Es herrscht Diskursmüdigkeit. Nach zwei herausfordernden Jahren der Pandemie fragen viele sich, wohin führen uns die gegenwärtigen Krisen und Kriege? Eine demokratische Gesellschaft müsste solche Fragen vielstimmig diskutieren können. Sie müsste das Handwerk beherrschen, Foren und Formate zu schaffen, in denen unterschiedliche Positionen ausgetragen werden. Die Anforderungen an einen solchen Diskurs sind hoch: am besten leidenschaftlich und engagiert streiten, aber bitte nicht feindselig, ganz gleich wie weit am Ende des Spektrums die andere Seite steht.
Ein faktenbasierter Diskurs braucht Expertise, darf aber auch nicht zum reinen Fachgespräch werden. Doch nach zwei Jahren der Pandemie und nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wird deutlich: Wir müssen die Begegnung im Streit neu lernen.
Wie Lösungen für Probleme ausgehandelt werden sollen
In pluralistischen Demokratien sollte ein friedliches Nebeneinander möglich sein, ein liberales Laissez-Faire - doch gerade Corona zeigte, dass die Dimensionen der Krise ein Mehr an Miteinander von uns fordern werden: Ganz gleich ob Pandemie, Klimakrise oder Krieg, in einer Gesellschaft ist jeder Einzelne vom Tun der Anderen betroffen. Wie sollen Lösungen für Probleme ausgehandelt werden?
Sicherlich nicht mit Debattenmüdigkeit, wie sie sich in der Pandemie beobachten ließ. Die einen sind zu müde, den Debatten zu folgen, die anderen zu müde, präzise zu differenzieren. Die kurze Phase der Corona-Experten-Only entpuppte sich ebenfalls als Irrweg, weil viele Fragen, wie etwa die psychische Gesundheit oder der Familienarbeit nicht allein mit Virologen und Epidemiologen zu klären sind. Nicht mehr Expertokratie ist die Lösung, sondern eine ausgewogenere Art, Wissen zu sammeln und zu sortieren.
Streit und Pluralismus als Gewinn
Diskursmüdigkeit stellt sich auch dort ein, wo Empörung den Sound der Debatten ausmacht. Das abgedroschene „Das wird man wohl noch sagen dürfen!“ ist leider eine naheliegende Reaktion auf ein nicht minder reflexartiges „Das darf man so nicht sagen!“ Die Emanzipationsbewegungen der letzten Jahre haben sich über Twitter Wege in den Diskurs verschafft, die ohne das Internet und soziale Medien niemals möglich gewesen wären. Man sollte sich nicht in die Zeit davor zurücksehnen, weil mehr Streit und Pluralismus ein Gewinn sind für Demokratien.
Es geht dann jedoch nicht ohne neues Handwerk, ohne die Fähigkeit, verbindlich zu bleiben, selbst wenn einem die Ansichten des Gegenübers fremd oder gar zuwider sind. Es ist wichtig, Grenzen zu ziehen gegen menschenverachtende Rede und Desinformation, doch die Debatten sollten so weit wie möglich geführt werden, auch aus dem alten Vertrauen heraus, dass das bessere Argument gewinnt. Das setzt jedoch eine gebildete Bevölkerung voraus und Internetnutzer mit hoher Medienkompetenz.
Debatten wurden abgewürgt
Die letzten Jahre dominierte in vielen Diskursen die Betroffenheitsperspektive, bei zentralen Themen hieß es, man könne manches Unrecht ohne die biographische Prägung nicht verstehen oder sich glaubhaft dagegen einsetzen. Der Trend biologische, ethnische und soziologische Merkmale über die geistigen Positionen eines Menschen zu stellen, hatte sich durchgesetzt.
Als logische Konsequenz wurden immer mehr Debatten mit dem Hinweis auf solche Merkmale abgewürgt: Ein Beispiel ist der alte weiße Mann, der im Zweifelsfall immer als K.O. Argument dient. Oder der „Querdenker“, den es zwar gibt, zu dem jedoch auch vorschnell viele gemacht wurden, die sich kritisch gegen manche Schutzmaßnahmen äußerten. Ein Diskurs, der Diskursteilnehmende in Gruppen sortiert, statt Argumente auszutauschen, mag immer noch demokratisch sein, aufgeklärt ist er jedoch nicht, weil er Menschen in Sippenhaft nimmt und die Empörung über Gruppenzugehörigkeiten über den Austausch von Argumenten stellt.
So ist kein Diskurs zu machen. In den letzten Jahren herrschte bei vielen Themen die Maxime: die Einen reden, vor allem Betroffene, die anderen müssen zuhören. Davon sollten wir uns für die Zukunft verabschieden. In einer Demokratie sollten alle zuhören und alle reden dürfen, wenn sie das wollen. Ohne Risiko, durch das Gesagte in den Wut-Zonen der Diskurse zu landen, wo entweder das Ansehen oder das eigene Werk zersetzt oder man zur reaktionären Kraft erklärt wird.
Einer der entscheidenden Momente funktionierender Demokratien ist jener, in dem nach einer Wahl der vorhergehende Regierungschef dem neu gewählten die Hand reicht und seine Niederlage anerkennt. Wie schwer vielen im Großen wie im Kleinen diese Geste inzwischen fällt, zeigt wie dringend wir es nötig haben, sie als Kern des demokratischen Mehrheitskampfes wiederzubeleben, und auch mit jenen friedlich zusammenzuleben, gegen die man sich demokratisch durchgesetzt hat.