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Der baltische Weg

Gewaltlos mit einer riesigen Menschenkette haben die drei baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen vor 20 Jahren um die staatliche Unabhängigkeit gefochten, die sie im Herbst 1991 schließlich auch erhielten. Inzwischen sind alle drei Mitglieder der EU und der NATO, die Wirtschaft im gesamten Baltikum boomte. Bis die weltweite Finanzkrise zuschlug.

Von Birgit Johannsmeier |
    Marju Lauristin: "Ich erinnere mich sehr gut an den 23. August 1989, denn ich war die Erste in der baltischen Menschenkette. Ich musste auf den 'Langen Hermann' klettern. Das ist ein mittelalterlicher Turm hoch oben in der Altstadt von Tallinn, direkt hinter dem Parlament. Aus dem Radio tönte die Stimme des Vorsitzenden unserer estnischen Volksfront. Es war genau 19.00 Uhr. Als er verstummte, entrollte ich unsere estnische Fahne in weiß, blau und schwarz und rief das Wort 'Freiheit'. Daraufhin begann die ganze Kette 'Freiheit' zu rufen und aus dem Radio ertönte ein Lied."

    Lied: "Das Baltikum erwacht: Lettland, Litauen, Estland."

    Es sei sehr windig gewesen, an diesem 23. August vor 20 Jahren, erinnert sich Marju Lauristin. Die Sozialwissenschaftlerin hatte die Volksfront ein Jahr zuvor in der damaligen Sowjetrepublik Estland mitgegründet. Während sie mit aller Kraft die verbotene estnische Fahne hochhielt, sah sie, wie die Menschen unten in den Straßen einander an den Händen fassten und sangen. Die singende Menschenkette reichte sechshundert Kilometer weit: von der estnischen Hauptstadt Tallinn über die lettische Hauptstadt Riga bis zur litauischen Hauptstadt Vilnius. Und in jedem Land wurde im Rundfunk das Lied von den drei Schwestern ausgestrahlt, die am Meeresufer erwachen, um ihre Ehre zu verteidigen. Auf Estnisch, Lettisch und Litauisch.

    In der damaligen Sowjetrepublik Lettland war Sandra Kalniete mitverantwortlich für den reibungslosen Ablauf der friedlichen Demonstration. Die ausgebildete Kunsthistorikerin hatte in einem Zeitungsaufruf der lettischen Volksfront erläutert, wo sich die Teilnehmer aufstellen sollten. Die Leute kamen zu Fuß oder in Bussen, organisiert von ihren Betrieben oder auf eigene Faust. Kaum zu glauben, meint Sandra Kalniete, dass es ihr gelungen sei, die vielen Menschen ohne Mobiltelefon oder Computer pünktlich zu mobilisieren:

    "Noch heute bin ich überwältigt von der großen Bereitschaft der Leute, an unserer Menschenkette teilzunehmen. Die Volksfronten aus Estland, Lettland und Litauen wollten am 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes die ganze Welt und Europa an die geheimen Zusatzprotokolle des Nichtangriffspaktes erinnern. Darin hatten die Sowjetunion und Deutschland Europa unter sich aufgeteilt, und wir drei baltischen Länder sollten wie Finnland unter sowjetischen Einfluss geraten. Tatsächlich hatten Estland, Lettland und Litauen als einzige Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Unabhängigkeit nicht zurückbekommen! Was ich in dem Moment wirklich nicht realisierte, war, dass ich Geschichte schrieb."

    In der damaligen Sowjetrepublik Litauen war der Physiker Zigmas Vaisvila mit Frau und Töchtern in seinem kleinen Shiguli unterwegs. Wie in Lettland und Estland wollte auch die litauische Volksfront Chaos beim Aufstellen der Menschenkette vermeiden. Trotzdem seien sie völlig unvorbereitet auf den Massenansturm gewesen, betont Zigmas Vaisvila. Viele hätten nicht rechtzeitig die Plätze einnehmen können, die man ihnen zugewiesen hatte, oder seien im Stau stecken geblieben. Deshalb habe es parallel zur Hauptkette Riga-Vilnius in Litauen noch eine zweite Kette zwischen Kaunas und Vilnius gegeben:

    "Dieser 23. August ist für uns ein Tag der Stärke, weil wir der ganzen Welt gezeigt haben, dass wir drei Länder solch eine einzigartige Menschenkette zustande bringen konnten. Aber wir hatten auch große Angst. Denn Moskau hatte die Demonstration am Morgen verboten. Deshalb hatte mich der Vorstand unserer Volksfront beauftragt, einen Aufruf zu verfassen. Sollte Moskau mit Gewalt gegen unsere Kette vorgehen, hätte ich ihn veröffentlichen müssen. Es kam zum Glück nicht dazu. Dass uns die Menschenkette vielmehr in die Freiheit führen würde, haben wir damals gar nicht geahnt."

    Mehr als zwei Millionen singender Demonstranten nahmen den gewaltlosen Kampf um die Freiheit auf, an dessen Ende im Herbst 1991 die staatliche Unabhängigkeit der drei baltischen Länder stand. Die ehemaligen Sowjetrepubliken begannen mit dem Aufbau demokratischer Staaten, auf dem Weg von der Plan- zur Marktwirtschaft. In Estland verließ die Fahnenträgerin und Sozialwissenschaftlerin Marju Lauristin die Hochschule und wurde als Politikerin aktiv.

    "Wir konnten jetzt eine eigene Gesellschaft aufbauen, aber niemand hatte eine Ahnung davon, was freie Marktwirtschaft eigentlich bedeutet. Wir hatten zwar ein Bild vom Leben in der freien Welt, weil wir seit 1958 finnisches Fernsehen empfangen konnten. Jeder Este hatte das Gefühl, wir könnten wie die Finnen leben, wenn es nicht das Jahr 1940 gegeben hätte, wenn uns nicht die Sowjetunion besetzt hätte. Also orientierten wir uns an Finnland und führten das Projekt 'tigerlip' ein. Die finnische Regierung hatte bereits 1988 entschieden, eine Informationsgesellschaft aufzubauen, wir machten es ihr nach. Das Logo unseres Programms war ein Tiger, der über den Computerbildschirm springt. Eine Aufforderung an die jungen Leute in Estland, mithilfe der Informationstechnologie internationales Niveau zu erreichen."

    Tatsächlich machte die junge Republik Estland mit ihren Fortschritten in der Informationstechnologie bald von sich reden. Von der papierlosen Kabinettssitzung via Internet, über Internetbanking zum "Parkgroschenzahlen" per Mobiltelefon: Für seine radikalen Reformen wurde Estland als erster baltischer Staat mit der Einladung in die Europäische Union belohnt. Seit fünf Jahren sind alle drei Länder Mitglieder der EU und der NATO. Wer sich allerdings im weltweiten Netz tummelt, der ist heutzutage auch angreifbar. Diese Erfahrung hat Estland im letzten Jahr machen müssen. Damals hatte die estnische Regierung unter lautstarkem Protest ihrer russischen Einwohner über Nacht ein sowjetisches Kriegerdenkmal, den sogenannten "Bronzesoldaten" verlegt. Als kurz darauf die estnische Botschaft in Moskau von Demonstranten blockiert wurde, erlebten estnische Banken und Ministerien in Tallinn zeitgleich Angriffe aus dem Netz und wurden für Tage lahmgelegt. Der estnische Außenminister Jaak Aarvikso meint sehr wohl zu wissen, wer für die Attacken aus dem Internet verantwortlich gewesen sei:

    "Unser Bronzesoldat war ein kleines Steinchen in dem Spiel. Es geht um das moderne Russland und um alte Machtansprüche, die Moskau an sein 'nahes Ausland' hat. An uns, die ehemaligen Sowjetrepubliken. Leider wird dieses imperiale Denken von einer breiten Öffentlichkeit in Russland unterstützt. Wie steht Russland zur EU, wie steht Russland zur NATO? Das ist eine komplizierte Angelegenheit in der Welt nach dem Kalten Krieg. Es ist wichtig, dass wir alle zusammen, Estland und die westlichen Länder eine gemeinsame Position ausarbeiten, um die Interessen der baltischen Länder, Osteuropas und Russlands auszubalancieren."

    Tatsächlich hat Russland wiederholt versucht, mit Propagandakampagnen und Wirtschaftssanktionen den Beitritt der baltischen Länder zur NATO und zur EU zu vereiteln. Anlass war vor allem Lettlands Umgang mit seiner russischen Minderheit. In Lettland ist wie in Estland jeder Dritte russischer Herkunft. Seit Lettlands Unabhängigkeit haben die Russen alle Privilegien eingebüßt, Lettisch wurde Staatssprache. Heute kann jeder Einwohner einen lettischen Pass erhalten, vorausgesetzt, dass er eine Prüfung in der lettischen Sprache besteht. Trotzdem besitzen bis heute die meisten Russen in Lettland keine lettische Staatsbürgerschaft, kein Wahlrecht. In den Wahlkämpfen der Vergangenheit spielten vor allem nationale Fragen eine Rolle, und Politikern russischer Herkunft begegnete man höchstens als Abgeordnete im lettischen Parlament. Seit dem 1. Juli hat sich das geändert: Mit dem 33-jährigen Nils Uzakovs zog ein Russe in das Rathaus von Riga ein. Nils Uzakovs:

    "Zum ersten Mal in der Geschichte Rigas wurde mit mir ein Russe zum Bürgermeister gewählt. Das war nur möglich, weil uns auch viele Letten ihre Stimme gegeben haben. Das ist neu in der lettischen Politik. Die Leute haben nicht nach der Nationalität entschieden, sie waren von unseren sozialdemokratischen Wertvorstellungen überzeugt. Die habe ich während meines Studiums in Dänemark kennengelernt. Deshalb werden die Sozialämter in Riga wieder auf Russisch informieren. Ich bin Teil einer neuen Generation, die unserer Hauptstadt ein neues Gesicht geben wird."

    Bis vor Kurzem boomte die Wirtschaft im gesamten Baltikum, doch die weltweite Finanzkrise hat besonders Lettland aus der Bahn geworfen. Ohne Milliardenkredit von der Europäischen Union und vom Internationalen Währungsfonds wäre der Staat längst bankrott, erklärte der lettische Ministerpräsident. Alle Gehälter im öffentlichen Dienst wurden um 20 Prozent gekürzt, Betriebe, sogar Schulen schließen, und Zehntausende werden Woche für Woche arbeitslos. Deshalb sei der Sieg von Nils Uzakovs und seinem "Harmoniezentrum" nicht unerwartet gekommen, meint die Soziologin Brigita Zepa. Der neue Bürgermeister sei nicht nur jung und intelligent, er spreche sogar gut Lettisch und sei in der Politik noch ein unbeschriebenes Blatt.

    "Die Letten haben Nils Uzakovs gewählt, weil die der alten Parteien überdrüssig waren, der konservativen und nationalen. Weil die sich ihrer Meinung nach nur selbst bereichert haben und verantwortlich für die Wirtschaftskrise sind. Aber Nils Uzakovs kennen wir noch nicht. Und er will sich um die Sorgen der kleinen Leute kümmern. Er war der Einzige, der im Wahlkampf über soziale Unterstützung gesprochen hat. Es ging nicht mehr um Letten oder Russen, sondern darum, dass das Leben aller sich verbessert."

    Dabei ging es den drei baltischen Ländern seit ihrem Beitritt zur Europäischen Union so gut wie nie zuvor. Auch Litauen wurde wie seine Nachbarn als "Tigerstaat" bewundert. Ein Wirtschaftswachstum von mehr als zehn Prozent hat die alten Länder der EU vor Neid erblassen lassen. Eine wichtige Rolle spielte dabei die kostengünstige Energie, die Litauen in seinem Kernkraftwerk Ignalina produziert. Diesen Reaktor hatte Moskau 1984 in der damaligen Sowjetrepublik in Betrieb genommen. Dem Physiker Zigmas Vaisvila war das sowjetische Kraftwerk immer ein Dorn im Auge, da es baugleich dem Unglücksreaktor in Tschernobyl ist. Zigmas Vaisvila war nicht nur aktiver Volksfrontkämpfer auf Litauens Weg in die Unabhängigkeit, sondern gründete auch den ersten Umweltverband in Litauen:

    "Im April 1986 hatten wir durch Tschernobyl eine Lektion erhalten. Und die stärksten Reaktoren des sowjetischen Typs standen gerade bei uns hier in Ignalina. Wir protestierten und verlangten das Atomkraftwerk zu schließen. Immerhin gelang uns noch im Sozialismus, den Bau des dritten Reaktors zu stoppen. Nach der Unabhängigkeit zwangen wir unsere Politiker Schritt für Schritt, auch die beiden bestehenden Reaktoren zu überholen und die Sicherheit zu erhöhen. Schweden hat uns geholfen, die Weltbank hat uns geholfen, wir haben es geschafft. Jetzt haben wir die Sicherheit verzehnfacht und ich sehe keine wirkliche technische Notwendigkeit, Ignalina abzustellen. Denn wir haben keine Alternative, wenn wir uns nicht wieder dem Einfluss Russlands aussetzen wollen. Ohne 'Ignalina' würden wir doch völlig abhängig von russischen Stromimporten sein."

    Seit Litauens Unabhängigkeit hat sich das Kernkraftwerk "Ignalina" als regelrechte "Goldgrube" erwiesen, da es mit seinen Überkapazitäten sogar einen Teil des Energiebedarfs Lettlands befriedigen kann. Trotzdem wird der Atommeiler Ende des Jahres abgeschaltet. Das war in Brüssel Voraussetzung für Litauens Aufnahme in die Europäische Union. Obwohl der dann auftretende Versorgungsengpass in allen drei baltischen Ländern hinlänglich bekannt gewesen ist, hat die litauische Regierung bis heute keine langfristige Lösung parat. Die Idee vom Bau eines neuen gemeinsamen baltischen Kernkraftwerkes liegt nach wie vor auf Eis. Zwanzig Jahre sind vergangen, seitdem Litauer, Letten und Esten Hand in Hand und singend begannen, für ihre staatliche Freiheit zu kämpfen. Alle drei Länder erleben jetzt ihren wirtschaftlichen Abschwung, haben mit Interessengruppen, Vorteilsnahme und Korruption zu tun. Die Vordenker von einst sind weiterhin aktiv und haben neue Ziele formuliert. In Litauen hat der Physiker Zigmas Vaisvila soeben eine neue Volksfrontgruppe gegründet, die sich für mehr Ethik in der Politik einsetzen will. Die geringe Beteiligung an der letzten Wahl habe gezeigt, dass die Leute das Vertrauen in die Politiker verloren hätten. Deshalb will Zigmas Vaisvila den Politikern Mut zu mehr Eigeninitiative machen und in öffentlichen Foren zugleich vor dem erstarkenden Russland warnen.

    "Wir sind heute an einem Scheideweg, wie vor zwanzig Jahren. Diesmal geht es um moralische Werte. Was ist wichtiger, eine pragmatische Politik oder eine Orientierung an überlieferten Werten? Da gibt es die litauische Firma Energios Realisatios Santras. Sie wurde von zwei Brüdern gegründet, beide sind Abgeordnete, einer ihrer Söhne sitzt im Aufsichtsrat. Diese Firma hat von unserer Regierung das Monopol für den Im- und Export von Strom erhalten und wird jetzt von einem Aktionär aus Russland kontrolliert. Darüber wurde öffentlich gesprochen, aber kein Abgeordneter, kein Minister hat protestiert. Niemand. Es hat im Sozialismus lange gedauert, bis wir uns gewehrt haben. Zugleich geben wir im Moment Russland alle Instrumente in die Hand, um uns wieder politisch zu beeinflussen."

    Für Lettland sitzt Sandra Kalniete heute im Europa Parlament. Nach dem Aufbau der lettischen Volksfront hat sie sich als Ministerin, Diplomatin und EU-Kommissarin für Lettland engagiert. Auch sie ermuntert ihre Mitbürger zu mehr Eigenverantwortung, um die junge lettische Demokratie mitzugestalten. Sandra Kalniete ist stolz auf den baltischen Weg der letzten 20 Jahre und will mithelfen, dass die gewonnene Freiheit nicht eingeschränkt wird.

    "Geopolitisch war Lettland nie zuvor in einer solchen Situation wie heute. Wir sind in der NATO und in der EU und nicht mehr von Russland abhängig. Daran darf sich auch nichts ändern. Wir wissen, was es bedeutet, unter dem Diktat Moskaus zu leben, das wollen wir unseren Partnern in der EU vermitteln. Darin sehe ich meine Aufgabe als Abgeordnete in Straßburg. Russland wird immer unser Nachbar sein, und wir wollen ein gutes Verhältnis. Aber wir werden uns nicht mehr diktieren lassen. Das versucht Russland gerne - mal mit den Vereinigten Staaten, mal mit Deutschland oder mit uns. Aber wir erwarten Respekt."

    Die Estin Marju Lauristin war nach mehreren Jahren als Abgeordnete und Sozialministerin wieder an die Hochschule zurückgekehrt und ist mittlerweile im Ruhestand. Im Auftrag der Regierung erforscht sie, welche Bereiche Estland für seine weitere Entwicklung ausbauen sollte. Der rasche Einstieg in die Informationstechnologie von damals habe sich bewährt, betont Marju Lauristin. Aber im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs hätten sich die Prioritäten bei den Esten völlig verschoben und Geld, Kredite oder teure Immobilien seien in den Vordergrund gerückt. Zwar habe Estland in den Wachstumsjahren mehr gespart, als seine Nachbarn und stehe im Angesicht der Finanzkrise noch nicht vor dem Staatsbankrott. Trotzdem plädiert Marju Lauristin für eine Rückbesinnung auf geistige Werte.

    "Estland ist klein, wir können niemals viele Waffen kaufen, um uns gegen alle Angriffe zu verteidigen, aber wir können unsere Gehirne einsetzen. Wir müssen in Zukunft wieder mehr auf Technologien und Wissen setzen, als auf Geld. Diese Krise ist genau der richtige Zeitpunkt zur fundamentalen Richtungsänderung. Wir müssen von einer Entwicklung, die auf Rohstoffen und Geld basiert, übergehen zu einer Entwicklung, die Intelligenz und Kreativität zur Grundlage hat."