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Das Tier als Gegenwelt

In Alvis Hermanis' Inszenierung kommt Kaspar Hauser als lallender Riesenbub daher, der kaum in die Wohnstube passt. Als seine wichtigtuerischen Betreuer fungieren - leider ausdrucksschwache - Puppenwesen. Eine Assoziation mit Gulliver in Liliput ist da vorprogrammiert.

Von Cornelie Ueding |
    Vor dem Zuschauerpodest im schwarzdunklen Raum: ein schneeweißes kleines Pferd im Lichtkegel. Märchenhaft schön und völlig fehl am Platze. Bemitleidenswert. Deutlich eine Chiffre für Kaspar Hauser, schon bevor dieser von einem winzig kleinen Menschen aus einem großen Sandberg ausgebuddelt wird. Der sprachlose Findling ist ein riesiger ungelenker Kasper, mühsam muss er auf die Beine gestellt werden und schief bleibt er stehen. Gestrandet im spießigen Wunderland eines kleinkarierten Biedermeier: ein retardierter, lallender Riesenbub, der kaum in die Wohnstube passt und sich knapp zwei Stunden lang durch den Miniaturporzellanladen seiner wichtigtuerischen Betreuer quält.

    Permanent muss man dabei an Gulliver in Liliput denken, denn Regisseur Alvis Hermanis hat diese Puppenstube mit Puppenwesen bevölkert: Professoren, Doktoren und Bürgermeister nebst Gattinnen – all die Nürnberger Bürger, die den Alien Kaspar Hauser wie ein neues Spielzeug bestaunen und umgehend eifrig belehren, sind mit Kostüm, Perücke und Schminke biedermeierlich ausstaffierte – Kinder; Püppchen, die ihrerseits von Puppenspielern gelenkt, bewegt und mit Sprache versehen werden. Ein aparter und auf den ersten Blick ebenso frappierender wie poetischer Einfall, wenn die kleinen Akteure mit kleinen konventionellen Gesten und maschinell abgezirkelten Gefühlsäußerungen den Koloss in der Wohnstube untersuchen, beschnüffeln, umschwärmen. Wenn sie ihn später weiterhin mit ihren kleinen Händen und kleinen Gedanken belehren und bekehren wollen, wenn seelenlose Automaten ihm etwas von "der Seele" erzählen, lieblose Marionetten ihn mit Musik und Poesie konfrontieren und fantasielose Miniaturroboter von Magie reden. Das ist, zugegeben, niedlich, zuweilen amüsant – aber alles andere als theatralisch wirklich tragfähig: In 34 Bildern wiederholt – Kaspar Hauser und die Musik, Kaspar Hauser begegnet dem Traum, Kaspar Hauser und die Mutter ... und die Finsternis... und die Frauen ... und die Furcht ... Kaspar Hauser schreibt Tagebuch:

    Beim Lesen sind die kurzen, pointierten Sequenzen anrührend. Für die Aufführung sind sowohl die Einengung Kaspar Hausers auf holpriges Sprechen wie das an Ambivalenzen arme Ausdrucksrepertoire der gespielten Bürgerpuppen wie eine Falle. Sicherlich ist Öde eine Signatur der belehrselig-selbstgerechten Biedermeierwelt. Aber nie hätte sie zum Merkmal der Inszenierung werden dürfen. Das Tier als Gegenwelt und die Zuschauer, wir alle als Gaffer – warum nicht. Auch die Lehre, dass wir um keinen Deut besser sind als die geschäftig selbstzufriedenen Winzlinge auf der Bühne, hat man schnell begriffen. Und natürlich auch, dass der einzig wirkliche Mensch eben gerade das vermeintlich tumbe Riesenbaby ist. Das alles sieht und begreift man. Aber das lebendige weiße Pferd, das rätselhaft gespensternd auf der Bühne verharren muss, ist fast der einzige Anker für Emotionen.

    Bei dem Reigen gefälliger kleiner Einzeleinfälle will sich kein Gefühl einstellen, weder Mitleid mit Kaspar Hauser als Gesellschaftsspielzeug noch Schmerz über die engherzige Erziehungsdressur, über dieses zerstörte Leben und seinen einsamen Tod. Wir schauen halb interessiert und ein wenig amüsiert zu, begleitet von stehender Musik auf vier stehenden Klavieren;

    Licht an – Licht aus. Kaspar aus-, und als er zu nichts taugen will, wieder eingebuddelt. Schade.