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Das neue Schreibheft
Produktive innere Unruhe

Zwei Dossiers stehen im Mittelpunkt von Norbert Wehrs neuem „Schreibheft“: Timea Tankó stellt den ungarischen Dichter István Kemény vor, Holger Fock den französischen Romanautor Patrick Deville. Beide nutzen die Weltgeschichte auf eigenwillige, spannungsreiche Weise für ihre Werke.

Von Christoph Vormweg | 06.05.2020
Buchcover: Schreibheft Nr. 94. Zeitschrift für Literatur
"Rückspiegelsaal" und "Transkaukasus Express" sind die Dossiers über die Dichter István Kemény und Patrick Deville im aktuellen "Schreibheft" überschrieben (Buchcover: Rigodon-Verlag, Hintergrund: imago images / photothek)
Jedes "Schreibheft" ist eine Komposition. Es ist ein eigener Reiz, sich die Anspielungen und Querverbindungen zu erlesen: in der Komposition der Autoren-Dossiers genauso wie in der Anlage des ganzen Hefts. Der Schreibheft-Herausgeber Norbert Wehr lockt und belohnt seine Leser in der 94. Ausgabe mit Fundstücken aus verschiedenen Nachlässen: als Einstieg mit einer Passage aus dem Romanfragment "Die Legende von den Schläfern", in der der jugoslawische Schriftsteller Danilo Kiš einen Konflikt zwischen Christen auf der Flucht thematisiert; als Ausstieg mit Auszügen aus dem Briefwechsel der "Sprachperformer" Oskar Pastior und Thomas Kling, die sich – trotz eines Altersunterschieds von 30 Jahren – in ihren Privatbotschaften sprachakrobatisch befeuerten.
Darin eingebettet sind die Dossiers über den ungarischen Dichter István Kemény und den französischen Romanautor Patrick Deville. Natürlich haben sie nicht rein zufällig den Weg in dasselbe Heft gefunden. Denn beide verbindet eine produktive innere Unruhe, ein Schreiben im Spannungsfeld von "Nirgendszuhausesein" und "überall zu Hause sein können", wie Kemény es ausdrückt. Mehr noch: Beide suchen in ihren Werken einen ganz eigenen Umgang mit der Geschichte der Menschheit. Und zu dieser gehört für den 1961 geborenen István Kemény unweigerlich auch ein Best- und Longseller par excellence: die Bibel. In seinem zitierten Essay "Der Große Mord" kontert er geschickt den Vorbehalt jüngerer Autoren, es sei einfach nur "peinlich", wenn Dichter über vierzig anfingen, sich mit biblischen Motiven zu beschäftigen.
Geschichte als Fundus und Reibungsfläche
Die Gedichte aus seinem Zyklus über den Brudermörder Kain sprechen da für sich. In "Der Mythos" beschreibt Kemény, wie Kain immer wieder die Flucht vor seinen Jägern gelingt. In der dritten Strophe folgt die verstörende Feststellung:
"Viele behaupten, daß im Grunde
niemand vorhabe, Kain zu ergreifen,
daß es gewisse Kreise gebe, die
das Verfahren aufhalten wollten.
Daß wir alle Brudermörder sind, das
schlechte Gewissen unser aller Schatz,
vielleicht ist es das, was diese Leute denken."
Eine Strophe wie diese löst den Selbstanspruch ein, den István Kemény an ein gelungenes Gedicht stellt: Es müsse "Gänsehaut" erzeugen. Seine Lyrik lebt vom Spiel mit den Perspektiven, von den Sprüngen durch die Zeit, von der Überzeugung, dass viele Erscheinungen zyklisch wiederkehren. István Kemény ist – wie seine Übersetzerin Timea Tankó in ihrem klug zusammengestellten Dossier "Rückspiegelsaal" unterstreicht - ein Meister der Ambivalenz. Der ungarische Literaturkritiker Imre Jószef Balázs bestätigt das mit den Worten:
"Was passiert in Keménys Gedichten? Das Neue wickelt er in alte Bilder. Das Alte nimmt er als Grundlage für persönliche Rollenspiele. Das Leblose betrachtet er vom Lebendigen her. Das Böse zeigt er in der fadenscheinigen Maske des Unschuldigen und Harmlosen. Den Platz des Mörders läßt er für einen Moment vom Opfer einnehmen. […] Und das, was er liebt, [betrachtet er] aus der Perspektive der Gleichgültigkeit, des Ekels und der Sachlichkeit."
"Dichtung, gerupft"
Wer sich heute entschließt, Dichter zu werden, sollte sich István Keménys Essay "Dichtung, gerupft" nicht entgehen lassen. In diesem Versuch einer Standortbestimmung arbeitet er seine Zweifel heraus, seine Momente der Ratlosigkeit – aber eben auch sein Beharren darauf, die Verantwortung, die dem Dichter-Talent zufalle, übernehmen zu wollen. Dazu gehört für ihn auch die Forderung an sich selbst und die anderen Nachgeborenen von Auschwitz, Gulag und Hiroshima, ein kritisches Geschichtsbewusstsein zu entwickeln – zumal in Zeiten von Viktor Orbán:
"Mir wurde bewußt, daß ich und meine Generation den Weg des Vergessens betreten hatten. Und daß bald alles wieder würde geschehen können, mit uns oder unseren Enkeln."
Noch weit mehr als in den Texten von István Kemény ist die von Gewaltexzessen geprägte Geschichte des 20. Jahrhunderts in den Romanen der "Abrakadabra"-Reihe von Patrick Deville präsent. Seit der Jahrtausendwende schreibe er "Romane ohne fiktionale Elemente", wie Holger Fock in der Einführung seines gelungenen Schreibheft-Dossiers hervorhebt. Der 1957 geborene Deville umreißt seine Arbeitsmethode wie folgt:
"Zufällige zeitliche oder räumliche Übereinstimmungen von Ereignissen beeinflussen mich stark, sie bilden das Gerüst meiner Bücher. Alle Orte und Daten sind echt, die Schaffung der Zusammenhänge kommt im Nachhinein. Literatur bedeutet hauptsächlich, wie in der Malerei und der Musik, Formen zu finden."
Manischer Spurensucher
Wie die im "Schreibheft 94" abgebildeten Fotos aus seinen Notizbüchern zeigen, ist Patrick Deville ein manischer Spurensucher: in der Literatur, in Tagebüchern, Archiven und an den Orten, wo seine Protagonisten gelebt haben: sei es in Mittelamerika, wo der Glücksritter William Walker Nicaragua unterjochen wollte, sei es in Mexiko, dem "Land der Emigranten und Entwurzelten", wo der versoffene Schriftsteller Malcom Lowry und der russische Revolutionär Trotzki untertauchten, oder in Asien, wo der Schweizer Arzt und Forschungsreisende Alexandre Yersin den Impfstoff gegen die Pest entwickelte.
Stets verfolgt Deville – frei nach Plutarchs "Parallelbiografien" - die gleichzeitigen, abenteuerlichen Lebenswege verschiedener Figuren. Wie er sie mit dem welt- und lokalgeschichtlichen Kontext verwebt, wie er selbst als zuweilen humoriges "Gespenst aus der Zukunft" präsent ist – das alles kann man in der Analyse von Dominique Viart, Professor für französische Literatur in Nanterre, nachlesen - oder es selbst erkunden: am Beispiel eines erstmals auf Deutsch vorgestellten Auszugs aus Devilles Roman "Die Versuchung der Feuerwaffen". Unter dem Titel "Transkaukasus Express" entführt uns der Erzähler 1999 in die Randzonen des damals wütenden Tschetschenien-Krieges. Hier ein kurzes Beispiel für Devilles unstillbaren Hunger nach Geschichten und für die Dynamik seiner Romanprosa:
"Auf den Serpentinen folgen wir einem isabellgelben Mercedes Benz [...]. Man würde gern die Geschichte dieses sehr alten, mit langsamem Tempo zur Front fahrenden Automobils schreiben, das vermutlich vor dem Krieg von einem Mitglied der damals blühenden deutschen Kolonie in Tiflis importiert worden war. Wo hatte man es seither versteckt, damit es einen Weltkrieg, fünfzig Jahre sowjetischer Beschlagnahmungen und die fünf Jahre Unruhen und Bürgerkrieg [...] überstehen konnte? Kommt es aus einem unterirdischen Bunker? […] Hat es all die Jahre in seine Einzelteile zerlegt in einem Keller verbracht?"
Auch diesmal ist das von Norbert Wehr herausgegebene "Schreibheft" prall gefüllt mit literarischen und Hintergrund liefernden Texten und Informationen. Es lohnt, sich von Timea Tankó und Holger Fock bei der Entdeckung von István Kemény und Patrick Deville führen zu lassen. Und das gilt ganz sicher auch gerade für die Leser, die das eine oder andere ins Deutsche übersetzte Buch von ihnen bereits kennen.
Norbert Wehr (Hrsg.): "Schreibheft Nr. 94. Zeitschrift für Literatur"
Mit Dossiers zu István Kemény (zusammengestellt von Timea Tankó) und Patrick Deville (zusammengestellt von Holger Fock)
Rigodon-Verlag, Essen. 164 Seiten, 15 Euro.