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Das Lager Drancy

Licht und Schatten – das kennt auch die französische Geschichte. Ein besonders dunkler Schatten liegt auf dem Sammel- und Durchgangslager Drancy – nordöstlich von Paris. Der Ort der Schoah in Frankreich. Von hier aus wurden Zehntausende Juden in die Vernichtungslager geschickt.

Von Ursula Welter |
    "Das ist das letzte Bild, das ich von meiner Mutter vor Augen habe."

    Annette Kracjer ist heute eine kleine, alte Dame. In ihrem taubenblauen Kleid sitzt sie inmitten der Baustelle des neuen Museums, das der Staatspräsident persönlich heute einweihen wird.

    "Tausende von Kindern - interniert, zwei drei Wochen mit den Eltern, dann brutal von ihnen getrennt, erst vom Vater, dann von der Mutter, dann nach Drancy gebracht, hierher gleich gegenüber","

    sagt Annette Kracjer, und schließlich an die Deutschen übergeben, die sie Richtung Osten brachten.

    Drancy – in den 30er-Jahren entsteht hier die Cité de la Muette – die Architekten sollen preiswerten Wohnraum schaffen, bauen vierstöckige Häuserreihen, ein Hufeisen, in dessen Mitte der Hof, 200 Meter lang, 40 Meter breit. Rohbau, als die Wehrmacht im Juli 1940 die Gebäude beschlagnahmt. Jacques Fredj, Direktor der Pariser-Erinnerungsstätte Mémorial de la Shoah:

    ""Zunächst war Drancy Internierungslager. Die französischen Kollaborateure der Nazis nutzen es, um die Juden aus der Gesellschaft auszuschließen."

    Das Vichy-Regime hatte selbst und frühzeitig weitreichende Judengesetze erlassen. Nach der Wannseekonferenz 1942 ändert sich der Charakter des Lagers, es wird Durchgangslager.

    "Etwa 63.000 Juden werden von hier aus deportiert, vor allem nach Auschwitz. Das hier war das Vorzimmer des Todes","

    sagt Philippe Allouche, Direktor der Stiftung des Mémorial de la Shoah.

    Die Nazis geben die Befehle, das Vichy-Regime führte sie bereitwillig aus.

    ""Wir Kinder haben keinen Deutschen gesehen"," erzählt auch Annette Kracjer.

    ""Die Verwaltung des Camps war französische Sache. Zunächst jedenfalls. Die1943 übernehmen die Nazis das Kommando komplett."

    Heute beherbergt das einstige Lager im Nordosten von Paris Sozialwohnungen. Auf der Rasenfläche spielen Kinder, in den Fenstern hängt Wäsche zum Trocknen. Die Fassaden sehen aus wie damals, die Gebäude stehen unter Denkmalschutz.

    Als vor einigen Jahren die Fenster ausgebessert wurden, fand man Zeichnungen der Internierten an den Wänden. Auch diese Details werden in der neuen Erinnerungsstätte zu sehen sein, jenseits der Straße, ein heller, lichter Quaderbau, vier Etagen über, zwei unter der Erde, Erinnerungsort, Ort der Begegnung mit Zeitzeugen, Schulungsstätte für die Jugend, Ausstellungsfläche.

    8. Atmo Briefe

    Letzte Briefe, die die Kinder aus Drancy an ihre Eltern schrieben – Väter und Mütter, die meist längst in den Vernichtungslagern gestorben waren; Schilderungen von einstigen Lagerinsassen, "wir haben gesungen, gegen das Elend, den Dreck, die Angst":

    Es habe niemals zur Debatte gestanden, die heutigen Bewohner des einstigen Deportationslagers zu vertreiben, um die Gedenkstätte zu errichten, sagen die Verantwortlichen. Warum brauchte es Jahrzehnte, um vor den Toren von Paris an die Geschichte des Ortes zu erinnern?

    "Sie wissen alle"," sagt der Direktor des Mémorial de la Shoah, ""dass die Erinnerungsarbeit lang und schwierig war, und dass es bis zur Erklärung von Jacques Chirac 1995 dauert, bis ein Präsident die Verantwortung und Beteiligung Frankreichs an der Deportation und Vernichtung der Juden anerkannte."

    "Drancy – der neue Erinnerungsort nordöstlich von Paris ist damit in jeder Hinsicht ein besonderer Ort"," sagt der Stiftungsdirektor Philippe Allouche, ""auch, weil das Projekt nicht aus öffentlichen Mitteln finanziert wurde, sonder mithilfe des Geldes, das den Opfern bei der Einweisung in Drancy von den französischen Gendarmen abgenommen wurde."