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Debatte um befristete Jobs
"Kein Grund zur Panikmache"

Etwa eine Million Erwerbstätige in Deutschland haben einen befristeten Job. Prozentual sei der Anteil seit 2011 sogar gesunken, sagte der Sozialwissenschaftler Stefan Sell im Dlf. Ein "Problemfall" sei allerdings der öffentliche Dienst, wo es besonders viele Befristungen gebe.

Stefan Sell im Gespräch Katja Scherer |
    Ein Mann sitzt abends in einem Büro an einem vollen Schreibtisch und arbeitet in Berlin.
    Befristete Jobs im öffentlichen Dienst: "Da müsste man gezielt mit Reformen auch ran", sagt Stefan Sell. (picture-alliance / dpa / Wolfram Steinberg)
    Katja Scherer: Um Unsicherheit am Arbeitsplatz geht es auch in unserem nächsten Beitrag. Die Zahl der befristet Beschäftigten in Deutschland hat innerhalb der vergangenen 20 Jahre um mehr als eine Million Menschen auf rund 2,8 Millionen in 2016 zugenommen. Das geht aus einer Antwort des Statistischen Bundesamtes auf eine Anfrage der Linken hervor.
    Ich habe vor der Sendung mit Stefan Sell, Sozialwissenschaftler von der Hochschule Koblenz, gesprochen und ihn gefragt: Wenn man sich diese Zahlen anschaut, dann sieht man: Den wirklich starken Anstieg bei Befristungen gab es zwischen 1996 und 2006. Seitdem schwankt ihr Anteil um die 8,5 Prozent. Ist die Kritik der Linken, dass es einen massiven Anstieg der Befristungen gab, ist das gerechtfertigt oder ist das Panikmache?
    Stefan Sell: Es ist wie immer: Man muss genauer hinschauen bei den Zahlen. Jetzt ging heute die Zahl herum, dass die befristeten Jobs in den letzten 20 Jahren um eine Million gestiegen sind. Tatsächlich ist es aber so: Wir haben gleichzeitig auch entsprechend mehr Beschäftigungsverhältnisse, so dass die Quote, die Sie angesprochen haben, die ist tatsächlich etwa seit dem Jahr 2011 sogar etwas gesunken. Insofern besteht, wenn man das auf den Anteil an allen Beschäftigten, vor allem an allen abhängig Beschäftigten bezieht, kein Grund zur Panikmache, dass jetzt ein besonders starker Anstieg zu verzeichnen ist.
    Scherer: Gibt es denn einzelne Bereiche, in denen Sie eine Zunahme sehen, wo man sagen kann, da kann man sich Sorgen machen?
    "Inanspruchnahme als verlängerte Probezeit"
    Sell: Ja! Wir müssen, glaube ich, die wichtige Unterscheidung treffen: Es gibt ja die sogenannten sachgrundlosen Befristungen und die Befristungen mit Sachgrund, und da hat es tatsächlich Verschiebungen gegeben in den vergangenen Jahren, wobei das auch aktuell relativ stabil ist. Was meine ich damit? – Wir haben in den zurückliegenden Jahren eine starke Zunahme der sachgrundlosen Befristungen gesehen. Bis zu zwei Jahre können Sie da jemanden ohne irgendeinen Grund wie zum Beispiel, dass Sie jemanden ersetzen müssen, der in die Elternzeit geht, befristet beschäftigen. Das hat enorm zugenommen in den zurückliegenden Jahren. Dahinter steckt bei vielen Unternehmen in der Privatwirtschaft tatsächlich die Inanspruchnahme als verlängerte Probezeit. Wir haben ja normalerweise gesetzlich die sechs Monate und so kann man bis zu zwei Jahre jemanden ausprobieren. Das zeigt sich übrigens auch darin, dass in der Privatwirtschaft über 40 Prozent der Leute dann auch in ein normales Dauerbeschäftigungsverhältnis übernommen werden.
    Scherer: Das heißt, diese Debatte um die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, die geht ein bisschen am Kernproblem vorbei? Kann man das so verstehen?
    Sell: Ja! Das muss man leider so sagen, weil wir müssen ja immer sehen, das sind ja flexible Systeme. Wir werden Ausweichreaktionen seitens der Unternehmen sehen. Stellen wir uns vor, die sachgrundlosen Befristungen würden abgeschafft werden, die überwiegend in der freien Wirtschaft Anwendung finden. Na ja – dann werden zwei Dinge passieren. Ein Teil der Unternehmen wird die Stellen, die bisher sachgrundlos befristet waren, jetzt eben mit irgendeinem Sachgrund befristen.
    Da braucht man nur ein bisschen Fantasie, um sich da die entsprechenden, auch gesetzlich zulässigen Begründungen einfallen zu lassen. Und nicht unproblematisch: Möglicherweise werden auch einige Unternehmen dann auf eine Einstellung eher verzichten oder das hinauszögern, weil sie sozusagen dieses Ausprobieren nicht mehr haben, diese Flexibilität. Das ist aber mit Blick darauf, dass die meisten dann später in unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen landen, ja auch nicht anstrebenswert.
    "Da kippt jetzt auf vielen Arbeitsmärkten was"
    Scherer: Was soll man machen? Am besten gar nichts? Oder gibt es Maßnahmen, wo Sie sagen, doch, da kann man ran?
    Sell: Es gibt Argumente dafür, die sachgrundlosen Befristungen einzuschränken, aber ich weise eben darauf hin, dass es dann diese Ausweichreaktionen gibt. Ich glaube, wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass in den letzten vier, fünf Jahren bereits der Anteil nicht mehr gestiegen ist. Das ist ja auch ein Zeichen, dass sich die Angebots-Nachfrage-Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt in den letzten Jahren deutlich verringert haben. Das sehen Sie ja auch daran, dass in den letzten drei Jahren zum Beispiel die sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeit wieder stärker gestiegen ist als in der Vergangenheit.
    Da kippt jetzt auf vielen Arbeitsmärkten was, und das wird im Ergebnis viel stärker den Anteil der befristeten Stellen reduzieren in der Wirtschaft, als wir uns das mit gesetzlichen Regelungen erzwingen könnten. Und der besondere Problemfall des öffentlichen Dienstes – na ja, da müssen die Politiker mal drüber nachdenken. Dass wir dort so viele befristete Beschäftigte haben, hängt ja auch damit zusammen, dass die besondere Sicherheit derjenigen, die da mal drin sind auf unbefristeten Jobs, die erkauft man sich mit so einer flexiblen Randbelegschaft. Das ist aber ein spezielles Problem des öffentlichen Dienstrechts und da müsste man gezielt mit Reformen auch ran.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.