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Debatte um Flüchtlingspolitik
Münkler: Deutschland ist kein Hippie-Land

Es gehe zurzeit darum, welches Bild von Deutschland dominat sein wird - brennende Flüchtlingsheime oder die freiwilligen Helfer an den Bahnhöfen, sagte der Politikwissenschaftler Herfried Münkler im DLF. Die positiven Bilder von den Bahnhöfen und die Aussagen von Bundeskanzlerin Merkel würden auch neue politische Möglichkeiten schaffen - unter anderem Flüchtlinge aus der Region des Westbalkans schneller abzuschieben.

Herfried Münkler im Gespräch mit Sandra Schulz |
    Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin.
    Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin. (imago/IPON)
    Der Aussage des Politiologen Anthony Glees im DLF, Deutschland sei ein Hippie-Land und habe sein Gehirn verloren. Widersprach der der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Zu der Aufnahme der syrischen Flüchtlinge gebe es zurzeit keine Alternative, sagte er im Deutschlandfunk. Europa könne und wolle die Flüchtlinge nicht mit Maschinengewehren aufhalten.
    Münkler schätzt die Menschen, die die Flüchtlinge an den Bahnhöfen willkommen heißen, nicht als naiv ein. Viele seien freiwillige Helfer in den Unterkünften. Der "harte Aufschlag" nach dem Willkommen sei im Augenblick schon da. Man müsse jetzt das vermeiden, was in den 1990er-Jahren passiert sei, als man Asylbewerber jahrelang in den Unterkünften sich selbst überlassen hatte und sie dort verwahrlosen ließ.

    Das Interview in voller Länge:

    Sandra Schulz: Wo immer die erschöpften Menschen an deutschen Bahnhöfen angekommen sind in dieser Woche - Applaus, Willkommenstafeln, Tränen der Rührung, so sind sie empfangen worden. Diese Bilder hat es aus vielen deutschen Städten gegeben. Vorausgegangen war die Entscheidung der Bundesregierung, die Flüchtlinge aufzunehmen, denen es vorher in Ungarn oder auf dem Weg nach Westeuropa am wirklich Nötigsten gefehlt hatte, die teilweise auch zu Fuß unterwegs waren. Die Bundesregierung buchstabiert so Solidarität und Menschlichkeit. Ist Deutschland jetzt der „good guy" Europas und kann Deutschland das jetzt? Darüber wollen wir in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist Herfried Münkler, Professor für Theorie der Politik an der Berliner Humboldt-Universität. Guten Morgen.
    Herfried Münkler: Guten Morgen, Frau Schulz!
    Schulz: Ist Deutschland jetzt ein Hippie-Land geworden, so wie es der Politologe Anthony Glees hier im Programm gesagt hat, und hat sein Gehirn verloren?
    Welches Bild von Deutschland wird dominant sein?
    Münkler: Nein, denke ich nicht. Ich meine, Herr Glees kennt offenbar Deutschland so gut doch nicht, wie er glaubt, denn sonst wäre ihm klar gewesen, dass es ein Kampf ist um die Hegemonie der Bilder. Also auf der einen Seite brennende Flüchtlingsheime, noch vor dem Bezug zugegebenermaßen, aber ein bestimmtes Symbol, und auf der anderen Seite dann eben die Antwort in Reaktion darauf, die Willkommenskultur oder das willkommen heißen an den Bahnhöfen, und es war die Frage, welches Bild von Deutschland wird dominant sein. Das hätte man beschreiben können, analysieren können als eine Auseinandersetzung um gewissermaßen das dominierende Bild. Man hätte auch sagen können, es ist eine Form der Selbstverpflichtung Deutschlands in Gestalt eines Bildakts, der da am Wochenende stattgefunden hat. Ich denke, dass den Leuten an den Bahnhöfen schon klar gewesen ist, dass es mit ein bisschen Winken und ein bisschen Herzen nicht getan ist, sondern dass das ein sehr langer und sehr schwieriger Weg sein wird.
    Schulz: Ist den Leuten das wirklich so klar? Wenn wir jetzt noch mal auf die Worte der Kanzlerin schauen: Sie sagt ja mehr oder weniger, alle sollen herkommen. Das hat sie heute ja auch noch mal in der "Rheinischen Post" gesagt mit ihrer Bemerkung, es gäbe keine Obergrenze. Ist das vernünftig?
    Münkler: Was heißt vernünftig? Ich glaube, es ist in diesem Falle alternativlos, würde, glaube ich, Frau Merkel sagen.
    Schulz: Das ist ja ein sehr umstrittenes Wort.
    Münkler: Ja, ja. Denn die Versuche in Mazedonien, die Versuche an der ungarischen Grenze, die Flüchtlinge mit Stacheldraht und Polizei, mit Blendgranaten und Gummiknüppeln zu stoppen, sind ja erkennbar gescheitert. Und da Europa nun einmal nicht Stacheldraht mit entsprechenden Maschinengewehren absichern kann und will, denn das wäre die Alternative, muss man sagen, nein, wir können sie nicht aufhalten. Wir haben dazu keine Chance. Es werden sonst an den Grenzen Läger entstehen mit katastrophalen Zuständen und darüber wird sich ein Druck aufbauen, der dann sehr viel größer und katastrophaler ist. Ich denke, dem Ganzen liegt eine sehr nüchterne und klare Analyse zugrunde, die im Prinzip abwägt, was machbar ist, und natürlich gibt es in dieser Situation dann gewissermaßen relativ leicht diejenigen, die sagen, aber wenn wir sie nicht reingelassen hätten, dann wären sie nicht da, nicht bedenkend, was das heißt. Das sind eigentlich politisch wenig denkende Leute, die so etwas sagen.
    Auf der Ebene der politischen Optionen zusätzliche Spielräume geschaffen
    Schulz: Aber es ist ja keine polemische Einschätzung oder auch nicht polemisch zu sagen, objektiv sind die Kapazitätsgrenzen, sind die Kapazitäten beschränkt, es können nicht alle herkommen. Der frühere Innenminister Friedrich von der CSU, der sagt heute Morgen, wir haben die Kontrolle verloren. Ist das eigentlich Kritik, oder eine Zustandsbeschreibung?
    Münkler: Ich denke schon, dass das in diesem Falle Kritik ist. Ich meine, die CDU/CSU hat da viele Flügel. Auf der einen Seite steht die Kanzlerin und auf der anderen Seite stehen diejenigen, die glauben, man hätte das in irgendeiner Weise vermeiden können, indem man diese Leute draußen hält. Ich meine, natürlich ist richtig, es gibt einen Punkt, an dem alle Turnhallen belegt sind, alle Kongresszentren zweckentfremdet sind und derlei mehr und nichts mehr geht. Das ist völlig klar. Aber man muss auch sehen, was die Bilder vom Wochenende beziehungsweise die Entscheidung der Regierung gebracht hat, nämlich die Möglichkeit, dann auch diejenigen, die hier um Asyl aufgekommen sind, bei denen aber klar ist, dass sie keines bekommen werden, also die Leute aus dem Westbalkan, schnell und zügig wieder zurückzuführen. Das heißt, es hat eine doppelte Seite. Diese Entscheidung und diese Bilder schaffen auch politische Möglichkeiten. Ich denke, dass das schon genau bedacht worden ist. Deutschland hat eine gewisse Verwundbarkeit zugemacht, die wir ja zuvor in der Griechenland-Krise gesehen haben: es ist hartherzig, es ist miesepetrig. Und jetzt hat sich ein ganz anderes Deutschland gezeigt mit dem Ergebnis, dass das auch auf der Ebene der politischen Optionen zusätzliche Spielräume verschafft.
    Schulz: Aber das Deutschland-Bild, das gibt es eigentlich nicht mehr, oder?
    Münkler: Was heißt das Deutschland-Bild? Hat es das je gegeben?
    Schulz: Das frage ich Sie.
    Münkler: Ein großes Land mit sehr unterschiedlichen Leuten und was je als Deutschland-Bild hervorgerufen wird, im Inland und im Ausland, ist die Frage, wohin der Spot sich gerade richtet, und das war das, was ich eingangs meinte, ein Kampf um die Richtung des Spots zwischen denen von Heidenau und andernorts und denen von München, Frankfurt und Dortmund.
    Schulz: Wenn wir noch mal zurückkommen auf die Reaktionen von den Menschen, die an den Bahnhöfen Willkommensplakate hochhalten, die applaudieren. Sie sagen, es gibt sehr wohl ein Bewusstsein dafür, welche Schwierigkeiten auf der praktischen Seite noch kommen werden. Aber die Probleme, die sind ja längst da. Wird es noch einen harten Aufprall auf der Realität geben?
    Münkler: Ich glaube auch schon, dass dieser harte Aufprall im Augenblick schon da ist. Da muss man nur dorthin gehen, wo diese Flüchtlingslager sind, oder in Berlin zu den zentralen Aufnahmestellen. Das ist ja gewissermaßen für jeden sichtbar, der es sehen will und dort hingeht, und die Leute, die damit befasst sind, diese Probleme zu bearbeiten, die wissen das auch, und das sind ja in vieler Hinsicht auch die freiwilligen Helfer, die auf den Bahnhöfen waren. Man darf hier so etwas wie eine ikonische Szene oder ein ikonisches Ereignis nicht verwechseln mit dem, was der Fall ist, und ich denke schon, dass das in den Köpfen der Leute sehr klar ist. Das beginnt bei einem relativ schnellen Sprachunterricht und endet dabei - ich habe das in anderem Zusammenhang so genannt -, bei der Herausforderung, aus diesen Leuten Deutsche zu machen: im Sinne einer gewissen Arbeitsdisziplin, gewisser Arbeitsfähigkeiten, der Durchsetzung von Toleranz, der Entpolitisierung des Religiösen. Das alles werden kolossale Anstrengungen sein und dabei wird es viele Enttäuschungen geben, bei denen, die hergekommen sind, aber auch bei denen, die ihnen offen gegenüberstehen, und dann werden auch einige wieder zurück müssen, nicht weil sie keine Berechtigung hätten, sondern weil sie nicht bereit sind, sich den Anforderungen und Rahmenbedingungen dieses Landes entsprechend anzupassen. Das alles, denke ich, ist klar. Man muss nur etwas vermeiden, was wir in den 1960er-, 70er-Jahren gemacht haben, als wir uns mit dem Begriff der Gastarbeiter selbst belogen haben, die jetzt kommen und morgen gehen, und man muss vermeiden, was in den 1990er-Jahren passiert ist, nämlich diese Leute so lange in Lägern zu halten und dort psychisch und sozial verwahrlosen zu lassen und hinterher dann zu sagen, na ja, die sind halt doch irgendwie so eigentümlich. Es ist eine ungeheure Anstrengung, die auf uns zukommt, aber ich denke, es ist besser, diese Anstrengung auf sich zu nehmen in solchen Akten gewissermaßen der Freude, als von vornherein miesepetrig und mit der Vorstellung, das schaffen wir doch sowieso nicht.
    Schulz: Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler heute hier im Gespräch mit dem Deutschlandfunk in den „Informationen am Morgen". Danke Ihnen.
    Münkler: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.