Archiv

DDR-Jugend
Aufbruch im Osten

Das Ende der Kindheit in der DDR, zwischen Abenteuerlust und Angepasstheit, schildern der Zeichner Mawil und die Autorin Dorit Linke in zwei Büchern. Für die jugendlichen Protagonisten steht dabei nicht die Politik, sondern meistens Freundschaft im Vordergrund.

Mawil und Dorit Linke im Gespräch mit Ute Wegmann |
    Beginn des Abrisses der Berliner Mauer am Brandenburger Tor, im Hintergrund die Siegessäule
    Der Fall der Mauer fiel für viele Jugendliche mit dem Beginn der Pubertät zusammen - zwei Bücher illustrieren die Aufbruchsstimmung dieser Generation. (imago/Imagebroker)
    Mit Ute Wegmann und dem Illustrator Markus Witzel, besser bekannt als Mawil, und der Schriftstellerin Dorit Linke. Was die beiden verbindet: Sie sind in den 70er-Jahren in der DDR geboren. Markus Witzel 1976 in Ost-Berlin, Dorit Linke 1971 in Rostock.
    Ute Wegmann: Im Jahr 1989, im Jahr des Mauerfalls, war Markus Witzel 13 Jahre alt, so alt wie sein Held Mirco in dem Comic "Kinderland". Dorit Linke stand damals kurz vor dem Abitur, ähnlich wie ihre Erzählerin Hanna, und lebte in Rostock. So verwundert es nicht, dass "Kinderland", die Geschichte einer Freundschaft zweier Außenseiter, im Osten Berlins angesiedelt ist. "Jenseits der blauen Grenze", die Fluchtgeschichte zweier systemkritischer Jugendlicher, spielt an und in der Ostsee.
    Kindheit und Jugend vor dem 9. November 1989, erlebt aus der Perspektive junger Menschen, die sich nicht anpassen möchten, das ist unser Thema heute.
    Wie ist Ihre Erinnerung an Kindheit und Jugend in den 80er Jahren in Rostock, Dorit Linke?
    Dorit Linke: Ich denke, ich hatte eine recht normale Kindheit, typisch für die Menschen, die in der DDR groß geworden sind. Und nur zum Ende der 80-Jahre hin wurde es dann etwas turbulenter und auch interessanter für junge Leute, dort zu leben.
    Wegmann: Welche Art von Turbulenzen?
    Linke: Höhepunkt war ja der Mauerfall. Aber auch schon die Zeit davor, als das Land in Unruhe geriet oder das System zu wackeln begann. Die Bewegung hat man ja schon im Vorfeld mitbekommen und auch interessiert verfolgt.
    "Viel Westfernsehen geguckt"
    Wegmann: Wie haben Sie das als Jugendliche mitbekommen?
    Linke: Schon übers Westfernsehen. Wir haben viel Westfernsehen geguckt in der Familie und haben in der Hochphase auch beide Medien regelmäßig verfolgt. Also ich erinnere mich, dass man zuerst Aktuelle Kamera gesehen hat und dann die Tagesschau und verglichen hat, wer was sagt. Die Informationen kamen aber in erster Linie über das Westfernsehen, weil man ja im Osten nicht alles mitbekommen hat, was vor sich ging, gerade bezüglich der Botschaften, die Entwicklung in Ungarn, die Sache mit dem Eisernen Vorhang, das kam alles über Westfernsehen.
    Wegmann: Mawil, in der Kindheit ist für Außenseiter jeder Tag eine Herausforderung, egal wo man lebt. Aber Mirco, klein, bebrillt, von den Großen, den FDJlern, gehänselt, immerhin ein Tischtennis-Ass. Wie viel ist hier autobiografisch? Was war das Besondere an Ihrer Kindheit?
    Mawil: Meine Kindheit war auch ziemlich normal. Ich bin in Ostberlin groß geworden, da wo heute ganz viel Tourismus abgeht, das war damals der Rand der Stadt, Mitte, Rosenthaler Platz. Es war eine schöne Kindheit, kam mir manchmal fast vor wie auf dem Dorf, weil es gab wenig Verkehr; wenn man aus dem Haus kam, konnte man eh nur in die eine Richtung laufen, die andere war die Straßenbahnendhaltestelle, die fuhr dort ne Schleife und da ging es eben nicht weiter. Das war man gewohnt, das hat man nicht infrage gestellt. Man wusste auch, dass da ein Zusammenhang besteht zwischen den Reklamesendungen im Fernsehen, dass es diese Sachen dort gibt, aber man sah von weiter weg nur eine graue Mauer, wo man sich nicht rangetraut hat, weil es verboten war. Bei mir war es ja auch nur die Kindheit.
    Später, fünf Jahre älter, wäre ich vielleicht auch nur angeeckt. Ich bin nur mitgeschwommen, hab geguckt, was die Eltern machen und hab versucht, es so ähnlich zu machen. So ähnlich geht es auch Mirco in meinem Buch. Der ist zwar nicht unbedingt beliebt, aber der schwimmt so mit, schlängelt sich durch. Nur Torsten, sein Freund, eckt richtig an. Torsten hat es so nicht gegeben, aber er ist eine Mischung verschiedener Biografien von Freunden und Bekannten. Zum Beispiel unsere Nachbarmädels, zwei Punkermädchen, die waren zwei Jahre älter, die sind zur Mauer, als die Konzerte in Westberlin stattfanden, und dann war am nächsten Tag die Stasi da. Man hat überall mitbekommen, dass Leute, die mutiger waren, angeeckt sind.
    Wegmann: Haben Sie als Kind auch schon solche Erlebnisse gehabt wie Frau Linke, dass Sie über das Fernsehen etwas mitbekommen haben, dass da etwas im Umbruch ist?
    Mawil: Man hat ganz schnell gelernt, dass es eine private Meinung zu Hause gibt und eine in der Schule. Und man wusste relativ schnell, was man wo sagen darf. Und dass die Eltern bestimmte Themen besprachen, wenn sie dachten, die Kinder schlafen schon oder hören nicht zu. Haben sie aber doch. Aber man wusste immer, was man nur mit besten Schulkumpels bespricht, und musste sich vergewissern, was man wem erzählen kann.
    "Help - A love you Honni" - Graffiti auf dem Palast der Republik in Berlin (undatierte Aufnahme)
    "Help - A love you Honni" - Graffiti auf dem Palast der Republik in Berlin (undatierte Aufnahme) (Ute Wegmann)
    Respekt durch Zeichnen
    Wegmann: Sprechen wir übers Illustrieren: Graffiti spielt in ihren Geschichten, in einigen Ihrer Comics, immer mal wieder eine Rolle. Hat das so begonnen bei Ihnen?
    Mawil: Das Zeichnen hat bei mir begonnen als Kind, so wie alle Kinder viel zeichnen. Das wurde dann automatisch zu meinem Markenzeichen. Ich war dann der, der so gut zeichnen konnte. Der, der in der Schule schon Illustrationsaufträge gemacht hat, Logos entworfen hat für die Firma von einem Vater eines Schulfreundes. Klar, als der Sprühertrend losging, da konnte ich mir durch das Zeichnen Respekt verschaffen, musste nicht hart auftreten.
    Wegmann: In beiden Geschichten schauen wir auf jüngere und ältere Jugendliche, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen möchten. In "Kinderland" ist das Mircos Freund Torsten, der schon auf dem Cover mittig mit verschränkten Armen und zusammengewachsenen Augenbrauen ohne Thälmannpionier-Kleidung seine Systemverweigerung demonstriert. Und Mirco, der von zuhause aus nicht der Angepasste ist, unter anderem weil er seine Messdienertätigkeit verschweigen muss. Zwei sehr unterschiedliche Jungs werden in "Kinderland" Freunde. Verbindet sie das Außenseitertum oder ist Torsten, der Held, ein Vorbild für Mirco, den Antihelden?
    Mawil: Eigentlich sind beide keine Helden. Torsten ist vielleicht zu mutig und zerrissen zwischen der Mutter, die auch gegen das System ist und den anderen. Er wäre selber gern ein Teil der Gemeinschaft, ist aber zu stolz. Und Mirco, der zu ängstlich ist, möchte cooler sein, sich nicht mehr alles gefallen lassen. Dadurch sind beide aufeinander angewiesen: Der Mutige, der den Ängstlichen beschützen kann. Und der Ängstliche, der den Mutigen in die Gemeinschaft integriert. Das suchen und haben sie aneinander. Eigentlich sind sie zu unterschiedlich. Ich weiß nicht, ob die beiden noch nach der Wende befreundet wären.
    Wegmann: Da endet ja das Buch, kurz nach der Wende.
    Mawil: Ja. Genau. Da endet es.
    Über die Ostsee
    Wegmann: In "Jenseits der blauen Grenze" begeben sich Andreas und Hanna auf eine lebensgefährliche Flucht über die Ostsee, weil – so zeigen es die Rückblenden – beiden Abitur und Studium verwehrt werden, da sie, vor allem durch Hannas widerständigen Großvater, in Ungnade gefallen sind. Für Andreas hatte das bereits einmal dramatische Folgen, er wurde in einen Jugendwerkhof, eine Art Gefängnis oder Umerziehungsanstalt eingewiesen. Nach einem weiteren Vorfall, der sie in den Fokus der Staatsmacht setzt, ist für ihn ein Weiterleben in der DDR undenkbar. Also entweder Flucht oder Freitod. Hanna ist die erfahrene Schwimmerin für die Flucht und beschließt, Andreas zu begleiten. Ist das aus Hannas Perspektive eher ein Freundschaftsdienst, den sie dem Freund mit allen Konsequenzen erweist, als eine Flucht?
    Linke: Es ist schon eine Mischung aus beidem: Einerseits möchte sie fliehen, weil sie ja auch ihr Abitur nicht machen darf, nicht studieren kann, obwohl sie bis dahin ein unauffälliges Leben geführt hat. Nicht so wie Andreas, der schon rebellisch war, ist oft angeeckt, hat seine Meinung gesagt, kommt aus einem schwierigen Elternhaus, hat auch nicht den Rückhalt, den Hanna teilweise noch hatte. Der Gedanke der Flucht ist nicht völlig abwegig, aber sie sieht auch, dass Andreas dem vielleicht nicht gewachsen ist und dass sie ihm helfen möchte. Es ist auch eine Geschichte über eine Freundschaft, dass sie sagt, ich begleite dich, ich lass dich nicht alleine.
    Wegmann: Freundschaft ist ein zentrales Thema in beiden Werken, in "Kinderland" und "Jenseits der blauen Grenze". Freundschaft zeichnete sich auch aus durch geheime Tauschgeschäfte, das hatte ja etwas sehr Verbindendes. Hatte Freundschaft einen anderen Wert, der in einer satteren Gesellschaft verloren geht? Vermisst man diese Intensität des Miteinanders?
    Mawil: Das kann sein. Auf jeden Fall hat jeder, weil man mit dem Staat nicht zurechtkam, sich in private Nischen geflüchtet. In undergroundige Hobbies oder Kleingartenverein, in Bandprojekte oder Kunstprojekte. Es war natürlich wichtig, wem kann man trauen, mit wem kann man offen reden. Ich kann es schlecht vergleichen, kenne den Osten als Kind, den Westen als Jugendlicher, aber es wird oft darüber geredet, dass es zu DDR-Zeiten einen anderen Zusammenhalt gab.
    Linke: Ich kenne ja auch nur die Kindheit in der DDR. Es war schon so, dass man gucken musste, mit wem freundet man sich an, und man war auf diese Leute angewiesen. Man hat Geheimnisse geteilt, man hat Verbotenes gemacht, und wenn es nur der Schwarzmarkt auf der Wannemünder Mohle war, der auch in meinem Buch vorkommt, wo sie dann Teile aus der Bravo verkaufen, und man wusste, das sollte man nicht jedem erzählen in der Schule. Ich glaube, dass Freundschaft in der DDR ein anderes Selbstverständnis hatte, auch zwischen Erwachsenen, das hört man ja auch oft, dass einige sehr feste Freunde hatten, nicht sehr viele und denen blind vertraut hatten, was manchmal gerechtfertigt war, manchmal nicht, das war die Tragik am Ende. Der Zusammenhalt ist schon größer gewesen, wobei man sagen muss, dass die Zeiten ja auch komplett anders waren. Es gab kein Facebook, kein Internet, kein Fernsehen.
    Mawil: Kein Telefon.
    Linke: Genau, Telefon gab es auch nicht. Man ging vorbei, hat geklopft, geguckt, ob jemand zuhause ist zum Spielen, ist dann auch mit Leuten mal losgezogen, die nicht die erste Wahl waren. Es haben sich auch eher Rudel gebildet, als jetzt der Fall ist.
    Mawil: Wenn man mit jemandem verabredet war um 14.30 ...
    Linke:. ... der kam dann auch.
    Mawil: Man war dann auch nur mit dem befreundet, der um 14.30 da war. Man konnte nicht kurz mal anrufen, sagen, man kommt ne viertel Stunde später ...
    "Ich möchte die Welt selber sehen"
    Wegmann: Letztendlich habe ich bei allen Figuren das Gefühl gehabt, dass sie gerne in der DDR geblieben wären, wenn ihnen die Freiheit des Reisens und Redens, die Freiheit der kritischen Auseinandersetzung gewährt würde.
    Dorit Linke, es war gar nicht so sehr der Glanz des Westens, sondern vielmehr der verständliche und ohnehin normale Wunsch der Jugendlichen, das Leben selbst in die Hand zu nehmen?
    Linke: Irgendwann ist man in ein Alter gekommen, auch ich, wo man sich nicht verbieten lassen möchte, sich zu bewegen. Ich möchte die Welt selber sehen, selber entscheiden, nicht irgendwelchen Regeln folgen. Bei meinen Figuren ist es schon so, dass sie nicht explizit sagen, wir wollen jetzt in den Westen, sondern sie wollen was erleben, sie wollen raus. Und wenn man sich mit dem, was im eigenen Land passiert, nicht mehr identifizieren kann, wenn es Ungerechtigkeiten gibt – es ist ja auch ein Buch über eine große Ungerechtigkeit- es sind Kinder, die sich vielleicht nicht immer richtig verhalten haben, aber sie haben nicht grundsätzlich etwas falsch gemacht. Sie haben mal unachtsam etwas gegen die herrschende Ideologie gesagt, aber nicht wirklich schlimme Dinge getan, und wenn das dazu kommt, dann lockt der Westen natürlich mit all seinen Reizen. Und er verspricht ein besseres Leben, und man beschließt, zu fliehen.
    Wegmann: Bei Mirco ist das ein bisschen anders: in "Kinderland" geht es ums "Rübermachen". Eine Klassenkameradin ist offensichtlich gerade ausgereist, auch andere setzen sich immer wieder ab. Im Gespräch darüber sagt Mirco zu Torsten: "Ich will ja gar nicht abhauen ... Ich geh einfach nicht. Ich bleib hier ... Echt! Pionierehrenwort! ... Indianerehrenwort?" Torsten ärgert sich über einen irreparabeln Tischtennisschläger: "Scheiß Osten!" Aber beide – nun sind sie noch kindlicher – wollen nicht weg?
    Mawil: Ich weiß, dass es für mich als Kind ein Riesendrama war, als die Eltern mal überlegt hatten umzuziehen, nur ins Grüne. Man hatte als Kind ja gar keinen Bock in eine andere Schule zu kommen, egal ob es Osten oder Westen war. ... Ein Klassenkamerad – ähnlich wie im Buch, der wohnte in Pankow, das war ein weiter Weg von Mitte nach Pankow ihn zu besuchen, der hat dann den Umweg gemacht über Ungarn, Auffanglager Westdeutschland, Westberlin und wohnte dann paar Monate später im Wedding, also näher dran. Das war für mich praktischer, aber er hatte alles verloren, sein ganzes Kinderzimmer und er hat auch einiges durchgemacht. Da sind einige Lebensläufe ganz schön durcheinandergeraten in der Zeit.
    "Knalltüten" im Westen
    Wegmann: Es gibt auch so etwas wie einen kritischen Blick auf den Westen, der vor allem bei Dorit Linke immer wieder anklingt: Jens, der mittlerweile mit den Eltern die DDR verlassen hat, sagte bevor er ging: "Die DDR ist das Hausschwein des Westens." Und Andreas spricht mit einem Blick auf die arroganten oder gönnerhaften Westdeutschen von "Knalltüten": Wie war der Blick auf die - auch das ein Zitat "milden Westgaben"?
    Linke: Sehr facettenreich. Es gibt in meinem Buch auch Passagen, die genau das Gegenteil sagen. Als Kind erlebte man eben die Szenen vor dem Intershop, einige haben sich gut benommen und andere haben sich total daneben benommen. Ich hab mal in einer Kaufhalle gearbeitet, und da kamen Westdeutsche rein, die haben sich lustig gemacht, über die Produkte, die man dort kaufen konnte und wie blöd, wir alle waren, dass wir überhaupt dort leben wollten. Da hatte man auch einen Stolz und dachte: Ihr könnt uns mal. Was redet ihr denn hier? Erstens war klar, wir können nicht raus, und dann kam aber auch der Trotz: Wir wollen nicht raus, wenn ihr so
    mit uns umspringt. Die andere Seite war aber auch, dass man regelmäßig tolle Erlebnisse hatte. Wir haben immer Pakete aus dem Ruhrgebiet von einer netten Tante bekommen, die sich Mühe gemacht hat und das rechne ich ihr noch heute hoch an. Man hat sich immer gefreut über ein Paket.
    Es kam immer drauf an, wie man behandelt wurde. Wenn man das Gefühl hatte, das sind jetzt die milden Gaben, ihr armen, armen Kinder, dann hat sich was geregt, vielleicht hat da auch die Ideologie gegriffen, die man mitbekommen hat: Wir leben in der besseren Gesellschaft. Als ihr!
    Wegmann: In beiden Werken habe ich den Eindruck, dass die strengeren Vertreter des Systems die Frauen sind, die Lehrerinnen. Sie Mawil, haben die ausgesprochen strenge Frau Kranz etabliert, die mich an den Vorsitzenden der Pionierorganisation Ernst Thälmann erinnert. Ist das so beabsichtigt?
    Mawil: Da gibt es viele Ideen, es ist auch eine Anspielung an Ährenkranz, an Egon Krenz, die lila Haare ist eine Reminiszenz an Margot Honecker mit ihrer doofen Frisur. Das hat Spaß gemacht, sich diese Figuren auszudenken. Klar, die Pionierleiterin war an jeder Schule offiziell immer die rote Socke, weil die war ja für die politische Bildung zuständig. Aber später hat man schon gemerkt, dass wenn ein Schüler was Kritisches nachgefragt hat, dass die ganz schön ins Schwitzen kamen.
    Wegmann: Es gibt viele systemkritische Witze. Wurden die wirklich in der Art öffentlich erzählt? War das so eine Art DDR-Humor?
    Linke: Ja, das war DDR-Humor. Öffentlich nicht. Man erzählte sich das untereinander, die besten Freunde, wenn man mehr oder weniger in einem sicheren Umfeld war. Man musste aufpassen. In der Schule die zu erzählen, wäre nicht so schlau gewesen.
    Wegmann: Um den Hörern eine kleine Kostprobe zugeben, ich zitiere nicht wörtlich:
    "Sigmund Jähn wird neuer Kaufhallendirektor. Warum? Er kennt sich gut aus mit leeren Räumen ..."
    Kennen Sie das auch?
    Mawil: Ich habe ja Dorits Buch gelesen. Ich fand es sehr, sehr mutig. Vor allem dieser Jensi.
    Linke: Ja, es gab immer welche, die hörten die Witze zuhause. Und um cool zu sein, haben sie dann gerade die Sachen in der Schule erzählt.
    Wegmann: Aber das war schon DDR-Humor, das eigene System kritisch auf die Schippe zu nehmen?
    Linke: Es war eine Waffe. Man konnte ja nicht so wahnsinnig viel tun. Und wenn der Witz gut war, und er war oft gut durch die Polarisierung, und dadurch dass es verboten war, hat man sich gerächt an der Ungerechtigkeit, die man im Alltag erlebt hatte. Es waren ja komische Witze. Es ist heute vielleicht nicht mehr nachvollziehbar, aber ...
    Wegmann: Über den mit Jähn konnte ich schon lachen ...
    Linke: Ja klar ...
    Pubertät und Mauerfall
    Wegmann: Mawil, schon die ersten Seiten Ihres Comics dokumentieren Aufbruch. Noch stehen Sandmännchen und Holzspielzeug in den Regalen, da plagt den 13-jährigen Mirco schon die Morgenlatte. Aufbruch in die Pubertät, Aufbruch in eine Zeit des Widerstands gegen Bestimmer im Allgemeinen?
    Mawil: Bei mir fiel der Mauerfall mit dem Beginn der Pubertät zusammen, das war eine Zeit, wo man sowieso versucht hat, seinen Weg zu finden. Es war der Zeitpunkt, wo ich in diesem altmodisch abgeschotteten Land lebte und genau der Zeitpunkt, wo das Land zu eng geworden wäre, da fiel die Mauer und alles war offen. Ich wollte durch diese Andeutungen zeigen, dass das gerade losgeht bei Mirco.
    Wegmann: Jetzt muss ich doch noch mal fragen: Wie viel Prozent ist denn autobiografisch?
    Mawil: So 40 Prozent. Ich musste ein Kinderzimmer zeichnen, hab dann im Netz noch mal nach typischen Spielsachen geschaut, aber hab es letztendlich so aufgebaut, wie es bei mir zu Hause aussah.
    Wegmann: Die Tischtennisplatte wird der Ort, an dem Konflikte ausgetragen werden, an dem sich Können und Versagen zeigen. Klassisch meist sechs Bilder auf einer Seite, stehen immer die Figuren im Mittelpunkt, aber immer wieder bilden Zeit und Ort die Folie der Geschichte.
    Das Tischtennisspielen zieht sich durch den ganzen Comic, gipfelt in einer 30-seitigen Spielszene mit extremen Perspektiven und ungeheuerlichen Verrenkungen der Agierenden. Witzig, spannend, dramatisch illustriert.
    Das Besondere ist, dass der Comic nicht von ungeheuerlichen Actionszenen lebt, sondern von Schul- und Alltagsszenen, und das hier ist dennoch eine Actionszene, alle Szenen fein psychologisch beobachtet im Dialog und ebenso fein und sensibel bebildert. Gibt es für Sie ein Vorbild, einen Comic-Gott, der Sie prägte?
    Mawil: Geprägt wurde ich Zeit meines Lebens von französischen Comics. Man hat das Gefühl, dass die Franzosen ein Händchen haben, Alltagsszenen richtig stimmig wiederzugeben. Wenn man sich abends durchs Fernsehprogramm zappt, sieht man sofort, ob es ein amerikanischer, deutscher oder französischer Film ist. Bei den amerikanischen weiß man sofort, der wird sterben, der kriegt die Frau, aber die Franzosen zeigen so viele Einzelszenen, da bringt jemand den Mülleimer runter, also Aktionen, die die Handlung nicht zwingend vorantreiben, sodass man denkt: Ach, den Typen kenn ich, der wohnt doch bei mir nebenan. Das ist meine große Leidenschaft. Ich bin jetzt nicht der große Hollywood-Geschichtenerzähler, sondern ich liebe es, kleine Alltagssachen zu verewigen.
    "Ich müsste mir mehr Skizzen machen"
    Wegmann: Das heißt, sie sind jemand, der den ganzen Tag irgendwo sitzt und Leute beobachtet?
    Mawil: Beobachten ja, aber ich müsste mir noch mehr Skizzen machen. Wenn ich eine Idee für eine Geschichte habe, fallen mir immer gleich ganz viele Details ein, typische Handbewegungen, typische Sprüche, typische Orte. Ich weiß immer, was an der Wand hängt oder auf dem Tisch liegt.
    Wegmann:: Arbeiten Sie denn mit Skizzenbüchern oder geht das direkt los?
    Mawil: Für die Comics gibt es vorher Skizzen. Für jede Seite, die im Buch gezeichnet ist, die wird vorher einmal in einem Storyboard aufgezeichnet. Das bleibt ein paar Tage liegen, dann lese ich mir das noch mal durch, dann sehe ich, wo es klemmt, wo ich etwas wegnehmen muss. Wenn das im Kleinen funktioniert, dann zeichne ich das richtig ordentlich.
    Wegmann:: Mit welchem Material arbeiten Sie?
    Mawil: Bleistift und Photoshop.
    Happy End wäre "Verrat"
    Wegmann: Dorit Linke, Ihnen ist es gelungen, nach einem atemberaubenden Einstieg in die Fluchtgeschichte, den Leser dramaturgisch mitzunehmen, über Wasser zu halten, indem Sie in Rückblenden chronologisch den wachsenden Druck auf die beiden Jugendlichen erinnern. Auch hier mit viel Lokal- und Zeitkolorit. Sprachlich verdichtet sich Hannas Erzählung zu subjekt- oder verbfreien Halbsätzen oder Einwort-Sätzen, verknappt sich mit der Abnahme der Kraft, der Kondition, der Hoffnung der beiden Schwimmer und ihrem zunehmenden inneren Stress. Hanna verliert Andreas, mit dem sie durch ein Seil verbunden war. Ein offenes Ende! War das von Anfang an klar?
    Linke: Ja, das wollte ich so. Was ich tatsächlich sehr schwierig gefunden hätte, wäre ein Happyend gewesen, weil ja viele Leute auch ihr Leben gelassen haben, an der Mauer, an der Grenze, wo auch immer oder die versucht haben, auch übers Meer zu fliehen. Das hätte ich als Verrat empfunden, den Menschen gegenüber, die ihre Angehörigen verloren haben, die den Kampf gekämpft haben. Das offene Ende hat ja was Versöhnliches. Ich finde Bücher toll, wenn es gut gemacht ist, wenn man sich selber überlegen kann, wie die Geschichte hätte weitergehen können. Diese Gedanken kann man nur dann haben, wenn es offen ist. So kann es sich jeder ein bisschen aussuchen, das war mir wichtig, das so zu machen.
    Wegmann: Ich war Ihnen dankbar für das offene Ende. War das schwer, den Ton zu finden?
    Linke: Nee, ich hab mich ja schon viele Jahre mit den Figuren beschäftigt und verschiedene Fassungen gehabt, und deswegen fiel mir das leicht, weil ich kannte die schon sehr gut.
    Wegmann: Wir können leider keinen Ausschnitt hören.
    Linke: Auf meiner Homepage kann man sich eine Hörprobe anhören, die ich selber gelesen habe.
    Wegmann: Diese ersehnte Freiheit – wann und wodurch war das zum ersten Mal spürbar?
    Linke: Ich bin auf den Demonstrationen gewesen in Rostock, das war immer am Donnerstag und das ging im Oktober los. Da spürte ich, da passiert was und ich fühlte mich auch sehr aufgehoben. Es kamen viele Menschen zusammen, die gingen in die Kirche und später mit Kerzen durch die Stadt. Die Bilder kennt man ja. Da merkte ich, es wird sich was verändern. Vielleicht war ich jung und naiv, aber ich war der festen Überzeugung, das wird gut ausgehen müssen. Das geht gar nicht anders, weil es so viele sind.
    Mawil: Ich war ja schon bei den Thälmann-Pionieren, da gab es den Thälmannpionierausweis, mit einem Foto von Honecker, der ja dann ins Gefängnis gesteckt wurde, jedenfalls hab ich dem ne Häftlingskleidung angemalt, schwarz-gelb, was ein halbes Jahr vorher mit einem Schulverweis geahndet worden wäre ...
    Wegmann: Und heute 25 Jahre später? Was ist geblieben? Was wird vermisst?
    Linke: Geblieben sind natürlich die Erinnerungen. Und das Bewusstsein, dass man großartige historische Zeiten erlebt hat. Ja!
    Mawil: Genau! Wir waren mit dabei!
    Linke: Genau!
    Wegmann: Ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
    Mawil: "Kinderland"
    Reprodukt Verlag, 296 Seiten, 29 Euro, ISBN 978-3943143904
    Dorit Linke: "Jenseits der blauen Grenze"
    Magellan Verlag, 304 Seiten, 16,95 Euro, ISBN: 978-3734856020