Man könne nicht auf die Information über einen für Deutschland gefährlichen Menschen verzichten, so der CDU-Politiker, nur weil sie aus einem Staat komme, in dem die Pressefreiheit nicht in vollem Umfang gewährleistet sei. Über das Gesetz, das der Bundestag gerade verabschiedet hat, entscheidet in der kommenden Woche der Bundesrat. Die Möglichkeit gemeinsamer Dateien soll vor allem EU- und NATO-Partnern offenstehen. Die Opposition kritisiert das Gesetz scharf.
Bei der Terrorbekämpfung sei neben Frankreich für Deutschland Großbritannien der wichtigste Partner, so de Maizière. Nun nach dem Brexit und den anstehenden Austrittsverhandlungen zwischen der EU und London sollte dafür gesorgt werden, "dass sich der Informationsaustausch und die Sicherheit durch den Austritt Großbritanniens nicht verschlechtert". De Maizière würde es begrüßen, wenn Großbritannien weiterhin am Abkommen von Prüm (Austausch von Fingerabdrücken und Gendateien) teilnehmen würde. Doch das ginge in Richtung "Rosinenpickerei" und sei nicht ganz unproblematisch. Am Ende müsse es zum beiderseitigen Vorteil sein und nicht zum einseitigen Vorteil von Großbritannien.
Das Interview in voller Länge:
Gudula Geuther: Herr de Maizière, Istanbul hat in dieser Woche wieder einen verheerenden Terroranschlag erlebt. Sie haben daraufhin angekündigt, den Kampf gegen den Terrorismus mit Deutschlands Verbündeten in voller Härte fortzuführen. Was heißt das denn konkret im Fall der Türkei?
de Maizière: Die Türkei ist NATO-Partner, die Türkei ist für uns ein sehr wichtiger Staat, die Türkei ist wirklich massiv getroffen vom internationalen Terrorismus – ich erinnere an den Anschlag, bei dem ums Leben gekommen sind. Und all das führt dazu, dass wir zusammenarbeiten müssen und wollen. Das gilt zum Beispiel für den Informationsaustausch, etwa der reisenden Kämpfer, die über die Türkei nach Syrien und in den Irak kommen. Hin wie her, sind wir auf gute Informationen angewiesen – und alles in allem funktioniert das auch.
"Die Türkei ist nicht irgendein Staat"
Geuther: Sie haben gesagt, wie wichtig der Partner Türkei ist und gleichzeitig ist es natürlich gerade mit Blick auf die Menschenrechte auch in Teilen ein schwieriger Partner. Wie eng kann oder muss Deutschland in Sicherheitsfragen mit Ankara kooperieren?
de Maizière: Wir können uns ja unsere Partner nicht aussuchen. Und die Türkei liegt auch geografisch in einer Schlüssellage. Es gehen Millionen von Deutschen in die Türkei, wir haben Millionen von türkischstämmigen Menschen, die in Deutschland leben – das ist nicht irgendein Staat. Und deswegen kann man nicht wegen der Kritik an der menschenrechtlichen Situation auf die Zusammenarbeit verzichten. Im Gegenteil, durch Zusammenarbeit entsteht auch Nähe für das, was wir für richtig halten in Sachen Menschenrechte. Erinnern Sie sich mal an den Kalten Krieg, da hatten wir viele Staaten, mit denen es schwierig war und trotzdem haben wir gesagt: "Dialog führt zur Annäherung". Und so ist es hier auch. Und ich kann doch nicht auf die Information über einen für Deutschland gefährlichen Menschen verzichten, nur weil sie aus einem Staat kommt, wo die Pressefreiheit nicht in vollem Umfang gewährleistet ist.
Geuther: Und gleichzeitig ist natürlich die Frage, in welcher Weise man zusammenarbeitet. Jetzt haben Sie gerade den Informationsaustausch erwähnt, gerade hat der Bundestag ein Gesetz verabschiedet, das dem Bundesamt für Verfassungsschutz erlaubt, gemeinsame Dateien mit ausländischen Nachrichtendiensten zu führen. In der kommenden Woche entscheidet der Bundesrat, etwas Vergleichbares soll es auch für den Bundesnachrichtendienst geben. Und gemeint ist vor allem die Zusammenarbeit mit EU- und NATO-Staaten. Konkret die Nachfrage: Solche gemeinsamen Dateien der Nachrichtendienste auch mit der Türkei?
de Maizière: Auch mit der Türkei. Allerdings muss in jedem einzelnen Fall das genehmigt werden und wir brauchen ein angemessenes Datenschutzniveau und rechtsstaatliche Prinzipien müssen gewährleistet sein.
"Wir müssen mehr über die Vorteile von Europa reden"
Geuther: Jetzt sind wir bei Europa. Vor eineinhalb Wochen haben die Briten sich dafür entschieden, die EU zu verlassen. Der Schriftsteller Navid Kermani sagte dazu im Deutschlandfunk, Europa habe nicht zu viele Gegner, sondern zu lausige Anhänger. Ziehen Sie sich diesen Schuh an?
de Maizière: Das Wort "lausig" ist vielleicht eine für einen Schriftsteller zulässige harte Beschreibung, aber wahr ist schon, dass wir gerne die Vorteile Europas in Anspruch nehmen, als selbstverständlich ansehen und sehr gerne Europa kritisieren. Mit "wir" meine ich alle, alle auch im politischen Geschäft, Journalisten, Politiker, Intellektuelle. Und manchmal wird auch ein Problem, was wir in Deutschland haben, nach Europa transportiert, um dann Europa zu kritisieren. Ganz viele Klagen beim Europäischen Gerichtshof kommen von deutschen Gerichten, unverhältnismäßig viele. Ganz viele Klagen gegen Beihilfeentscheidungen kommen von deutschen Konkurrenten. Also, wenn man Europa instrumentalisiert, um seine eigene Position in Deutschland umzusetzen, dann darf man sich nicht wundern, wenn die Menschen an Europa zweifeln. Die Dinge sind kompliziert, die sind abstrakt, aber für meinen Bereich möchte ich mal sagen: Deutschland kann weder die Flüchtlingskrise noch die Terrorismusbekämpfung am besten alleine machen, sondern viel besser mit Europa. Also, da haben wir einen wirklichen europäischen Mehrwert. Da ist auch viel geschehen. Ich vermute und sage mal, in den letzten zehn Monaten ist im Bereich Terrorismusbekämpfung und Sicherheit in Europa mehr geschehen als in den letzten zehn Jahren. Trotzdem dauert es lange und wir müssen dort voranschreiten. Aber richtig ist, wir müssen mehr über die Vorteile reden – die Nachteile auch, aber nicht nur über das, was uns stört.
"Großbritannien ist neben Frankreich unser wichtigster Partner im Bereich der Terrorbekämpfung"
Geuther: Und was Großbritannien betrifft, Wolfgang Schäuble hat gesagt: "in is in and out ist out" – gilt das auch für die innere Sicherheit?
de Maizière: Im Prinzip ja, aber der Informationsaustausch, der ja ein wichtiger Bestandteil unseres Gespräches war, gilt auch für Großbritannien. Großbritannien ist neben Frankreich unser wichtigster Partner im Bereich der Terrorbekämpfung. Und wir sollten jedenfalls in den Verhandlungen dafür sorgen, dass sich der Informationsaustausch und die Sicherheit durch den Austritt Großbritanniens nicht verschlechtert.
Geuther: Es gibt ja neben den Dateien, über die wir schon gesprochen haben, die erst noch eingerichtet werden sollen, vielfältige, gerade auch in der polizeilichen Zusammenarbeit. Ist das unproblematisch möglich, solche Dateien einfach über die EU hinaus zu erweitern?
de Maizière: Alles was bilateral in Übereinstimmung mit unserer Rechtsordnung zu vereinbaren ist, kann fortgesetzt werden, das ist klar. Aber nehmen wir mal das Abkommen von Prüm, dort geht es um einen Austausch von Fingerabdrücken und auch Gendateien, also die Erkennung über die Zusammensetzung der Gene. Das ist etwas, an dem Großbritannien wieder teilnimmt, und ich fände es schon nicht schlecht, wenn wir eine solche Form des Austausches behielten.
Geuther: Was aber nicht ganz unproblematisch ist.
de Maizière: Was nicht ganz unproblematisch ist, es geht dann in Richtung Rosinenpickerei, das ist wahr. Wir haben mit der Schweiz zum Beispiel auch ähnliche Abkommen, zum Teil auch mit Norwegen. Es muss zum beiderseitigen Vorteil sein und nicht zum einseitigen Vorteil Großbritanniens.
Geuther: Die Schweiz und Norwegen sind auch mittelbar bei Europol beteiligt durch Verbindungsbeamte, die sie hinschicken. Ist das ein Qualitätsverlust, wenn Großbritannien in Zukunft nur noch als Externer an Europol teilnehmen kann?
de Maizière: Europol hat einen britischen Chef, das darf man nicht vergessen, man kann ja auch fragen, ob der im Amt bleiben darf. Und wegen einer gewissen Grundskepsis Großbritanniens gegenüber der Europäischen Union, ist die Zulieferung von Großbritannien in die Datenbänke von Europol ohnehin nicht gut genug. Aber wenn Großbritannien da gerne mehr einliefern will und sich aktiver da beteiligen will: Ich bin nicht dagegen.
"Wir machen europäische Gesetzgebung innerhalb von Monaten, die sonst früher innerhalb von Jahren stattgefunden hat"
Geuther: Teilweise, zum Beispiel aus den Visegrád-Staaten, heißt es, dieses "Nein" der Briten sei wesentlich auch beeinflusst gewesen durch die europäische Flüchtlingspolitik und das heißt, eben wesentlich auch durch deutsche Flüchtlingspolitik.
de Maizière: Ja, das sind interessengeleitete Behauptungen. Nichts spricht dafür, wenn man den britischen Wahlkampf sich ansieht. Da war in der Tat Migration ein Thema und Freizügigkeit, aber das bezog sich auf die Freizügigkeit von EU-Bürgern, das war das zentrale Thema. Und ich glaube, wir sollten jetzt nicht uns den Schuh anziehen. Man darauf auch jetzt traurig sein und man kann auch ein bisschen ärgerlich sein, aber jetzt ein Bashing von uns oder von Großbritannien, das hilft alles nicht weiter.
Geuther: Jetzt hat auf jeden Fall die Flüchtlingskrise gezeigt, dass Europa bei wesentlichen Fragen, bei Fragen, die den Kontinent im Kern betreffen, nicht einig wird. Da wäre jetzt an sich, gerade nach dem britischen Votum, ein starkes Signal gefragt – das aber nicht in Sicht ist?
de Maizière: Im Bereich der Sicherheit – ich sagte es schon – ist sehr viel geschehen. Denken Sie an das Abkommen über den Austausch von Fluggastdaten, denken Sie an die grundsätzliche Übereinstimmung, dass wir ein System einer intelligenten Grenzkontrolle wollen, denken Sie daran, dass wir in den nächsten Wochen eine Einigung erzielen über den Aufbau einer europäischen Küstenwache. Das ist innerhalb von Monaten alles gesehen, das ist gut. Und jetzt verhandeln wir beim Thema Flüchtlinge über eine neue Dublin-Verordnung, also über die Frage: Wie gehen wir mit Flüchtlingen um, die nach Europa kommen? Da spielt das Thema Verteilung wieder eine Rolle. Das wird dann sicher auch noch relativ streitig diskutiert werden. Aber wir verhandeln auch in Sachen Flüchtlinge; ich will noch erwähnen die EURODAC-Verordnung. Bisher werden Flüchtlinge, die nach Europa kommen zwar im Blick auf die Fingerabdrücke gespeichert, aber nicht mit Namen und Passnummer, wenn sie einen haben. Das wird jetzt alles verbessert. Wir müssen vielleicht auch da mehr über diese Erfolge reden, aber wir machen europäische Gesetzgebung innerhalb von Monaten, im Moment, die sonst früher innerhalb von Jahren stattgefunden hat. Und das ist ein Fortschritt.
"Wir sind für einen ständigen Verteilungsmechanismus der Schutzbedürftigen"
Geuther: Zur Frage der Verteilung haben Sie aber jetzt nicht viel Hoffnung gemacht.
de Maizière: Wir sind für einen ständigen Verteilungsmechanismus der Schutzbedürftigen. Das ist ein wichtiger Punkt, weil viele sagen: 'Na ja gut, es soll in Europa verteilt werden.' Wenn wir alle verteilen, die in Europa ankommen, ist es auch nicht im deutschen Interesse und schon erst Recht nicht mehrheitsfähig. Und der Entwurf der Dublin-Verordnung sieht auch vor, dass die Erstaufnahmestaaten, also etwa Griechenland und Italien, prüfen müssen, ob es einen Schutzbedarf gibt. Und wer nicht schutzbedürftig ist, wird auch nicht verteilt. Trotzdem bin ich, was einen solchen Verteilungsmechanismus der Schutzbedürftigen angeht, auch nicht besonders optimistisch, obwohl wir es für richtig halten. Und deswegen ist als Plan B, wenn Sie so wollen, von der Kommission vorgeschlagen worden, ein Verteilmechanismus dann, wenn die Erstaufnahmeländer oder andere Staaten in besonderer Weise überlastet sind, wenn sie also mehr als 150 Prozent dessen bekommen, was eigentlich angemessen wäre. Und so einen, wenn Sie so wollen, Überlauf-Verteilmechanismus, den halte ich vielleicht auch für mehrheitsfähig.
Geuther: Und dass es eine Überlastung gibt, zum Beispiel Griechenlands oder insbesondere Griechenlands, ist, glaube ich, keine Frage. Seit die Balkanroute dicht ist, sitzen weit über 50.000 Flüchtlinge in Griechenland fest, oft unter sehr schwierigen Bedingungen. Deutschland erfüllt noch nicht mal seine Aufnahmeverpflichtung, die es vor einem Jahr zu Entlastung Griechenlands und Italiens eingegangen ist, meldet nicht regelmäßig neue Plätze nach Brüssel, hat bisher – nach den letzten Zahlen, die mir vorlagen – um die fünf Prozent der vereinbarten 27.000 Plätze zur Verfügung gestellt. Woran liegt das?
de Maizière: Wir sehen die Priorität in dem sogenannten Resettlement-Prozess aus der Türkei. Also, wir wollen im Zusammenhang mit der Türkei-Vereinbarung jetzt vorrangig die Flüchtlinge holen, die aus der Türkei kommen können und da unsere Quote erfüllen.
Geuther: Das kann doch keine Alternative sein?
de Maizière: Doch, die 160.000, um die es da geht, die verteilt werden nach Relocation und Resettlement – also, Umverteilung in Europa nennt man Relocation und Resettlement dann aus der Drittstaaten. Das ist schon prioritär. Sie haben gesagt in Ihrer Frage, Griechenland wäre überfordert – ich bin nicht so ganz sicher. Griechenland ist stark gefordert gewesen in dem Anstieg der Flüchtlinge innerhalb von wenigen Wochen von ein paar Tausend auf jetzt knapp 60.000. Aber Griechenland hat eben durchgewunken über Jahre. Griechenland ist ausgenommen von der Dublin-Überstellung. Und jetzt hat Griechenland 60.000. Das ist bezogen auf die Einwohnerzahl von Griechenland im Vergleich zu anderen europäischen Staaten – Deutschland, Österreich, Schweden – keine Überforderung. Und deswegen ist auch Relocation aus Griechenland jetzt nicht vorrangig. Ich werde darüber aber mit meinem griechischen Kollegen, der am Dienstag mich besucht, auch reden.
Geuther: Deutschland war treibende Kraft hinter der Flüchtlingsvereinbarung der EU mit der Türkei. Wie sehr sind wir als Land in der Verantwortung dafür, dass bei Umsetzung dieses Paktes die grundlegendste Menschenwürde der Flüchtlinge gewahrt wird, und zwar vielleicht auch unabhängig davon, ob Griechenland eigentlich mehr leisten könnten müsste?
de Maizière: Griechenland ist ein Land, in dem 60.000 Flüchtlinge sind. Und dort gibt es immer noch Kritik an menschenwürdigen Umständen, und trotzdem bezweifelt niemand, dass Griechenland eine Demokratie ist und ein fester Bestandteil der Europäischen Union. Die Türkei hat 2,5 Millionen oder noch mehr Flüchtlinge aufgenommen, neulich waren gerade zwei hochrangige Kirchenvertreter in der Türkei und haben sich beeindruckt gezeigt über die Aufnahme der Flüchtlinge durch die Türkei. Man kann ohne gegen Völkerrecht zu verstoßen – das sogenannte Refoulement-Verbot –, Flüchtlinge vereinbarungsgemäß auch in die Türkei zurückschicken. Das ist vereinbart, das ist in Ordnung und das ist ethisch in Ordnung. Ich sehe darin keinen Verstoß gegen die Menschenwürde.
Geuther: Es gibt Berichte über Flüchtlinge, die noch auf See in die Türkei zurückgeschoben werden. Es gibt Berichte über Schüsse an der türkisch-syrischen Grenze. Das können wir hier nicht verifizieren. Aber wie viel Verantwortung hat Deutschland, sich dafür zu interessieren, hinzuschauen und gegebenenfalls auch einzuschreiten?
de Maizière: Das ist schon unsere Aufgabe. Wir haben überall auch darauf geachtet, dass das Weltflüchtlingswerk, der UNHCR, beteiligt ist. Die Mittel, die die Europäische Union der Türkei gibt, sind ja nicht irgendwie Haushaltsmittel für irgendeinen Zweck der türkischen Regierung, sondern sie dienen auch der Verbesserung der Bedingungen der Flüchtlinge in der Türkei, durch Schulbauten und Ähnliches. Da haben wir schon eine Mitverantwortung, aber die eigentliche Verantwortung hat natürlich das jeweilige Land und nicht Deutschland.
Streit um die sicheren Herfkunftsstaaten
Geuther: Sie hören das Interview der Woche, mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Herr de Maizière, sprechen wir über die Flüchtlinge, die dann nach Deutschland kommen, über den Streit um die sicheren Herkunftsstaaten. Sie haben im Bundestag gesagt, in Algerien sehe das Strafgesetzbuch vor, dass ein Mann, der ein Mädchen unter 18 Jahren vergewaltigt, straffrei ausgehen könne, wenn er das Opfer heiratet. In Marokko müssten Aktivisten mit staatlichem Druck rechnen, wenn sie den Anspruch des Landes auf die Region Westsahara kritisieren. In Tunesien könnten Männer wegen homosexueller Handlungen strafrechtlich belangt werden. Das passt doch nicht zu dem Bild, das man von einem sicheren Herkunftsland hat.
de Maizière: Ich habe das vor dem Deutschen Bundestag extra gesagt, um dem Vorwurf zu begegnen, wir wüssten nicht um die inneren Verhältnisse dieser Staaten. Aber das Bundesverfassungsgericht hat klargemacht in seinen Urteilen über sichere Herkunftsländer, dass nicht jede einzelne Bestimmung in diesem Land uns passen muss. Ich darf mal in Klammern sagen, dass auch in Deutschland die Strafbarkeit der Homosexualität ziemlich spät abgeschafft worden ist, und kein Mensch würde doch irgendwie behaupten, dass wir nicht in den 60er oder 70er Jahren eine Demokratie gewesen wären, in der westdeutschen Bundesrepublik. Sondern es kommt darauf an bei den sicheren Herkunftsstaaten: Haben wir dort eine systematische Verfolgung? Und die haben wir nicht. Wir haben das ausführlich dargelegt in der Gesetzesbegründung. Und deswegen setze ich darauf, dass die Vernunft siegt und es zu einer Zustimmung kommt, insbesondere von den Ländern, namentlich Nordrhein-Westfalen, wo ein großer Anteil von Menschen aus Marokko lebt, wo Köln war, was ein Anstoß für diese Debatte war. Und deswegen finde ich, ist gerade Nordrhein-Westfalen in einer besonderen Verantwortung.
Geuther: Was haben Sie diesen Ländern anzubieten? Es laufen ja derzeit Verhandlungen.
de Maizière: Zunächst haben wir ein gutes Gesetz anzubieten und irgendwann gibt es dann auch eine Grenze, wo dann wir nicht bereit sein sollten, einen Preis zu zahlen, weil das Gesetz nach unserer Meinung ohnehin ein überzeugendes ist. Aber gleichwohl, wir haben ja schon etwa mit der baden-württembergischen Landesregierung Gespräche geführt, und da geht es insbesondere bei Homosexuellen darum, dass man da noch genauer hinguckt. Es gibt aber Grüne, die lehnen das Konzept der sicheren Herkunftsländer an und für sich ab, und darüber können wir auch nicht verhandeln, dass dieses Prinzip richtig ist.
Geuther: Der Flüchtlingsdiskurs hat sich radikal gewandelt in den vergangenen Monaten. Hat die CSU Recht, zwingt die AfD die Union, am rechten Rand stärker Stellung zu beziehen?
de Maizière: Na ja, ich würde mal sagen, es gab drei Phasen und wir sind jetzt in der dritten Phase. Die erste Phase war: Wir freuen uns über jeden Flüchtling – ich übertreibe etwas. Die zweite Phase war: Es sollen keine mehr kommen – auch das ist übertrieben. Und jetzt ist in der dritten Phase, denke ich, ein nüchterneres Bild eingetreten. Und das ist auch richtig so. Ich habe von Anfang an ein solches nüchterne Bild versucht, zu beschreiben, und das heißt: Ja, wir haben eine humanitäre Verantwortung gegenüber den Schutzbedürftigen, aber gleichzeitig brauchen wir Asylverfahren, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und diejenigen, die nicht schutzbedürftig sind, müssen unser Land wieder verlassen. Das sind nicht Gegensätze, sondern zwei Seiten einer Medaille. Und dieser nüchterne Blick, der, ich denke, setzt sich allmählich durch. Der Streit mit der CSU war in Wahrheit ja sozusagen in der ersten Phase und bezog sich auf das System Obergrenzen, was die CSU vorgeschlagen hat. Und da würde ich mal sagen, das hat sich alles, wenn Sie so wollen, positiv erledigt. Die Debatte über die Obergrenze, die kann man jetzt im juristischen Seminar führen, das ist politisch im Moment nicht relevant. Die Mischung von Schließung von Balkanroute und Türkei-Abkommen hat auch zur einer Reduzierung der Zahl geführt. Wir sind gemeinsam der Auffassung, dass wir vermeiden wollen, dass über die Mittelmeerroute wir wieder zu sehr großen Zahlen kommen, von Menschen, die nach Deutschland kommen. Mit anderen Worten, es ist nicht nur politisch klug, sondern auch der Sache nach angemessen, nach vorne zu schauen.
"Ich hätte diese Zahl nicht nennen sollen"
Geuther: Herr de Maizière, Sie sind scharf kritisiert worden, weil Sie eine nicht belegte Zahl – 70 Prozent an jungen Männern, legten zum Schutz vor Abschiebung ein Attest vor – in die Diskussion geworfen haben. Es gab eine Aktuelle Stunde dazu im Bundestag, mit scharfen Angriffen nicht nur von der Opposition, sondern auch vom Koalitionspartner SPD. Wie fortgeschritten ist der Bundestagswahlkampf?
de Maizière: Ja, ich hätte diese Zahl nicht nennen sollen. Ich habe auf ein Problem hingewiesen, von dem jeder weiß, dass es das gibt, dass wir eine erstaunliche Häufung von Krankmeldungen haben bei Asylbewerbern dann, wenn es in Richtung Abschiebung geht.
Geuther: Wobei Sie das Recht ja vorher schon verschärft hatten und wenn, dann sozusagen "alte" Zahlen genannt haben, zum Beleg eines Phänomens, das Sie jetzt noch gar nicht einschätzen können.
de Maizière: Ich hätte die Zahl nicht nennen sollen – das waren Erfahrungswerte, die mir genannte worden sind. Aber auch da gucke ich gerne nach vorne – das Problem jedenfalls besteht, deswegen haben wir ja auch die Asylgesetze verschärft. Nun hat in der Debatte nicht die erste Reihe der Innenpolitiker gesprochen und das habe ich auch wohl wahrgenommen; besonders freundlich war das jetzt nicht, innerhalb einer Koalition. Aber das muss ich irgendwie aushalten. Ich möchte, und zwar im Interesse des Landes und der Sicherheit und der großen Themen, die wir haben, solange wir nur irgend möglich in der Sache arbeiten - und nicht am Wahlkampf orientiert.
Geuther: Nun wurde Ihnen mehrfach leichthändiger Umgang mit Zahlen vorgeworfen, die Sorgen auch verstärken könnten. Das war einmal der Faktor drei bis vier für den Familiennachzug, Sie haben außerdem eine hohe Zahl von sogenannten falschen Syrern in den Raum gestellt, das heißt also Leuten, die sich fälschlich als Syrer ausgeben. Haben Sie sich da einfach geirrt oder steckt etwas dahinter, zum Beispiel auch das Bemühen, dass besorgte Bürger Ihnen nicht Verharmlosung nachsagen können?
de Maizière: Es gibt meistens wenig Zahlen über Missbrauch. Und ich war und bin halt sehr viel unterwegs und rede mit Praktikern, und wir können nicht warten, bis es irgendeine offizielle Statistik gibt, um gegen Missbrauch etwas zu machen. Und ich finde schon richtig, dass es die Aufgabe eines Innenministers ist, auf Probleme hinzuweisen, wenn gleichzeitig wir darüber streiten, wie man diese Probleme löst. Aber die Leugnung von Problemen, die führt nicht weiter. Sehen Sie, ich kriege jeden Morgen eine Lageübersicht, was an schwerwiegenden Vorfällen in Deutschland geschehen ist, und da sind laufend Meldungen über das, was rund um Asylbewerbereinrichtungen geschieht. Davon erscheinen nur Bruchteile in der Zeitung. Und wenn es Gerüchte, Vorurteile und Missbrauch der AfD mit dem Umgang mit Vorurteilen gibt, etwa was die Strafbarkeit von Asylbewerbern angeht, dann empfinde ich es als meine Aufgabe, Licht ins Dunkel zu bringen. Deswegen habe ich ein solches Lagebild erstellt und siehe da: Es kommt zu einem differenzierten Blick auf die Dinge. Ich finde, das Schönreden, weil es angeblich keine Probleme gibt, ist auch für eine Regierung kein guter Rat. Und deswegen, ein Innenminister hat mit den schwierigen Dingen des Lebens zu tun und da darf er auch darauf hinweisen, dass es Dinge gibt, die schwierig sind.
Geuther: Und wenn man nicht genau weiß, wie schwierig sie sind, sollte man das nicht einfach sagen, also mit Bezug auf Zahlen und Prozentangaben?
de Maizière: Natürlich sollen Zahlen korrekt sein, aber wenn sie die Zahl nicht genau wissen, weil es bisher dazu keine offizielle Statistik gibt, dann, finde ich, sind Erfahrungen der Praktiker, der Menschen in Ausländerbehörden, der Landräte, der Polizisten, die jeden Tag mit Asylbewerbern zu tun haben, mit denjenigen, die Menschen abschieben müssen, das harte Brot derer, die mit Flüchtlingen zu tun haben, das muss auch Teil von öffentlicher Debatte sein.
Geuther: Jetzt haben Sie schon die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte erwähnt. Die Flüchtlingszahlen, haben Sie gesagt, gehen massiv nach unten, auch in diesem Jahr die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte nicht. Wie erklären Sie sich das?
de Maizière: Ja, auch da haben wir über Zahlen geredet. Es gibt erste Meldungen, dass die Zahlen vielleicht etwas zurückgegangen sind, aber jedenfalls verglichen mit der deutlich geringeren Zahl der Flüchtlinge, ist das immer noch zu hoch, viel zu hoch. Wir hatten im letzten Jahr eine Verfünffachung. Man kann von mir aus gegen die Flüchtlingspolitik sein, man kann Bedenken haben, man kann Sorge vor Überfremdung haben, das mag alles irgendwie ein Motiv sein, aber es gibt keinen politischen Grund, es gibt keinen sozialen Grund, es gibt überhaupt keinen Grund, auf Menschen einzuschlagen, sie zu beleidigen, sie zu bespucken, Häuser anzustecken, in denen Flüchtlinge leben. Das ist einfach pure, nackte Kriminalität. Und denen müssen wir hart entgegentreten.
"Ein Teil von Verrohung schleicht sich in Kreise ein, die bisher für Rechtsextremismus nicht bekannt waren"
Geuther: Jetzt haben Sie mehrfach darauf hingewiesen, dass viele der bekannten Täter bei geringer Aufklärungsquote Leute sind, die Verfassungsschutz und Polizei vorher nicht auf dem Schirm hatten, die insbesondere nicht als Rechtsextremisten bekannt waren. Was heißt das? Was passiert da? Wie geht das weiter?
de Maizière: Zunächst freue ich mich, dass jetzt zunehmend auch Brandanschläge aufgeklärt werden – oft Monate später, einen Brandanschlag aufzuklären, ist komplizierter. Deswegen sind die Aufklärungsquoten, die wir jetzt über die jüngste Zeit haben, nicht ganz aussagefähig. Ich bin auch sehr zufrieden, dass dort die Justiz mit harten Urteilen zeigt, dass das der Rechtsstaat nicht dulden darf. Aber zu Ihrer Frage: Wenn Menschen eines bestimmten Milieus straffällig werden, dann ist das nicht gut, dann ist das nicht in Ordnung, aber dann kennen wir das schon. Wenn also bekannte Rechtsextreme gegen Flüchtlinge vorgehen, ist das scharf zu verurteilen, aber das kennt man schon, wenn man so will. Jetzt haben wir das Phänomen, dass viele Gewalt anwenden oder Hassmails schreiben oder Beleidigungen ausstoßen, die bisher unbekannt waren, Rechtsextreme zu sein. Und das heißt, ein Teil von Verrohung schleicht sich in Kreise ein, die bisher für Rechtsextremismus nicht bekannt waren. Und das, finde ich, ist Anlass zur Sorge.
Geuther: Herr de Maizière, vielen Dank für das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.