Der Abschied

Mein lieber Vater, dramatische und ereignisreiche Tage liegen hinter uns, mancherlei Gefahren gingen vorüber, man war jeden Tag froh, das Leben neu geschenkt erhalten zu haben. Heute nun komme ich zu Dir, unserem geliebten alten Herrn, weil ich ausser Dir nur mit Liesl so ein ernstes Wort sprechen kann.

Von Dietrich Möller |
    Am 13. Januar schreibt der Gefreite Anton Rieser einen letzten Brief aus dem Kessel von Stalingrad. Der Ring um die Reste der 6. deutschen Armee ist undurchdringlich geworden, der Versuch, ihn von Süden her zu durchbrechen, ist kurz vor Weihnachten gescheitert. Der Gefreite Anton Rieser nimmt Abschied; später erfahren seine Angehörigen, dass er vermisst wird.

    Ein widriges Schicksal ist gegen uns, und am Himmel dieses russischen Staates ziehen drohend wie dunkle Gewitterwolken mancherlei Gefahren herauf. Ob wir allen Gefahren entrinnen, ist unbestimmt und liegt in des Schicksals Hand, dessen Gewalt wir in diesen Tagen mehr als jemals spüren. Ich werde die Flügel niemals hängen lassen und, wenn nötig und möglich, mit allen Mitteln und Kräften versuchen, mich durchzuschlagen. Sollte es aber anders beschlossen sein, dann bitte seid nicht allzu traurig. Ich bin dankbar für eine wundervolle Jugendzeit im Elternhaus, für die Erziehung und all Eure vielen Opfer für mich, lieber Vater. Und nachher schenkte mir das Leben eine prächtige Frau (...) Das Herzeleid meiner lieben Liesl hätte dieses gute Menschenkind nicht verdient. Aber wir wollen allen Gefahren offen ins Auge schauen.

    Ich fühle das Bedürfnis, Dir viel Liebes zu sagen, zu schreiben, da ich Dir nach menschlichem Ermessen im Leben - eventuell - nicht mehr viel sein kann. Wie lange wir uns hier noch halten können, weiß ich nicht. Ich glaube nicht, dass es bis zum Eintreffen von Hilfe sein wird.

    Der Arzt Dr. Horst Rocholl am 14. Januar in einem Brief an seine Frau

    Der Soldat im Graben kann verwundet oder krank nach Hause kommen. Ich durfte nicht nach vorn, weil ich Arzt bin und unsere Soldaten wieder kampffähig machen muss. So warte ich den Tag ab, vor dem mir graut, nicht wegen des wahrscheinlichen Todes, nein, wegen dessen, was ich dabei sehen und fühlen muss. Ich bin ja doch ein Mensch, keine Bestie, habe die verwundeten Feinde versorgt, so oft ich konnte, so oft meine sonstigen Aufgaben die Möglichkeit dazu gaben. Ich habe es getan, nicht aus Mitleid, sondern weil ich in ihnen Soldaten sah, wenn auch feindliche. Gern wäre ich im Kampf gefallen. Du hättest die Nachricht der Truppe erhalten, vielleicht ein paar anerkennende Worte meines Kommandeurs. So aber wirst Du nichts von mir wissen, nur das, dass ich mit vielen Kameraden zusammen ausgekämpft habe. Ob ich lebe, ob ich starb, nichts ist Dir bekannt. Wenn ich sterbe, wird es leicht sein.

    Horst Rocholl hat überlebt. Wie der Rittmeister Heino Graf Vitzthum, der am 17. Januar schreibt:

    Mein Liebstes! Du sollst ganz klar sehen. Die Lage ist außerordentlich ernst und man weiß nicht, was die nächsten Stunden und Tage bringen werden, wie lange alles noch dauern wird. Eines sollst Du wissen: Wenn es zum Äußersten kommt, kannst Du beruhigt um mich sein. Ich weiß, was ich zu tun habe und weiß, dass es in Deinem Sinne ist, wir haben ja einmal darüber gesprochen. Noch ist es nicht so weit ...

    Solltest Du zwei Monate weiter gerechnet keine Post mehr von mir erhalten, so kannst Du mit Sicherheit annehmen, dass ich nicht mehr bin. In russische Gefangenschaft würde ich mich nicht begeben. Bitte, schweige vorläufig darüber, und wenn die von mir genannte Zeit vorüber ist, bereite mein liebes Hildchen darauf schonend vor. Das vor mir ersparte geld soll dann für unser Kind sein.

    Feldwebel Otto Kirschner am 19. Januar. Vom selben Tag ist auch der Brief des Divisionspfarrers Gustav Raab - sein letzter: Raab bleibt vermißt.

    Es kann doch nicht sein, dass ich die Heimat nicht wiedersehen soll. Dieser Gedanke beschäftigt mich stündlich und täglich. (...) Ich befehle mich ganz in die Hand Gottes und bete täglich das letzte Gebet meines Lebens, um in jedem Augenblick bereit zu sein.

    Wir sind weiter zusammengedrängt worden und führen seit Tagen einen verzweifelten Kampf.

    Der Pfarrer Karl Augustinus, ebenfalls am 19. Januar. Rund 14 Tage sind es noch, bis die Reste der 6. Armee kapitulieren - gegen den Befehl Hitlers

    Namenloses Elend, Tod und Zerstörung ist hier. Von den meisten, die hier starben, werden die Angehörigen nie eine genaue Nachricht erhalten: Sie werden als vermisst gemeldet, aber sie sind tot. Wenn je eine derartige Nachricht zu Euch kommen sollte, dann dürft Ihr annehmen, dass ich unter denen bin, die verwundet, gefangen, erfroren oder verhungert hier geopfert worden sind. (...) Grüßet alle, die mir teuer sind. (...) Nachdem ich Euch nun dieses geschrieben habe, gehe ich ruhiger in die kommenden Tage hinein. Ich kann nirgends hinfahren als in die Arme Jesu.

    Wie sein Amtsbruder Raab ist auch Karl Augustinus in Stalingrad verschollen. Am 20. Januar verabschiedet sich der Oberstabsarzt Oskar Wilhelm von seinen Eltern:

    In dieser Stunde möchte ich Euch, meinen lieben Eltern von Herzen danken, für alles, was Ihr in Eurer großen Liebe an mir getan habt. (...) Ich fühle mich Euch in Liebe verbunden, solange ich lebe. (...) Habe ich nicht ein Leben der Freude und des Glücks genossen? Wem könnte das Leben mehr an Glück und innerer Befriedigung in meinem Beruf geben? Euer in ewiger Liebe dankbarer Sohn Oskar. Auf Wiedersehen!