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Der andere Blick auf ´68
Die 1968er-Jahre als globale Kulturrevolution

Im Jahr 1968 bündelte sich eine globale Kulturrevolution. Das Kulturelle daran betraf nicht nur die Kunst, sondern auch die Denk- und Wahrnehmungsweisen. Und es zeichnet die Globalität der 68er-Jahre aus, dass theoretisch und praktisch transnationale Verbindungen an vielen Orten hergestellt wurden.

Von Jens Kastner |
    Studentenproteste 1968 in Belgrad
    Auf einer Kundgebung am Pfingstmontag, den 03.06.1968, im Universitätviertel in Belgrad in Jugoslawien fordern Studentenführer eine Hochschulreform (dpa / UPI)
    Gemeinsame Klammern dieser sozialen Bewegungen waren sicherlich die Proteste gegen den Vietnamkrieg und der Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Demokratisierung. Die bestehende Welt mit ihrem Kapitalismus und Krieg sollte verändert werden, aber auch das alltägliche Leben wurde zur Disposition gestellt. Die Bewegungen zielten zugleich auf das große Ganze und auf die vermeintlichen Kleinigkeiten, sie agierten makro- und mikroperspektivisch.
    Das Kulturelle dieser Revolution zu betonen, bedeutet auch, auf ein Paradox hinzuweisen. Es besteht darin, dass die Bewegungen der 1968er-Jahre zugleich sehr erfolgreich waren und total gescheitert sind. Verloren haben sie hinsichtlich ihrer weitreichenden ökonomischen und selbst in Bezug auf ihre politischen Erneuerungsvorstellungen. Erfolgreich waren sie hingegen vor allem in kultureller Hinsicht.

    Als die Regierung im Oktober 1967 die Stipendien für Studierende stark reduziert, bringt das ein Fass zum Überlaufen. Die Studierendengewerkschaft ruft am 18. Mai einen Streik aus, zehn Tage später haben sich auch die Schülerinnen und Schüler der Gymnasien sowie die Gewerkschaften angeschlossen. Ein Generalstreik findet statt. Präsident Senghor beschuldigt ausländische Kräfte wie das kommunistische Kuba für die Revolte verantwortlich zu sein.
    Am 3. Juni 1968 wird die "Rote Universität Karl Marx" ausgerufen. Bereits im Dezember zwei Jahre zuvor ist es vor der US-Botschaft zu heftigen Protesten gegen den Vietnam-Krieg gekommen. Beflügelt von den Philosophinnen und Philosophen der Praxis-Gruppe treten die Studierenden für einen authentischen Kommunismus ein. Selbst Staats- und Parteiführer Josip Broz Tito erkennt im Streik an der Universität eine "vulkanische Explosion der Unzufriedenheit" unter den jungen Leuten.
    Eine Staatskrise bricht aus
    Am 26. Juli 1968 treffen in der Hauptstadt zwei Demonstrationen aufeinander. Die eine fordert Solidarität mit dem revolutionären Kuba, die andere bessere Studienbedingungen und Demokratie. Als zwei Tage später die Universität besetzt wird, lässt die staatliche Reaktion nicht lange auf sich warten. Eine Polizeieinheit beschießt das Gebäude mit Granaten und zerstört das barocke Holztor der Preparatoria. Der Rektor solidarisiert sich mit den Studierenden und lässt am nächsten Tag die Nationalflagge auf Halbmast setzen. Am 13. August demonstrieren 150.000 Menschen auf dem Zócalo gegen die Regierung. Eine Staatskrise bricht aus, aber Präsident Díaz Ordaz verweigert das Gespräch.
    Die drei Beispiele stammen aus Dakar im Senegal, aus Belgrad im damaligen Jugoslawien und aus Mexiko-Stadt. Und sie ließen sich ergänzen durch andere Proteste und soziopolitische Konflikte an vielen Orten der Welt, die zeigen: Die Revolten von 1968 fanden nicht nur im Pariser Mai statt. Sie waren auch nicht nur die Reaktion einer bundesdeutschen Bewegung gegen Notstandsgesetze und alte Nazis in Justiz, Bildung und Politik. Und selbst eine Perspektive, die die US‑amerikanische Bürgerrechtsbewegung und das Free Speech Movement in Berkeley mit in den Blick nimmt, blendet noch immer viel zu viel aus.
    Im Jahr 1968 kulminierte ein globaler Bewegungszyklus. Gemeinsame Klammern dieser sozialen Bewegungen waren die Proteste gegen den Vietnam-Krieg und der Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Demokratisierung. Die bestehende Welt mit ihrem Kapitalismus und Krieg sollte verändert werden, aber auch das alltägliche Leben wurde zur Disposition gestellt. Die Bewegungen zielten zugleich auf das große Ganze und auf die vermeintlichen Kleinigkeiten, sie agierten makro- und mikroperspektivisch.
    Der Bewegungszyklus von 1968 war eine globale Kulturrevolution. Global war diese Revolution nicht nur, weil in den späten 1960er‑Jahren an vielen Ecken der Welt protestiert wurde. Sondern global war sie vor allem deshalb, weil diese Proteste sich aufeinander bezogen und sich voneinander inspirieren ließen. Das Kulturelle dieser Revolution zu betonen, bedeutet auch, auf ein Paradox hinzuweisen. Es besteht darin, dass die Bewegungen der "1968er‑Jahre" zugleich sehr erfolgreich waren und total gescheitert sind. Gescheitert sind sie hinsichtlich ihrer weitreichenden ökonomischen und selbst in Bezug auf ihre politischen Erneuerungsvorstellungen. Erfolgreich waren sie hingegen vor allem in kultureller Hinsicht. Mit Kultur ist hier zweierlei gemeint:
    Zum einen beschreibt Kultur jene gesellschaftlichen Bereiche, über die das Feuilleton berichtet, also Musik, Tanz, bildende Kunst, Theater und so weiter. Zum anderen geht es bei Kultur auch um ganz allgemeine Denkweisen und Interpretationsmuster.
    Kultur als Kunst
    Die Bedeutung der ersten Ebene von Kultur - Kultur als Kunst - für die "68er-Jahre" brachte neben vielen anderen der Philosoph Herbert Marcuse auf den Punkt. Marcuse war ein Vertreter der Kritischen Theorie und Stichwortgeber für die 68er‑Bewegungen in den USA und Westdeutschland. Er schrieb: "Als ich an den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg teilnahm, als die Lieder von Bob Dylan gesungen wurden, hatte ich das begrifflich schwer zu bestimmende Gefühl, daß dies die einzig revolutionäre Sprache ist, die uns heute noch bleibt."
    Marcuse widersprach damit der Analyse seiner Kollegen und Mitstreiter Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. In ihrem Buch Dialektik der Aufklärung hatten sie im Rahmen ihrer Kritik an der "Kulturindustrie" behauptet, Kultur im Spätkapitalismus wirke vor allem entmündigend, manipulativ, Konformität erzeugend, Differenzen einebnend, passiv machend und imperialistisch, also alle Lebensbereiche durchdringend. Tatsächlich wurden um 1968 Bücher und Platten, Romane und Pop-Musik wie selten zuvor Inspiration für rebellische Haltungen und fungierten als Motive zur Revolte. Popkultur veränderte Haltungen.
    Auch im Bereich der bildenden Kunst wurden die bis dahin geltenden Parameter verschoben. So sorgten die Pop Art und der Konzeptualismus einerseits sowie die meist feministisch inspirierte Performance-Kunst andererseits für grundlegende Veränderungen in der Kunstwahrnehmung. Dem Kunstprozess wurde der Vorrang vor dem Produkt eingeräumt. Das Publikum wurde als Teil solcher Prozesse angesehen und damit aus seiner Passivität befreit. Der Genie-Kult geriet ins Wanken und kollektive Produktionsformen wurden ausgetestet und wertgeschätzt. Das galt nicht nur für die USA und Westeuropa, sondern auch für Argentinien, Mexiko oder Jugoslawien.
    Künstlerinnen und Künstler wandten sich dagegen
    In Mexiko-Stadt beispielsweise entstand 1968 der "Salon Independiente", ein Zusammenschluss bildender Künstlerinnen und Künstler. Dieser "Unabhängige Salon" wollte in zweifacher Hinsicht unabhängig sein: Die Künstlerinnen und Künstler wandten sich dagegen, sich durch das offizielle Kulturprogramm zu den Olympischen Sommerspielen von 1968 nationalistisch vereinnahmen zu lassen. Und sie organisierten sich auch gegen den Individualismus des Kunstfeldes und die allgemeine "Konsumkultur", wie sie sie selbst nannten.
    Noch bekannter und Gegenstand zahlreicher Ausstellungen und Publikationen ist jene Zusammenarbeit von Künstlern mit Gewerkschaften, die sich 1968 in Argentinien ergab. Hier organisierten Künstler, die sich selbst als Avantgarde verstanden, gemeinsam mit dem Gewerkschaftsdachverband CGTA die Ausstellung "Tucumán Arde" (Tucumán brennt) in Buenos Aires und Rosario, um auf die miserable soziale Lage in der Region Tucumán aufmerksam zu machen.
    Auch in Jugoslawien thematisierten Künstler soziale Missstände und die alltäglichen Auswirkungen der politischen Herrschaft. Vor allem Filmschaffende entwickelten in den 1960er‑Jahren neue, gleichermaßen realistische und düstere Ausdrucksformen. Die Bewegung, die 1969 als "Crni talas", als "Schwarze Welle" bezeichnet wurde, trat als Avantgarde-Strömung aber nicht nur im Film, sondern auch im Theater, der bildenden Kunst und in der Literatur zum Vorschein.
    Die künstlerischen Bewegungen in Mexiko, Argentinien und Jugoslawien verbindet ihr zugleich lokaler und globaler Fokus: Wie ihre mexikanischen und argentinischen Kolleginnen und Kollegen kannten sich auch die Protagonisten der "Schwarzen Welle" mit der globalen Kulturgeschichte aus und wussten bestens über die zeitgenössischen internationalen Trends Bescheid. Zugleich entwickelten sie aber ihre ganz spezifischen Formsprachen mit lokalen Besonderheiten.
    Neuerungsbewegung im globalen Maßstab
    Zu einer sämtliche Kunstsparten betreffenden Neuerungsbewegung - wie in Jugoslawien - kam es im globalen Maßstab allerdings nur selten. Eine Ausnahme ist in dieser Hinsicht sicher auch die Tropicália-Bewegung in Brasilien. Ihr werden bildende Künstler wie Hélio Oiticica, Rockbands wie Os Mutantes und Singer‑Songwriter wie Caetano Veloso, Gilberto Gil, Rogério Duarte und andere zugerechnet. Auch das Kino in Brasilien erhielt mit der Bewegung des Cinema Novo wesentliche neue Impulse. Die Tropicália-Bewegung setzte gezielt auf die Vermischung von Folklore und Pop, von volkstümlichen und avantgardistischen Elementen. Eine solche Mischung blieb aber die Ausnahme. Sie hatte sich zwar in Frankreich oder Argentinien mit der Reanimierung des politischen Chansons sicherlich angedeutet. In Deutschland hingegen wäre solch ein kulturelles Crossover undenkbar gewesen.
    Auch wenn die Kultur der herrschenden Klasse gerade in Westeuropa noch lange tonangebend sein sollte, wurden um 1968 doch die ersten maßgeblichen Schritte zur Unterwanderung des Gegensatzes von Hoch- und Massenkultur, von ernster und Unterhaltungskunst gesetzt. Mit der Verwischung dieses Gegensatzes und der wirksamen Infragestellung bisheriger Wertmaßstäbe ist schließlich auch der Übergang zur zweiten Ebene von Kultur angedeutet.
    Kultur als Denkweise
    Der Erfolg der "68er-Jahre" auf kultureller Ebene beschränkte sich nicht auf Lieder, Lyrik und neue künstlerische Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen. Er geht über das spezifische kulturelle Feld hinaus. Kultur meint nämlich noch etwas viel Weitergehenderes, nämlich Prozesse und Praktiken der Sinn- und Bedeutungsgebung, also kurz gesagt die Frage, wie Menschen sich die Welt erklären. Es geht um die Gültigkeit und Legitimität solcher Erklärungen und um die Macht, sie durchzusetzen. Auch und gerade in dieser Dimension von Kultur haben die 68er-Jahre tiefe Spuren hinterlassen.
    "Nach 1968 hat sich eine ganze Weltsicht geändert", sagt etwa die mexikanische feministische Performance-Künstlerin Maris Bustamante. Nun galt es "alles anders zu machen als traditionelle Subjekte". Dieser Anspruch, aus neuen Erklärungen direkte Schlüsse für einen anderen Alltag zu ziehen, "alles anders zu machen", findet sich in vielen Selbstbeschreibungen von damals. Dieser libertäre Esprit hob sich vom institutionalisierten Politikverständnis der kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien deutlich ab. Der Anspruch, im Hier und Jetzt zu wirken, wurde vertieft von den feministischen Gruppen und Frauenbewegungen: Sie waren es, die speziell die Kindererziehung und allgemein die Geschlechterverhältnisse in den Fokus des Politischen rückten. Die vormals als privat betrachteten Lebensbereiche wurden als Teil des Politischen deklariert. Auch wenn die feministischen Gruppen in zentralen inhaltlichen Punkten und lebensweltlichen Kontexten Teil der Neuen Linken waren, gewannen sie ihr Profil, wie die Historikerin Kristina Schulz schreibt, "zugleich aus der Abgrenzung." Denn nicht selten waren ihre Forderungen Reaktionen auf die Ignoranz der männlichen Genossen. Auch Reproduktionsarbeit und das Recht auf den eigenen Körper waren relevant, gesellschaftstheoretisch wie auch in der Alltagspraxis.
    Dieses neue, libertäre Politikverständnis manifestierte sich in der Entwicklung neuer Lebensformen wie beispielsweise Wohngemeinschaften und Kommunen, der Infragestellung der bürgerlichen Kleinfamilie und der Etablierung von Kinderläden sowie alternativen Zeitschriften und linken Buchläden. Solche Entwicklungen waren nicht nur für die westlichen Zentren der Bewegungen wie Paris, Berlin oder Berkeley charakteristisch. Als etwa der Musiker und Begründer des Afrobeat, Fela Kuti, nach einem zehnmonatigen USA-Aufenthalt mit engen Kontakten zur Bürgerrechtsbewegung nach Nigeria zurückkehrte, gründete er dort die Kalakuta Republic, eine Art Kommune mit Tonstudio. Es gab einen transnationalen Trend zu kollektivistischen Sozial- und Gemeinschaftsformen. Dabei ging es um politische und banale alltägliche Praktiken zugleich. Eine ganze Sozialisation durch Kapitalismus und Kolonialismus sollte bewältigt und überwunden werden. Der postkolonialen Prägung der Wahrnehmung galt es, schrieb der peruanisch-mexikanische Kulturtheoretiker Juan Acha im Rückblick auf die Anliegen von 1968, immer auch mit einer "kulturellen und künstlerischen Selbstdekolonisierung" zu begegnen.
    Bruch mit der familiären Tradition
    Als in Mexiko Studentinnen im Hörsaal übernachteten und viele junge Frauen erstmals ohne Begleitung die Nacht außerhalb von zu Hause verbrachten, wurde das als Bruch mit der familiären Tradition erlebt, sagt Teresa Losada, eine mexikanische Soziologin und Teilnehmerin der Protestbewegung. Auch die Lockerung der Kleiderordnungen und das Durchkreuzen hierarchischer Sprachregelungen gehören zu den viel beschriebenen Brüchen mit dem alltäglichen Autoritarismus.
    Das mag vielleicht banal klingen. Und es stellt sich durchaus die Frage, ob mehr von "1968" geblieben ist als die Allgegenwart der Jeans und bei IKEA geduzt zu werden. Aber ebenso wie die "flachen Hierarchien" in den Leitlinien vieler heutiger Unternehmen sind dies sicherlich eher nicht-intendierte Nebeneffekte als direkte Folgen von 1968.
    Sprache, Kleidung und Umgangsformen waren nicht bloß die vermeintlich läppischen Probleme privilegierter Bürgerinnen und Bürger, die sich schweren Themen wie Armut und Ausbeutung nicht zu widmen brauchten. Denn mit den autoritären Alltagsmustern fiel auch die Ehrfurcht vor sogenannten Würdenträgern (meist Männern), vor Chefs, Eltern und Vorarbeitern - und zwar milieuübergreifend. Auch in anderen als bürgerlichen Schichten ging es um die Umgestaltung des Alltags, etwa bei der Black Panther Party und ihrem Frühstücksprogramm für Kinder. Damals fragten manche Radikale: Warum Frühstück für Kinder organisieren? - Aus den Reihen der Black Panther Party hieß es dazu: "Nur wer zur Oberklasse oder zur sogenannten Mittelklasse gehört, stellt überhaupt eine solche Frage. Die Mehrheit der Schwarzen, der mexikanischen Amerikaner, der Asiaten und der armen Weißen weiß aus eigener Erfahrung, dass man nicht lernen kann, wenn man hungrig zur Schule geht."
    Nicht nur einzelne Politikbereiche sollten verändert werden, sondern das ganze Leben. Alles schien möglich. Die von den 68er-Bewegungen hervorgebrachten neuen Wege, den Alltag zu organisieren, hätten ihren Mitgliedern das Gefühl für die Möglichkeit eines "plötzlichen Gesinnungs- und Mentalitätswandels" vermittelt, urteilt der mexikanische Historiker und Journalist Carlos Monsiváis.
    Globalität der Solidarität
    Worin bestand aber nun die Globalität der doppelten, die Wahrnehmungsweisen wie auch die Kunstproduktion betreffenden Kulturrevolution? Sicherlich sind die technologischen Entwicklungen der 1960er Jahre, allen voran die Verbreitung von Fernsehgeräten, wichtige Voraussetzungen gewesen. Auch die im Vergleich zu früher größere Mobilität war ein möglicher Faktor für die Globalisierung der Protestbewegungen. Entscheidend aber war nicht, dass Ereignisse aus anderen Regionen der Welt präsenter waren - hier vor allem der Krieg der USA gegen Vietnam -, sondern wie sie interpretiert wurden.
    Denn erstens fanden auch ohne Fernseher und Telefon schon transnationale Proteste statt - etwa 1848. Und zweitens galt die Präsenz ja keineswegs flächendeckend überall gleich. Auch wenn Tokyo, Dakar, Belgrad und Mexiko-Stadt längst zu den Schauplätzen der 68er-Revolten gezählt werden, so handelt es sich hier doch um ganz bestimmte Orte, nämlich um Städte, noch genauer: um Metropolen. Die 68er-Jahre waren vor allen ein Metropolen-Phänomen, auch in der globalen Peripherie. Was nicht heißt, dass Provinzen grundsätzliche keine Rolle gespielt hätten und es dort keine Marx-Lektüregruppen oder Revolten gegen Fahrpreiserhöhungen gegeben hätte.
    Entscheidend für die Globalität der 68er Jahre sind die Interpretationsweisen der Akteurinnen und Akteure der sozialen Bewegungen. Zwar wird häufig von der "68er‑Generation" gesprochen und der euphorischen Zeile in Scott McKenzies Hymne If You´re Going to San Francisco aus dem Jahr 1967 recht gegeben: "There's a whole generation/ With a new explanation". Letztlich waren es aber doch eher die Aktionen und der Protest von Minderheiten - Studierende sowie Arbeiterinnen und Arbeiter - , die den Protest motiviert und getragen haben. Der Geburtsjahrgang war nicht entscheidend. Sonst dürften etwa Leute wie der SDS-Aktivist Reinhard Strecker, der Dramatiker Rolf Hochhuth oder die damalige Journalistin Ulrike Meinhof, die ausschlaggebend für die kritische Beschäftigung mit dem Fortleben der NS-Vergangenheit waren, gar nicht dem globalen 1968 zugerechnet werden.
    Nicht national gedacht, sondern transnational
    Neue Formen der Interpretation wurden vor allem in bestimmten Milieus entwickelt, dort wurden neue Zusammenhänge hergestellt. "Man kann nicht verstehen, was in Mississippi vor sich geht", schrieb der schwarze Bürgerrechtler Malcolm X 1964 über die seiner Ansicht nach stattfindende "Weltrevolution", "wenn man nicht versteht, was im Kongo passiert." Die Schwarze Befreiung wurde nicht national gedacht, sondern transnational. Auch wenn es häufig sehr lokale Probleme gab, die die Bewegungen entfachten - die globalen Zusammenhänge wurden nicht bloß in den Black Liberation-Bewegungen hergestellt.
    Auch in der deutschen 68er-Bewegung spielten transnationale Bezüge schon früh eine wichtige Rolle. Als etwa der Ministerpräsident des Kongo, Moïse Tschombé, im Dezember 1964 auf Staatsbesuch in Deutschland weilte, kam es in mehreren Städten zu Protestkundgebungen. Tschombé galt als einer der Hauptverantwortlichen für die Ermordung seines Vorgängers Patrice Lumumba 1961, der als erster antikolonialer Präsident das Land nach der Unabhängigkeit regiert hatte. Die Proteste wurden unter anderem von jenen situationistischen Künstlerinnen und Aktivisten koordiniert, die als lose Gruppe Subversive Aktion kurz zuvor in München und Berlin in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) eingetreten waren, um dort eine aktivistischere Politik durchzusetzen. Rudi Dutschke bezeichnete die Aktionen zum Tschombé-Besuch später sogar als "Beginn unserer Kulturrevolution". Um einiges bekannter im bundesdeutschen Kontext ist sicherlich die Demonstration gegen den Schah von Persien am 2. Juni 1967, auf der der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde. Bevor diese Demo als Ereignis in die Geschichte einging, in der von Seiten des Staates Gewalt gegen die Bewegung eingesetzt wurde, war sie zunächst ein Akt internationaler Solidarität. Der "internationale Charakter der Revolutionswelle selbst", schreibt die Sozialtheoretikerin Bini Adamczak in ihrem viel besprochenen Buch Beziehungsweise Revolution deshalb ganz zu Recht, "war die Bedingung der Möglichkeit von 1968."
    Adamzcak schreibt allerdings auch, das Erstaunlichste an der "sozialistischen Revolutionswelle von 1968" sei gewesen, "dass es sie überhaupt gegeben hat." Der Stalinismus schien die Kinder der Revolution für alle Zeiten gefressen zu haben. An die Rätebewegungen der 1910er‑Jahre oder an den libertären Sozialismus des spanischen Anarchismus der 1930er‑Jahre anzuknüpfen, schien schon deshalb unmöglich, weil technische und soziale Entwicklungen die Arbeiterklasse der Nachkriegszeit völlig verändert hatten. Der Nationalsozialismus hatte zudem, weit über Deutschland hinaus, die Trägerinnen und Träger solcher Traditionen vernichtet. Und die Erinnerung an sie gleich mit.
    Und dennoch konnte die Tradition des libertären Sozialismus aktualisiert werden, dennoch verbanden sich die Ausbruchsversuche aus konservativen Normen mit antikolonialen Hoffnungen auf Befreiung.
    Rätselhafte Gleichzeitigkeit
    Die Verbindungen waren lose und temporär. Bei all der hergestellten Gemeinsamkeit waren die Bewegungen doch sehr unterschiedlich motiviert. Das fällt auch auf, wenn man sich die drei eingangs erwähnten Beispiele noch einmal vor Augen hält: Der unvollendete Unabhängigkeitsprozess spielte im Senegal eine zentrale Rolle, in Belgrad hingegen war Kolonialismus kaum ein Thema. Während die Proteste der 1968er-Jahre in Deutschland gerne als "Generationenkonflikt" gedeutet wurden, bestand diese Kluft zwischen den Altersgruppen in anderen Ländern nicht. Die Studierenden in Mexiko-Stadt und Belgrad forderten sogar die konsequente Umsetzung dessen, was die Großeltern und Eltern in der jeweiligen revolutionären Tradition begonnen hatten.
    Auch die soziokulturelle Zusammensetzung der Akteurinnen und Akteure der 68er‑Bewegungen war keineswegs so einheitlich. Selbst wenn in allen drei eingangs genannten Beispielen Studierende die Hauptrolle spielten, müssen Lehrlingsproteste und Aktionen migrantischer Arbeiterinnen und Arbeiter in den Zentren als zentrale Bestandteile der Bewegung betrachtet werden. Nicht zu vergessen der transnationale Aufbruch des Feminismus und der Frauenbewegungen, die nicht selten als Reaktion auf die Männerdominanz in den anderen Bewegungen erst an Zulauf und Stärke gewannen.
    Es bleibt also ein gewisses "Rätsel der Gleichzeitigkeit", wie der Sozialhistoriker Marcel van der Linden es einmal genannt hat.
    Bei aller verbleibenden Rätselhaftigkeit, es gab sie eben, diese gleichzeitigen und aufeinander bezogenen Kämpfe. Es zeichnet die Globalität der 68er‑Jahre aus, dass transnationale Verbindungen an vielen Orten hergestellt wurden - theoretisch wie praktisch. Nicht zuletzt deshalb werden diese Verknüpfungen in der Anti‑68er‑Abrechnungsliteratur immer besonders attackiert. Was als positive Bezugnahme und als Überwindung nationalstaatlicher Denkmuster, als Verpflichtung zu revolutionärer Politik verstanden wurde, wird in den Schriften gegen 68 als bloße Projektionen abgetan, als Verlagerung der eigenen Wünsche auf andere, als psychologische Schwäche. Diese nachträgliche politische Abwertung der transnationalen Ansprüche hat damit zu tun, dass etwas auf dem Spiel stand und steht: Die grenzüberschreitende Solidarität.