischt sich nicht in die politische Grundausrichtung des Staatsapparats ein. Damit ist sie für die Machthaber im Kreml zum bequemen Partner geworden. Denn aus dem orthodoxen Ideal der Symphonia, des Zusammenklangs von staatlicher und kirchlicher Autorität, ergibt sich: Die Kirche kritisiert den Staat nicht. Als Dank für ihre Loyalität fordert die Kirche mehr Einfluss auf die Gesellschaft. Der Öffentlichkeitssprecher des Moskauer Patriarchats, Erzpriester Wsjewolod Tschaplin, weist jedoch entschieden zurück, dass die Orthodoxie in Russland Staatskirche werden wolle. Gleichzeitig aber gibt er zu Bedenken:
"Aber man darf das Volk nicht vom Volk trennen. Denn die Kirche ist ein bedeutender Teil des Volkes und der Staat ist in bedeutendem Maße auch das Volk. Wenn man sagt, die Trennung von Staat und Kirche verlange, dass religiöse Weltanschauungen aus Bildung, Politik oder Wirtschaft verbannt werden, so ist das nicht richtig. Die Trennung von Kirche und Staat betrifft nicht die Menschen mit ihrer Weltanschauung, sondern die administrativen Strukturen religiöser Vereinigungen. Deshalb ist für die Orthodoxie und auch für den Islam die Lehre von der Einheit von Kirche, Staat und Macht charakteristisch. Wir halten das für normal. Die politischen Machthaber und die Religionsgemeinschaften sollten am gleichen Strang ziehen. Darin liegt das Ideal der Symphonia, der Zusammenarbeit von weltlicher und kirchlicher Macht."
Seit zwei Jahrzehnten sucht Russland nach einer eigenen Identität, einer nationalen Idee. Sie soll das Vakuum ausfüllen, das nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 und dem Untergang der Sowjetideologie entstanden ist. Ein wichtiger Identitätsfaktor dabei ist die Orthodoxie. Zwischen 60 und 80 Prozent der Russen bezeichnen sich seit vielen Jahren in Umfragen als orthodox, auch wenn sie keine praktizierenden Gläubigen sind. Das weiß auch Regina Elsner, Mitarbeiterin am Ökumenischen Institut der Universität Münster.
"Dass sich die Leute als orthodox bezeichnen, hängt damit zusammen, dass sie sagen, wir sind russisch, das heißt: Wir sind orthodox. Allein daran sieht man, wie stark die Orthodoxie in dieses Identitätsvakuum hinein getreten ist. Die Orthodoxie symbolisiert auch Stabilität und gibt sich sehr viel Mühe, das zu unterstützen, diesen Gedanken von Stabilität und Einheit. Und deswegen ist die Kirche da nicht mehr frei, nicht die offizielle Seite."
Eine derartige öffentliche Gunst des Staates, wie sie seit Gorbatschow, vor allem aber unter den Präsidenten Jelzin und Putin der orthodoxen Kirche zuteilwurde, war diese nicht gewohnt. Vom neuen Zusammenklang von Kirche und Staat ließ sich der Patriarch gern vereinnahmen. Alexii der Zweite machte sich nutzbar, was ihm die Kremlherren Jelzin und Putin in die Hände legten. Für beide Politiker war er ein verlässlicher Partner. Innerhalb der Kirche galt Alexii als pastorales Gewissen. Seine herbe Kritik an Missständen unter der orthodoxen Geistlichkeit war unbequem. Eine kritische Haltung zu Putins Umarmungsstrategien aber hat er nie eingenommen. Alexiis Nachfolger Kirill ging noch einen Schritt weiter: Er nannte Putin ein "Wunder Gottes".
Die orthodoxe Kirche versteht sich unterdessen auch als konservative moralische Instanz. In der russischen Fernsehsendung "Ohne Krawatte" wurde Kyrill vor einigen Jahren – damals noch Metropolit – auch zu seiner Einstellung zur Homosexualität befragt.
"Das ist Sünde. Weshalb wir gegen Gay-Paraden sind? Weil das Propaganda ist und wenn die Machthaber diese Propaganda erlauben, dann wird sie im Bewusstsein der Massen zur Norm. Gay-Paraden sind dann erlaubt, jeder darf hingehen – weshalb es also nicht ausprobieren? Dann können wir ja gleich Paraden von Drogensüchtigen mit Spritzen erlauben."
Ein reserviertes Verhältnis zum Thema Homosexualität gebe es bei den Orthodoxen genauso wie in der römisch-katholischen Kirche, sagt die Religionswissenschaftlerin Regina Elsner. Und gelebte Homosexualität beurteilten beide als moralisch verwerflich. In der orthodoxen Kirche jedoch würden Homosexuelle häufig gar nicht als gleichwertige Menschen angesehen.
Sichtweisen wie diese stoßen in der russischen Gesellschaft auf breite Zustimmung. Nicht nur beim einfachen Volk, sondern auch in gebildeten Kreisen. Kaum jemand wagt es, in der Öffentlichkeit die Rechte von sexuellen Minderheiten zu verteidigen – aus Angst, selbst stigmatisiert zu werden. Homosexualität ist Sünde – diese unter Geistlichen weit verbreitete Ansicht steht damit unwidersprochen im Raum.
Die reformkritische, ja feindliche Haltung der Kirche kommt der reformfeindlichen Haltung des russischen Staates entgegen: Staat und Kirche, Putin und Kyrill, praktizieren auch hier einen Schulterschluss.
Doch so unwidersprochen, wie lange Zeit ist, dieser Kurs auch unter den Russen nicht mehr. Schon wächst die Zahl der Gläubigen, die sich von ihrer Kirche distanzieren. Zu ihnen gehört die Schriftstellerin Jelena Tschizhowa aus Sankt Petersburg.
"Viele Menschen bei uns haben verstanden, dass die heutige russisch-orthodoxe Kirche eine sehr harte, totalitäre Organisation ist. Dass sie die letzte totalitäre Insel in einem autoritären Land ist. Die Kirche kriecht gleichsam hinter unserer Gesellschaft her."
Auch dagegen haben die jungen Frauen der feministischen Punk-Band Pussy Riot protestiert, als sie im Februar in der Moskauer Christ Erlöser Kirche in einem Punkgebet Maria, die Mutter Jesu baten, Russland von Wladimir Putin zu erlösen.
Im August wurden drei Mitglieder der Gruppen wegen Rowdytums, motiviert aus religiösem Hass, zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Zehntausende Menschen in Russland baten den Patriarchen, Milde und Barmherzigkeit walten zu lassen und sich für die Frauen einzusetzen. Doch darauf antwortete der Patriarch nicht. Fundamentalistische Gläubige forderten öffentlich, die Frauen als Hexen zu verbrennen. Auch darauf hat die Kirche nicht reagiert.