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Der besondere Fall
Angst ohne Grund

Viele Menschen leiden unter Herzrasen und Kreislaufproblemen. Häufig werden psychische Probleme und Stress für die Symptome verantwortlich gemacht. Was passiert, wenn bei einer Diagnose körperliche Ursachen nicht in Erwägung gezogen werden, zeigt der Fall einer Patientin in Essen.

Von Thomas Liesen |
Eine sitzende Frau hält sich die Hände vor den Kopf - Stress!
Bei Herzrasen und roten Flecken wird oft Stress diagnostiziert (picture alliance / ZB - Patrick Pleul)
(Wiederholung vom 02.02.2016)
Petra B. kommt eines abends von der Arbeit nach Hause. Der Tag war wie immer ausgefüllt, sie hat Schwieriges erlebt, auch Schönes - sie arbeitet mit geistig behinderten Menschen. Als sie später zu Bett gehen will, schaut sie in den Spiegel und ist überrascht.
"Da habe ich großflächige Flecken am Körper bekommen, rote Flecken. Man kennt das ja, wenn man nervöse Flecken bekommt."
Die 46-Jährige bleibt erst mal gelassen, auch wenn sie so was noch nie erlebt hat. Und tatsächlich: Am nächsten Morgen ist alles fast wieder verschwunden. Doch nur wenige Tage später geschieht wieder etwas Merkwürdiges.
"Dann habe ich gemerkt, dass ich blass wurde, gleichzeitig fing mein Herz an zu rasen und da habe ich erst gedacht, da gehe ich jetzt mal zum Arzt. Bei dem Arztbesuch wurde mir dann gesagt, dass das wahrscheinlich stressbedingt und der Arzt händigte mir dann die "bill of rights" aus, irgendwie hat eine Amerikanerin sich das ausgedacht: Man muss lernen, nein zu sagen."
Vorschnelle Diagnose: Stress
Petra B. versucht es fast, mit Humor zu nehmen. Denn sie hat gar keinen Stress, zumindest ist ihr das nicht bewusst. Dennoch nimmt sie sich vor, ein bisschen mehr auf sich zu achten. Doch das anfallartige Herzrasen bleibt. Sie geht nach einigen Wochen wieder zum Arzt, der stellt erneut fest: Es muss alles psychisch bedingt sein. Und angesichts von roten Flecken und Herzklopfen sei das zunächst auch naheliegend, sagt Dr. Nicole Unger von der Uniklinik Essen. Sie wird sich Jahre später der Patientin annehmen.
"Das ist ja durchaus ein völlig unspezifisches Symptom, beide Symptome sind unspezifisch, da kann man an alles oder nichts denken, völlig in Ordnung."
Auch Petra B. zweifelt die Diagnose nicht grundsätzlich an – auch wenn sie diese mit dem Bild, das sie von sich selbst hat, nur schwer in Einklang bringen kann. Schließlich bekommt sie von ihrem Arzt eine Psychotherapie empfohlen.
"Ich habe das dann erstmal nicht gemacht, ich habe dann versucht umzusetzen, was mir gesagt wurde: Nein zu sagen, einen Standpunkt zu haben, obwohl, ich habe mich auch immer gefragt: Ich stehe doch eigentlich. Dann fing das Erbrechen an. Ich habe also fast jeden Tag erbrochen und dann habe ich natürlich irgendwann gedacht, so geht es nicht weiter, jetzt gehst du mal zu einem anderen Arzt."
Kreislaufchaos und Herzrasen nehmen zu
Zunächst zum Kardiologen. Der findet nichts. Dann zum Neurologen. Der tippt wieder auf die Psyche. Sie habe eine Angststörung, ihre Anfälle seien Panikattacken, so seine Diagnose. Er verschreibt ihr Psychopharmaka. Sie bleiben aber vollkommen ohne Wirkung. Die 46-Jährige bekommt weiter ihr Herzrasen, ihr Kreislaufchaos. Mittlerweile auch regelmäßig bei der Arbeit.
"Ich habe also erbrochen bei Klienten, auf der Straße."
Vier- oder fünfmal am Tag. Drei Jahre nach den ersten Symptomen geht sie schließlich freiwillig in eine psychiatrische Klinik, sechs Wochen lang. Das Ergebnis: Neue Pillen gegen ihre angebliche innere Angst. An die Klinik schließen sich 65 Stunden Einzeltherapie bei einem Psychiater an, alles ohne Erfolg. Und niemand zieht eine mögliche körperliche Ursache für dieses Martyrium in Erwägung. Dabei wäre es zu diesem Zeitpunkt durchaus möglich gewesen, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Nicole Unger von der Uniklinik Essen:
"Die Kombination aus diesen drei, vier Symptomen, die ist eben hoch spezifisch für die Erkrankung, die Frau B. nun tatsächlich hatte."
Petra B. überlegt derweil, ihre Arbeit, die sie eigentlich sehr liebt, aufzugeben. Denn sie kann nicht mehr. Zu allem Überfluss bekommt sie ein Überbein am Handgelenk. Ein Geschwulst, zwar gutartig, aber es muss operiert werden.
"Ja und dann bin ich ins Krankenhaus gegangen an einem Morgen und habe da mein kleines Täschchen gepackt, weil ich ja wusste, ich gehe ja mittags wieder nach Hause."
Sie sagt pflichtschuldig dem Anästhesisten, sie leide an einer Angststörung mit Panikattacken. Der beruhigt sie. Sie bekomme eine Vollnarkose und die schalte jedes Bewusstsein aus, daher seien ihre Attacken während der OP ausgeschlossen.
Geplante OP wird zur Lebensgefahr
Um 9 Uhr wird Petra B. in den OP gefahren. Die Ärzte setzen den Schnitt am Handgelenk. Doch dann geschieht das eigentlich Unmögliche. Ihr Puls schnellt in die Höhe, innerhalb von Sekunden auf 160. Der Blutdruck erreicht 260, 270. Ihr Atem droht sogar auszusetzen.
"Und bin dann um 14.30 Uhr wieder aufgewacht und lag auf der Intensivstation."
Ärzte stehen um ihr Bett herum. Petra B. weiß zunächst weder, wo sie ist, noch, warum sie alle so irritiert schauen.
"Die gingen immer wieder raus und sagten: Das ist uns ein Rätsel."
Schließlich macht eine Ärztin noch eine Ultraschalluntersuchung der Nieren.
"Und dann kamen die Ärzte zu mir ins Zimmer und haben mir tatsächlich gesagt, dass sie was entdeckt hätten bei mir, an der Nebennierenrinde, haben mir das auch noch ein bisschen erklärt und das war ein Augenblick, den werde ich in meinem Leben nie vergessen."
Ein Tumor an der Nebennierenrinde, also genau dort, wo im Körper Adrenalin produziert wird. Die Ursache ist offenbar gefunden.
Über mehrere Jahre von Adrenalin überschwemmt
"Das ist natürlich nach einer so langen Zeit, wo man in seiner Psyche wühlt – kann man kaum beschreiben. Wie eine Offenbarung. Das habe ich denen auch gesagt: Das ist jetzt für mich wie eine Offenbarung. Sie können sich nicht vorstellen, was das bedeutet.
Nicole Unger: "Dann ist sie endlich nach Jahren zu uns gekommen sozusagen."
Nicole Unger, Endokrinologin von der Uniklinik Essen. Die Ärztin veranlasst eine Untersuchung der Hormonspiegel im Körper. Das Ergebnis: Petra B. wird mit Adrenalin überschwemmt.
"Was wir alle kennen, wenn vor uns ein Auto bremst und wir auf die Bremse steigen müssen und denken uhps! Da wird einem ganz heiß. Und das hatte Frau B. offensichtlich permanent seit einigen Jahren."
Genauer gesagt: sechs Jahre lang. Die nun notwendige Entfernung des gutartigen Tumors dauert dagegen nur eine halbe Stunde.
"Und seit diesem Zeitpunkt habe ich keine Kreislaufattacken mehr. Es war sofort vorbei."
Einige Wochen ist die OP nun her. Sie muss noch regelmäßig zur Kontrolle in die Klinik. Aber ansonsten geht es ihr blendend.
"Nach so vielen Jahren mit diesen Stresshormonen, da muss man das jetzt auch einfach mal genießen, wenn man einfach sitzt und man hat es nicht mehr. Ich war ja immer so angespannt. Es ist vorbei."