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Dendrogramma
Das Rätsel der tierischen "Tiefsee-Pfifferlinge"

Vor fast 30 Jahren entdeckten Wissenschaftler im Indischen Ozean unbekannte Lebewesen, die im Stammbaum der Tiere nicht zugeordnet werden konnten. Forscher haben sie jetzt als "Dendrogramma" identifizieren können. Sie könnten Nachfahren einer Lebenswelt sein, die vor mehr als einer halben Milliarde Jahre verschwunden ist.

Von Dagmar Röhrlich |
    Die Dendrogramma erinnern äußerlich an Pfifferlinge.
    Die Dendrogramma erinnern äußerlich an Pfifferlinge. (dpa/picture alliance/Eurekalert)
    Es begann 1986: Damals war das Forschungsschiff "Franklin" zwischen Australien und Tasmanien unterwegs. Unter anderem holten die Wissenschaftler Proben aus 400 und 1.000 Metern Wassertiefe an Deck. Darin steckten seltsame Lebewesen, die niemand einordnen konnte - bis jetzt:
    "Dendrogramma erinnern vom Aussehen her an Ohrenquallen, allerdings sind sie nur etwa einen Zentimeter groß. Wir haben zwei Arten identifiziert: Dendrogramma enigmatica und Dendrogramma discoides. Sie haben Körperscheiben, in denen wir ein weit verästeltes Verdauungssystem erkennen können. Das führt in einen Stiel, an dessen Ende in der Mitte ein Mund sitzt," beschreibt Reinhardt Kristensen, Biologe am Naturkundemuseum Kopenhagen. Und der Mund, er dient gleichzeitig auch als After:
    "Wie sie sich ernähren ist ein anderes Problem. Ihr Verdauungssystem war leer. Wir vermuten, dass sie - wie so viele andere kleine Tiere der Tiefsee - von Bakterien leben."
    Die Tiere sahen auch nicht so aus, als wären sie irgendwo festgewachsen gewesen. Sie scheinen mit den Strömungen durch die Tiefsee getrieben zu sein, denn anscheinend fehlen ihnen jedwede Mittel zur Fortbewegung: Ihr Körper ist sehr einfach gebaut, besteht aus einem gallertartigen Material zwischen einer Außen- und einer Innenhaut. Darin gleichen sie Rippenquallen und Nesseltieren, allerdings fehlen ihnen andere charakteristische Merkmale dieser primitiven Tiere wie etwa Nesselzellen oder Tentakel:
    "Da ist unser großes Problem: Aufgrund unserer bisherigen Analysen können wir Dendrogramma nicht in den Stammbaum der vielzelligen Tiere einordnen, aber die Proben sind an Bord der Franklin - wie damals üblich - in Formaldehyd konserviert worden. Deshalb können wir heute keine DNA-Analyse mehr machen. Dafür müssten wir erst neue Exemplare bei einer weiteren Expedition finden."
    Ähnlichkeit mit Ediacara-Fauna
    Bislang ist es jedoch auch mit DNA-Analysen noch nicht gelungen, die evolutionären Beziehungen zwischen den primitiven Tierstämmen von Rippenqualle bis Schwamm zweifelsfrei zu klären. Die Einordnung von Dendrogramma könnte sogar noch komplizierter sein, und das hat mit ihrem pfifferlingartigen Aussehen zu tun:
    "Sie gleichen Tieren der Ediacara-Fauna, die vor rund 600 Millionen Jahren auftauchten, in einer Zeit, bevor die modernen Tiere lebten. Und zwar sieht Dendrogramma wie die medusenartigen Formen dieser ersten vielzelligen Tiere auf der Erde aus."
    Die Ediacara-Fauna ist berühmt, weil ihr Bauplan so fremdartig wirkt. Bei ein paar Vertretern ist noch nicht einmal sicher, ob sie wirklich Tiere waren. Mehr als 40 Millionen Jahre hinweg scheinen sie die Meere dominiert zu haben, bis mit der Kambrischen Explosion die Tiere mit Zähnen und Klauen auftauchten. Dann verschwanden sie. Stammte Dendrogramma von den Ediacara-Fossilien ab, würde das das Verständnis revolutionieren, wie sich Tiere entwickelt haben. Der von den dänischen Forschern vorsichtig formulierte Vorschlag stößt zunächst auf Skepsis:
    "Die Entdeckung Dendrogrammas ist faszinierend und sehr aufregend: Sie scheinen fast vollkommen anders zu sein, als alles, was wir kennen, und wohin sie gehören, ist offen. Obwohl es gewisse Ähnlichkeiten zwischen Dendrogramma und den medusenartigen Ediacara-Fossilien geben könnte, überzeugt mich dieser Vergleich nicht vollkommen. Aber wir sollten offen dafür bleiben," beurteilt Simon Conway Morris von der University of Cambridge die Arbeit seiner Kollegen. Er tippt, dass Dendrogramma mit den Nesseltieren verwandt sein könnte - und dass die Ähnlichkeit mit manchen Ediacara-Fossilien darauf beruht, dass sie aufgrund von Umwelteinflüssen analoge Körperformen entwickelt haben. Klären lasse sich das aber nur mit neuen Exemplaren. Da sind sich die Forscher einig.