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Debatte um Einwanderung
Die neuen Deutschen

Ist Deutschland ein Einwanderungsland? Annette Treibel, Soziologieprofessorin aus Karlsruhe, beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen Ja. In ihrem Buch "Integriert Euch!" plädiert sie nicht nur dafür, Deutschland als Einwanderungsland wahrzunehmen, sondern die Entwicklung zur Einwanderungsgesellschaft selbstbewusst voranzutreiben.

Von Ralph Gerstenberg |
    In der Volkshochschule in Leipzig sitzt eine Frau aus dem Sudan während einer Pause mit ihrem Kind an einem Fenster und lernt Deutsch.
    20,5 Prozent der Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. (picture alliance / ZB)
    Zu Beginn ihres Buches entwirft Annette Treibel zwei Szenarien für das Jahr 2035. Entweder Deutschland erlebe einen Rechtsruck, rüste auf und schotte sich ab, oder es werde von einer Bundeskanzlerin mit Migrationshintergrund regiert, sei offen, konfliktfreudig und selbstbewusst. Keine Frage, welche der beiden Varianten die Autorin für wünschenswert hält. Doch dazu müsse Deutschland sich zunächst seiner Rolle als Einwanderungsland bewusst werden, ja mehr noch, selbstbewusst dazu bekennen, argumentiert Annette Treibel. Nicht umsonst heißt ihr Buch im Untertitel: "Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland".
    "Selbstbewusst im Sinne von reflexiv, durchaus auch stolz in Anführungszeichen auf das, was die letzten Jahrzehnte funktioniert hat. Von politischer Seite fehlte bis heute etwas der Mut zu sagen: Wir reden jetzt da nicht mehr drum herum, sondern konstatieren, es hat Einwanderung stattgefunden. Im Grunde ist das absolut unstrittig. 20,5 Prozent der Menschen in Deutschland hat den berühmt-berüchtigten Migrationshintergrund. Das sind 16,5 Millionen, davon sind 9 Millionen Deutsche. Das sind Ziffern, die das ganz klar belegen."
    Kein Kommentar zum gegenwärtigen Zeitgeschehen
    Annette Treibels Buch ist kein Kommentar zum gegenwärtigen Zeitgeschehen. Ihr gehe es nicht um die Bedingungen, unter denen die jetzigen Flüchtlinge zu Einwanderern werden, sondern um "das Verhältnis der schon länger in Deutschland lebenden Einwanderer zu anderen Einheimischen", also der Alten zu den Neuen Deutschen, wie sie schreibt.
    Die Begriffe Ausländer, Migration und Integration werden zunächst in verschiedenen Kontexten erklärt. In diesen Passagen scheint der wissenschaftliche Hintergrund der Soziologieprofessorin aus Kassel am stärksten durch. So erfährt man, dass der Integrationsbegriff von einem Großteil ihrer Kolleginnen und Kollegen abgelehnt wird, weil er zum Kampfbegriff der politischen Rechten geworden ist. Integration bedeutet in deren Verständnis die Anpassung an eine Norm. Annette Treibel hingegen spricht sich für eine Weiterentwicklung des Integrationsbegriffs aus.
    "Die breite Verwendung und die ideologische Instrumentalisierung des Integrationsbegriffs sind für mich ein Indiz für die enge Verknüpfung mit den Machtverhältnissen in einer Gesellschaft: Wer sagt über wen, dass sie oder er integriert ist? Aufgrund welcher Kriterien wird darüber befunden? Dürfen (bisherige) Unterprivilegierte oder Neue Deutsche mitbestimmen, was für sie Integration ist? Integration im Sinne eines gesellschaftlichen Zusammenhalts basiert auf Kooperation, aber auch auf Konflikt. Reibungen und Auseinandersetzungen gehören genauso dazu wie Annäherungen und Sympathie, damit etwas Neues entsteht."
    "Integration ist keine Kuschelveranstaltung. Vor dem Wort "Konflikt" haben wir vielleicht Angst, in jeder Familie oder Partnerschaft mag man das nicht. Das ist auch menschlich. Aber Konflikte stiften Integration - interessanterweise. Eine Gemeinde, die sich zusammensetzt und wirklich kontrovers über eine zu errichtende Moschee diskutiert, die hat am Ende dieses Prozesses, wenn er denn friedlich verläuft, was in der Regel in Deutschland der Fall ist. Ein solcher Prozess tut enorm viel für Integration."
    Vieles ist gar nicht so düster
    Viele Integrationsleistungen in unserer Gesellschaft, so Annette Treibel, würden als solche gar nicht wahrgenommen. Dazu trage auch die auf Sensationen und Konflikte ausgerichtete Berichterstattung in den Medien bei. Ganz normale Erfolgsstorys - der türkischstämmige Kommissar oder die iranische Chefärztin - seien entweder kein Thema oder sie erhielten einen Vorzeigestatus. Dabei gelten etwa 85 Prozent der Einwanderer als gut integriert. Selbst in der viel diskutierten Parallelgesellschaft ist vieles gar nicht so düster, wie es von außen scheint, findet die Autorin.
    "Für viele ist das wirklich so ein Durchlauferhitzer hin zur Aufnahmegesellschaft. Andere verharren dort. Warum tun sie das? Gerade was die türkische Gruppe angeht, gibt es auch sehr viele Optionen, sein Leben irgendwie zu meistern in dieser Gruppe. Es gibt genügend andere Deutschtürken, die meine Kunden sein können, wenn ich das berühmte Gemüsegeschäft aufmache oder ein Reisebüro, dann gibt es Anreize für die Community zu arbeiten. Viele Leute, die wir von außen möglicherweise als nicht integriert wahrnehmen, die machen ihr Ding in Deutschland. Dieses Ding sieht vielleicht anders aus, als wir uns das vorstellen."
    Forderung nach einer offenen Gesyellschaft
    Annette Treibel versteht ihr Buch als Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Streitschrift "Deutschland schafft sich ab". Den darin geäußerten Vorurteilen und Menetekeln stellt sie ihren Entwurf einer offenen, dynamischen Gesellschaft entgegen, getreu dem Motto: "Deutschland findet sich neu".
    "Ich bin tatsächlich der Meinung, dass man sich Deutschwerden aneignen kann, und dass es auch sehr interessant ist, sich das näher anzugucken, wie Personen, die eingewandert oder Nachkommen von Einwanderer sind, dieses Land sehen. Was ich aus den Untersuchungen kenne, sehen die Deutschland zum Teil positiver als viele Deutsche sich selber sehen, was ja auch einen guten Grund in der deutschen Geschichte hat, dass wir ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Nation haben. Einwanderer haben da zum Teil einen unbefangeneren Blick. Und das kann sehr erfrischend sein, sich das anzugucken."
    Differenzierter Blick auf ein vielschichtiges Thema
    In ihrem Buch "Integriert Euch!" plädiert Annette Treibel für einen differenzierten Blick auf eine Gesellschaft, die schon seit Jahrzehnten Erfahrungen mit Zuwanderung macht. Natürlich sieht sie auch die Gefahren, die in Parallelwelten lauern: Gruppenbildung, Exklusion, religiöse Radikalisierung, organisierte Kriminalität und Bildungsmangel. Die starke Fixierung auf Fehlentwicklungen, die nur einen Bruchteil der Einwanderungsgeschichten ausmachten, verhindere jedoch das Erstarken eines Wir-Gefühls, in dem sich Alte und Neue Deutsche verbunden fühlen könnten.
    Mit ihrem Buch, das genau zum richtigen Zeitpunkt erscheint, macht Annette Treibel Mut, sich zu der Einwanderungsgesellschaft zu bekennen, in der wir längst leben. In diesem Sinne ist auch ihr titelgebender Aufruf zur Integration gemeint, der sich nicht nur an Migranten richtet.
    "Es ist an die Gesamtgesellschaft gerichtet, sich in diesen neuen gesellschaftlichen Zustand zu integrieren, ein Einwanderungsland zu sein. Integration verstehe ich als Projekt für alle Seiten."
    Annette Treibel: "Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland", Campus Verlag, 208 Seiten, Preis: 19,90 €.