"Die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf."
Geboren zu Anfang des Krieges in Nordwestdeutschland, Vechta, im südlichen Oldenburg, einer Kleinstadt von 15.000 Einwohnern, ein Schweinelandstrich, leeres Moor, hellbraunen Torf stechen, Mücken und Wacholder. Viel krüppliges Grünzeug. Katholisch verseucht. Darin aller Schrecken einer wahnhaften Erziehungssucht gewesen ist, bis in die lächerlichen altphilologischen, viehlologischen Riten einer sogenannten höheren Bildungsanstalt. Anstalt – bereits diese Bezeichnung disqualifizierte die Ausbildung. Der Schrecken, jeden Montagmorgen in die Schule zu gehen, war allgemein. Die Lehrer haben gestunken, und sie haben stinkend den offiziellen Lehrstoff in die Körper der Schüler hineingejaucht.
Rolf Dieter Brinkmann wird am 16. April 1940 in Vechta geboren. Die Welt, zusammengeschrumpft auf ein oldenburgisches Nest, ist ihm von Anfang an ein feindseliger Ort. Es gilt, diesen mit größter Hingabe und zugleich Brutalität zu beschreiben. Seine Mutter stirbt elend an Krebs, da ist Rolf Dieter Brinkmann 17 – eine Urszene, eine Urangst, die sich durch sein gesamtes Schreiben zieht. Von den Monaten des Körperzerfalls der Mutter erzählt er, später.
In Oldenburg soll Brinkmann auf dem Finanzamt ausgebildet werden, aber es dauert nicht lange, und er flieht die Aussicht auf ein lebenslanges Angestelltendasein. In Essen absolviert er eine Buchhändlerlehre: Brinkmann verschlingt alle Bücher, zu denen er Zugang hat. In dieser Zeit, Anfang der 60er Jahre, lernt er Ralf-Rainer Rygulla kennen. Auch er ist Lehrling in dieser Buchhandlung. Man wohnt im selben Wohnheim, hat den selben Weg zur Ausbildungsstätte. Und teilt die Leidenschaft für die Literatur.
"Aber es war in jedem Fall Brinkmann schon ein großer Außenseiter da. Er hat damals schon – er muss also 19, 20 gewesen sein – mit einer unglaublichen Intensität geschrieben. Das war eigentlich sein Ding. Und er musste aus dem gemeinsamen Schlafzimmer – das waren immer Zimmer, die zwei oder drei Betten hatten -, ist er nachts oder spätabends, hat er sich Ecken gesucht in Gemeinschaftsräumen, die nicht mehr benutzt wurden und hat dort geschrieben, essayistische Sachen, aber auch Gedichte, von Anfang an Gedichte."
Die Gedichte und Geschichten klingen in diesen frühen Jahren nach seinen Vorbildern: nach Gottfried Benn vor allem, nach der phänomenologischen Wahrnehmungsästhetik des Nouveau Roman. Die Lektüreerfahrungen sind vielfältig, aber fasziniert ist Brinkmann von Louis Ferdinand Céline und Hans Henny Jahnn, mit dem er auch Kontakt aufnimmt. Als Soundtrack dieser Dichterwerdung läuft Jazz-Musik, Gerry Mulligan oder Thelonious Monk. Und das Kino liefert nicht nur die Bilder dazu und einen Fluchtraum, sondern erzieht Brinkmann auch ästhetisch: Das Kino untermauert eine Idee des neuen Sehens und Wahrnehmens in Brüchen und Schnitten; von den Techniken des Films lernt er nach und nach, einen Film in Worten zu erzeugen.
"Ich kann mich erinnern an diesen riesigen Essener Filmclub, in dem wir beide Mitglieder waren und in den wir oft gleich nach dem Ladenschluss sozusagen hingingen, weil um 19 Uhr begannen diese Filme, oft auch nur mit einem Stückchen trockenes Brot. Das klingt zwar dramatisch-romantisch, aber es war zum Teil so, dass wir in großer Armut gelebt haben damals auch. Und oft gar nicht so richtig gegessen haben, und ich kann mich immer wieder erinnern, dass wir so schnell wie’s ging aus dieser Buchhandlung, die eine katholische war, die Kurve gekratzt haben, um uns eben etwas anzusehen oder anzuhören."
Die Zeit in Essen, dann an der Pädagogischen Hochschule in Köln, sind Lehrjahre des Dichters. Seine Frau Maleen Brinkmann erinnerte sich 1985 an diese Zeit.
"Er hat natürlich in den frühen 60er Jahren oder überhaupt in den 60er Jahren die Haltung entwickelt, dass er gegen die wissenschaftliche Art des Schreibens vorgehen muss, um das auszudrücken, was er wollte. Das heißt eine sinnliche Wahrnehmung der Außenwelt, die er dann auch sehr viel besser auseinanderlegen konnte. Er hat ganz bewusst verlangsamt angefangen, Anfang der 70er, Situationen zu zerlegen. Das hat an sich angefangen durch sein Fotografieren. Das Filmsehen ist für ihn eine wichtige Art des sich Äußerns, überhaupt des Wahrnehmens gewesen, weil es ihm ein langsames Tasten entlang der Umwelt oder der einzelnen Dinge war."
Noch bevor er seine erste Zeile veröffentlicht, ist sich Brinkmann seiner Autorenrolle bewusst.
"Er stellte sich nie einfach nur als jemand dar, als Rolf oder Rolf Dieter, wie er sich genannt hat, es war die Position eines, der schreibt, der nur mit Schreiben leben kann. Das war sofort, nach der kürzesten Zeit des Bekanntseins, war das sofort der wichtigste Punkt überhaupt bei ihm."
Man trifft sich, hört Musik, trinkt Wein. Brinkmann liest Texte vor, fremde und eigene. Es ist eine Unbedingtheit und Bestimmtheit, die ihn auszeichnet.
"Ständige Diskussion, ständiges Werten, Hochhalten, Verwerfen, bis hin zu so Ritualen, dass man Bücher zerriss und zerstörte, weil man sie als unerträglich empfand."
"Die Toten bewundern die Toten" – so charakterisiert Brinkmann einmal den bundesdeutschen Literaturbetrieb. Seine Emphase ist der Versuch, herauszutreten aus langen Schatten, aus einer Schattenwelt, Abstand zu nehmen vom "Hörighaltungs- und Abrichtungscharakter" eines Kulturbetriebs, der bereits alles vorformuliert und geprägt hat.
"In meiner Erinnerung hatte er eine schon auch zum Teil eine Aura der Besessenheit. Das war etwas Absolutes. Die Literatur, das Schreiben, das Leben, das Leben und Schreiben, was eine Einheit war, war so absolut, dass man sich dem gar nicht entziehen konnten."
"Immer wieder Schnitte, Schnitte, Schnitte, immer wieder Schnitte, Schnitte, Schnitte, Schnitte. Schnitt. Und noch ein Schnitt."
Zu Anfang der 60er veröffentlicht Brinkmann eine größere Erzählung, "In der Grube". Es folgt der erste, noch mit traditionellen Bildern aufgeladene Gedichtband "Ihr nennt es Sprache". Schon kurz darauf aber verändert sich die Form der Wirklichkeitswahrnehmung: Das Augenblickshafte wird als sinnliches Moment poetisiert, die Oberflächenreize führen bereits zu Snap-Shotartigen Gedichten, die den Gestus eines William Carlos Williams ins Deutsche zu übertragen versuchen. Der fotografische Blick fokussiert ein Detail des Alltags, stellt es heraus. Mitte der 60er Jahre kommt es dann für Brinkmann zu einer richtungsweisenden Begegnung mit Autoren, die allen hochkulturellen Ballast über Bord werfen und sich selber im Underground verorteten. Ralf-Rainer Rygulla, der damals in London lebt, versorgt Brinkmann mit neuen Texten vor allem aus den USA: Prosa und Lyrik von William Burroughs, Frank O’Hara oder Michael McClure.
"Im Sommer 1966 kam ich zurück und mit zentnerweise diesem Zeugs, diesen Little Mags und diesen hektographierten Zeitschriften und diesen Büchern, die aus Verlagen kamen, die sonst überhaupt ... die nicht zu dem Literaturbetrieb gehörten. Und da kam ich irgendwie... ich weiß nicht, ein Zentner wird’s gewesen sein, und Brinkmann stürzte sich darauf, war sehr interessiert, und lernte auch ganz nebenbei die Sprache englisch mit der Beschäftigung dieser kleinen Heftchen und Bücher und diesem neuen Ton, der da war. Der wirklich da war, der sich so sehr unterschied von diesem akademischen Literaturgerede, das es bis dahin in Deutschland eigentlich ausschließlich gab."
""Cross the border, close the gap" – Brinkmann schreibt sich Leslie A. Fiedlers Diktum auf die Fahnen. Er reagiert in seiner Lyrik und in spielerischen Essays auf "veränderte Dimensionen des Bewusstseins", wird zum "Kosmonauten des Innenraums", wie William S. Burroughs einmal geschrieben hat. Das Gedicht, so Brinkmann, sei die geeignetste Form, spontan erfasste Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten. Es ist eine Bilderflut. Es gibt keine Gegenstände mehr, die nicht literaturfähig wären. "Beobachten, auseinandernehmen, neu zusammensetzen" – so beschreibt Brinkmann seine Arbeit und seine Lust am Text."
Die Blitzlichtaufnahmen der Gegenwart erhellen dunkle Flecken des Jetzt. Diese Gedichte stellen Provokationen dar, denn sie sind nicht auf die Ewigkeit gerichtet, sondern zielen auf den Moment – eine Apotheose des Augenblicks: "Sie sind zunächst einfach nur da", schreibt er. Und sie definieren neu, was in Augenschein genommen werden darf: Spülklosetts und Waschmaschinen, Hollywoodstars, Comics und Pornografie tauchen plötzlich in Gedichten auf.
Der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher, der in seiner Studie "Gerade eben jetzt" auch die Schreibweise Rolf Dieter Brinkmanns untersucht, erläutert dessen begeisterte Annäherung an die Gegenwart.
"Es gibt rückblickende Äußerungen von Brinkmann, wo er im Blick auf seine eigenen Gedichte sagt: Wofür sind eigentlich die Gedichte da: Für mehr Gegenwart. Vielleicht wäre das so eine Kurzzusammenfassung dessen, was Brinkmann machen möchte mit seinen Gedichten: Gegenwart einfangen, Gegenwart aber auch herstellen."
Fliegen, Schweben und Entgrenzung des Bewusstseins – so die Parole. "Piloten" und "Gras" heißen die Gedichtbände jener Zeit.
"Underground bedeutet zunächst einmal ein allgemeines Verhalten, ein persönliches Verhalten, das sich abgesetzt hat von dem Verhalten der älteren Generation, die eben nur noch permanent sich selbst repräsentieren kann, ein Establishment repräsentieren kann, Und man hat sich davon abgesetzt und geht seine eigenen Wege."
Brinkmann arbeitet auch an einem Roman. "Keiner weiß mehr" erscheint 1968 und gewährt einen geradezu obszön offenen Blick aufs eigene Ich, eine akribische, besessene Bestandsaufnahme eines falschen Lebens im falschen. Ein Buch, dessen Schonungslosigkeit, transportiert über eine rigoros schamlose Sprache, auch seine Frau Maleen und die Freunde einbezieht. Das eigene Leben als Material.
"Tatsache war, dass dieses Manuskript als ich zurück kam fast fertig war, "Keiner weiß mehr", 1966, und dass wir aber beim Lesen dieser amerikanischen und englischen Texte ja nun nicht umhin konnten festzustellen, dass dort mit den Four-Letter-Words richtig ganz groß umgegangen wurde. Das ist eine Spezialität des amerikanischen Puritanismus, und das war eine ganz wichtige Revolte da, das war in Deutschland nicht ganz so wichtig, aber offensichtlich eben doch. Es wurde ja auch gleich bemerkt. Zum ersten Mal gab es diese Überschrift einer Reich-Ranicki-Rezension: "Außerordentlich obszön" oder "Außerordentlich und obszön". Das war eigentlich das Neue. Und das ist hineingeflossen nach der Lektüre dieser Dinge, die ich aus London mitgebracht habe und die dann auch parallel auch ankamen, weil ich mit meinen Anthologien so beschäftigt war. Es ist regelrecht umgeschrieben worden, der Roman, um bestimmte Dinge, die vielleicht versteckt oder angedeutet waren, auszusprechen."
In einer radikalen, surrealistischen Geste legt es Brinkmann bei einer Podiumsdiskussion mit Harald Hartung und Marcel Reich-Ranicki Ende der 60er in Berlin auf Konfrontation mit dem etablierten Literaturbetrieb an: "Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre", ruft er den Kritikern zu, "würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen." Brinkmann will deutlich machen, dass es um mehr geht als um Literatur, dass aber genau dieses Mehr für ihn Literatur bedeutet.
"Er hat auch mit Lust sich Feinde gemacht, das war ihm auch ganz wichtig, dieses berühmte Ding mit dem Gewehr, "wenn mein Buch ein Maschinengewehr wäre" das ist sicherlich eine Attitüde, die nicht spontan war, die war einfach ihm selbstverständlich, und die hat er auch, gegenüber Freunden und Bekannten gab es die auch. [Man muss sagen: In dem selben Maße, in dem er aber auch ganz sich geöffnet hat für Einflüsse, auch für Unmittelbarste, von Leuten, die um ihn gerade herum waren, in dem selben Maß, wie er sich geöffnet hat und alles auch benutzt hat, jetzt nicht im Eigensinn benutzt hat, sondern gleich genauso wichtig fand wie seine eigene Meinung und seine Meinung über eine Sache, genauso war er in der Lage, eine andere Meinung zu akzeptieren, wenn sie denn einen individuellen und neuen und überraschenden Aspekt hatte. Das war seine ewige Suche nach diesen neuen überraschenden Aspekten."
Brinkmann braucht die Spannung, den Widerspruch, die Aggressivität, um ein Erregungslevel zu erreichen, auf dem sich etwas fühlen und schreiben lässt. Freunde macht man sich so tatsächlich nicht.
"Alles kontrolliert. Jeder kontrolliert jeden. Das ist doch nur noch Schwachsinn. Was wollt ihr denn alle. Ist doch alles schon da. Ihr blöden Narren. Ihr kleinen Wichtelmännchen. Ihr alten Polizisten. Warum seid ihr denn alle Polizisten?"
In den späten 60er Jahren übersetzen Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla aus dem Englischen, zusammen bringen sie unter anderem die wegweisende Anthologie "Acid – Neue amerikanische Szene" heraus. Der Aufbruchsgeist, die Euphorie, die gesellschaftlich in der Studentenbewegung verankert ist, hält nur eine Weile an. Für Brinkmann, der mit Frau und Sohn in Köln lebt, endet der Traum der Revolte in einer Depression, einer sowohl persönlichen, ästhetischen als auch finanziellen Krise.
"Sieben Gedichtbände, zwei Erzählungsbände, einen Roman, zwei Übersetzungen aus dem Amerikanischen, zwei Anthologien, drei Hörspiele. Das macht 17 größere Arbeiten in acht Jahren. Und davon kann ich nicht leben."
1970/1971. Brinkmann zieht sich zurück. Nach und nach vergrault er die verbliebenen Freunde, die ihm inkonsequent und verräterisch vorkommen. Rygulla etwa wechselt die Seiten, wird Lektor in Jörg Schröders März Verlag. Der Kontakt bricht fast vollständig ab. Brinkmann veröffentlicht Hörspiele, aber zu Lebzeiten keinen Gedichtband mehr, keinen Roman. Der Literaturbetrieb erscheint ihm noch verachtenswerter; die Attacken werden schärfer.
"Immer wieder Schnitte, Schnitte, Schnitte, immer wieder Schnitte, Schnitte, Schnitte, Schnitte. Schnitt. Und noch ein Schnitt."
"Ich denke, es gibt auch einen ästhetischen Bruch. Diese Leichtigkeit, die propagiert wurde in der Popphase, 66 oder 67 bis 70, die ist ja, die hat ja, da ist ja ein extremer Gegensatz da zu seinen Arbeiten, die dann entstanden sind nach so einer Riesenkrise. Und erst wieder in Rom hat er wieder begonnen, Prosa zu schreiben, aus Briefen, ... Prosaentwürfe zu skizzieren, die dann auch erst im Nachhinein, ja erst später als Nachlass erschienen sind."
In Rom entstehen Notizen und Vorstufen zu einem Roman: Collagenhafte Texte, mit Bildern und Briefen durchsetzt, hasserfüllte Aufzeichnungen, Abrechnungen, Raum- und Alltagserkundungen, die Brinkmanns Gefühl widerspiegeln, von Dreck, Sprachmüll, Phrasendrehern und Muff umgeben zu sein. Diese gewaltigen Texttopografien erscheinen erst posthum unter dem Titel "Rom, Blicke". Andere Materialienbände folgen. Brinkmann wendet sich mit Abscheu gegen die ehemaligen Freunde, gegen die Gegenkultur. Und zieht natürlich gleichfalls Hass auf sich. Der Autor Hermann Peter Piwitt verspottet ihn als "D'Annunzio aus Vechta/Oldenburg", ihm werden unbändiger Narzissmus und ein faschistisches Menschenbild vorgeworfen. Er blockt ab. Betrachtet seine Umwelt mit Argwohn und Verachtung.
"Köln ist die schmierigste Stadt, die ich kenne. Die schmierigste, versauteste, dreckigste, blödeste, verschissenste, verpinkelste, stinkendste Stadt. Ich geh am Friesenplatz entlang, muffig, grau, öde, verwaltet. Sie machen alles plan, sie rotten überall alles aus. Die Mehrzahl rottet alles aus. Überall diese Popmuffsänger. Die sollte man bald auch mal so von der Bühne treten. Dem Mick Jagger einen Tritt in den Arsch, während er singt so dort vorne. O ich friere, mir ist kalt. Ach, ich träume von ganz anderen Landschaften, während ich hier durchgehe."
Von einem "Wörtersüden" träumt Brinkmann, von Gedichten, die so einfach sind wie Songs, die eine Tür aufmachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus. Die Gedichte, die er Anfang der 70er Jahre verfasst, sind allerdings alles andere als voraussetzungslose Rocksongs, wie der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher ausführt.
"Vielleicht ist die größte ästhetische Herausforderung bei Brinkmann die, nicht allzu ernst zu nehmen, dass er ständig betont, dass es nicht um ästhetische Qualitäten geht. Das heißt, die ganze Emphase für Einfachheit, für Banalität, für Verabschiedung aller Kritierien und Verfahren und Motive, die man aus der klassischen Moderne kennt, all das zwar wahrzunehmen, aber sich anzusehen, dass er eigentlich in seinen Gedichten, vielleicht sogar vor allem in den Gedichten, jemand ist, der offensichtlich durchaus sich selbst in eine Tradition stellt, die nicht nur auf amerikanische Beatliteratur, Kerouac usw. zurückgreift, sondern auch relativ nahtlos anschließbar ist an Surrealismus auf der einen Seite, aber auch zum Beispiel Autoren wie Gottfried Benn, der für ihn ja sehr viel wichtiger ist als so wahrgenommen wird. Wenn es wirklich um so etwas geht wie ästhetische Qualitäten, würde ich fast sagen, ist Brinkmann weitaus traditioneller als es die Selbstwahrnehmung haben möchte und aber auch die Brinkmann-Geschichtsschreibung."
Es entstehen lange, flächenhafte Texte, eindrucksvolle Gedichtlandschaften, die unter negativen Vorzeichen fortsetzen, was Brinkmann in den 60er Jahren begonnen hat. "Rolltreppen im August" ist eines davon, veröffentlicht posthum in dem Band "Westwärts 1 & 2" und hier vorgetragen auf einem Poetenfestival in Cambridge 1975, wenige Tage vor Brinkmanns Tod.
"Die Panik der vielen einzelnen Personen, die nicht richtig
gefickt haben, nie geliebt worden sind, nicht irgendetwas
liebten, umarmt haben, immer haben sie die Mantelkragen
hochgeschlagen, ihre Kleider zugehalten, die Knie
aneinander gedrückt, in einem Gespräch. Die Panik
der Abteilungsleiter, die zwischen den Ständen gehen,
die Krawatten festgezogen, der Anzug nicht verbeult,
die schwarzen Sonderangebotsschuhe glänzen, die Socken
sind verschwitzt, Mundspray in den Pausen gegen den
schlechten Atem, Gestalten in gläsernen Kabinen, die
von den Ferien in Österreich mit Vollpension träumen,
über Wiesen gehen, stehenbleiben, nicht sehen, was sie sehen."
"Offensichtlich brauchte er immer wieder einen Absprung, der ohne doppelten Boden stattgefunden hat. Denn nach 70/71 war es ja auch so, dass er sehr viele extreme Experimente mit sich selbst durchgeführt hat, so wie Schlafentzug und Essensentzug, um zu sehen, wohin das führt, was er... welche Erfahrungen er machen kann. Er hat auch versucht, sehr extrem mit sich selbst umzugehen, auch mit seiner Umwelt, er war, er hat dann ja auch jede Beziehung abgebrochen oder so hinterfragt, dass man nur noch vor ihm Angst haben musste, und viele haben ja vor ihm Angst gehabt, weil er zum Beispiel Small Talk nicht akzeptiert hat, weil er Höflichkeitsfloskeln verurteilt hat, das war zum Teil eben auch ein Experiment mit sich selbst und seiner Umwelt zwangsläufig."
"Panik auf den Konten, die verwüstet sind, Panik am
Straßenrand, in der Abflußrinne, Panik zerlaufene Uhren,
Panikbäume, Panikgrundstücke, Panikmieten, die Panik in den
vertrockneten städtischen Anlagen und Kinderspielplätzen.
Panik beim Zeitungskauf, Panik der Buden an den Straßenecken, Panik
beim Sitzen draußen im Sonnenlicht und auf dem Asphalt ein graues
zerlaufenes Eis, Paink beim Umdrehen auf der Straße, und die
Straße ist leer: Panik wegen des Durcheinanders im Kopf, Panik
auf der Schreibmaschine, Panik in den Architekturbüros, Panik in
den Fahrstühlen, Panik der Felle, Panik der Zigarettenraucher,
Panik der Türken..."
"Jetzt bin ich aus den Träumen raus, die über eine / Kreuzung wehn. (...) was krieg ich jetzt, / einen Tag älter, tiefer und tot? / Wer hat gesagt, dass so was Leben / ist? Ich gehe in ein / anderes Blau."
Diese Zeilen stehen ebenfalls in "Westwärts 1 & 2". Das "andere Blau", die Farbe mit dem höchsten Wallungswert, wie Gottfried Benn einmal gesagt hat, ist nicht mehr das Comic-Blau eines Roy Lichtenstein. Es spielt schon ins Schwarz, ins Düstere. Die Veröffentlichung dieser Gedichte, die einen Neuanfang markieren sollen, erlebt Brinkmann nicht mehr. Am 23. April 1975, gerade 35 Jahre alt, wird er beim Überqueren einer Straße in London von einem Auto überfahren. Er stirbt noch an der Unfallstelle.
"...die Plakate, Bauzäune und Verbote machen weiter, die Fahrstühle machen weiter, die Häuserwände machen weiter, die Innenstadt macht weiter, die Vorstädte machen weiter."
Geboren zu Anfang des Krieges in Nordwestdeutschland, Vechta, im südlichen Oldenburg, einer Kleinstadt von 15.000 Einwohnern, ein Schweinelandstrich, leeres Moor, hellbraunen Torf stechen, Mücken und Wacholder. Viel krüppliges Grünzeug. Katholisch verseucht. Darin aller Schrecken einer wahnhaften Erziehungssucht gewesen ist, bis in die lächerlichen altphilologischen, viehlologischen Riten einer sogenannten höheren Bildungsanstalt. Anstalt – bereits diese Bezeichnung disqualifizierte die Ausbildung. Der Schrecken, jeden Montagmorgen in die Schule zu gehen, war allgemein. Die Lehrer haben gestunken, und sie haben stinkend den offiziellen Lehrstoff in die Körper der Schüler hineingejaucht.
Rolf Dieter Brinkmann wird am 16. April 1940 in Vechta geboren. Die Welt, zusammengeschrumpft auf ein oldenburgisches Nest, ist ihm von Anfang an ein feindseliger Ort. Es gilt, diesen mit größter Hingabe und zugleich Brutalität zu beschreiben. Seine Mutter stirbt elend an Krebs, da ist Rolf Dieter Brinkmann 17 – eine Urszene, eine Urangst, die sich durch sein gesamtes Schreiben zieht. Von den Monaten des Körperzerfalls der Mutter erzählt er, später.
In Oldenburg soll Brinkmann auf dem Finanzamt ausgebildet werden, aber es dauert nicht lange, und er flieht die Aussicht auf ein lebenslanges Angestelltendasein. In Essen absolviert er eine Buchhändlerlehre: Brinkmann verschlingt alle Bücher, zu denen er Zugang hat. In dieser Zeit, Anfang der 60er Jahre, lernt er Ralf-Rainer Rygulla kennen. Auch er ist Lehrling in dieser Buchhandlung. Man wohnt im selben Wohnheim, hat den selben Weg zur Ausbildungsstätte. Und teilt die Leidenschaft für die Literatur.
"Aber es war in jedem Fall Brinkmann schon ein großer Außenseiter da. Er hat damals schon – er muss also 19, 20 gewesen sein – mit einer unglaublichen Intensität geschrieben. Das war eigentlich sein Ding. Und er musste aus dem gemeinsamen Schlafzimmer – das waren immer Zimmer, die zwei oder drei Betten hatten -, ist er nachts oder spätabends, hat er sich Ecken gesucht in Gemeinschaftsräumen, die nicht mehr benutzt wurden und hat dort geschrieben, essayistische Sachen, aber auch Gedichte, von Anfang an Gedichte."
Die Gedichte und Geschichten klingen in diesen frühen Jahren nach seinen Vorbildern: nach Gottfried Benn vor allem, nach der phänomenologischen Wahrnehmungsästhetik des Nouveau Roman. Die Lektüreerfahrungen sind vielfältig, aber fasziniert ist Brinkmann von Louis Ferdinand Céline und Hans Henny Jahnn, mit dem er auch Kontakt aufnimmt. Als Soundtrack dieser Dichterwerdung läuft Jazz-Musik, Gerry Mulligan oder Thelonious Monk. Und das Kino liefert nicht nur die Bilder dazu und einen Fluchtraum, sondern erzieht Brinkmann auch ästhetisch: Das Kino untermauert eine Idee des neuen Sehens und Wahrnehmens in Brüchen und Schnitten; von den Techniken des Films lernt er nach und nach, einen Film in Worten zu erzeugen.
"Ich kann mich erinnern an diesen riesigen Essener Filmclub, in dem wir beide Mitglieder waren und in den wir oft gleich nach dem Ladenschluss sozusagen hingingen, weil um 19 Uhr begannen diese Filme, oft auch nur mit einem Stückchen trockenes Brot. Das klingt zwar dramatisch-romantisch, aber es war zum Teil so, dass wir in großer Armut gelebt haben damals auch. Und oft gar nicht so richtig gegessen haben, und ich kann mich immer wieder erinnern, dass wir so schnell wie’s ging aus dieser Buchhandlung, die eine katholische war, die Kurve gekratzt haben, um uns eben etwas anzusehen oder anzuhören."
Die Zeit in Essen, dann an der Pädagogischen Hochschule in Köln, sind Lehrjahre des Dichters. Seine Frau Maleen Brinkmann erinnerte sich 1985 an diese Zeit.
"Er hat natürlich in den frühen 60er Jahren oder überhaupt in den 60er Jahren die Haltung entwickelt, dass er gegen die wissenschaftliche Art des Schreibens vorgehen muss, um das auszudrücken, was er wollte. Das heißt eine sinnliche Wahrnehmung der Außenwelt, die er dann auch sehr viel besser auseinanderlegen konnte. Er hat ganz bewusst verlangsamt angefangen, Anfang der 70er, Situationen zu zerlegen. Das hat an sich angefangen durch sein Fotografieren. Das Filmsehen ist für ihn eine wichtige Art des sich Äußerns, überhaupt des Wahrnehmens gewesen, weil es ihm ein langsames Tasten entlang der Umwelt oder der einzelnen Dinge war."
Noch bevor er seine erste Zeile veröffentlicht, ist sich Brinkmann seiner Autorenrolle bewusst.
"Er stellte sich nie einfach nur als jemand dar, als Rolf oder Rolf Dieter, wie er sich genannt hat, es war die Position eines, der schreibt, der nur mit Schreiben leben kann. Das war sofort, nach der kürzesten Zeit des Bekanntseins, war das sofort der wichtigste Punkt überhaupt bei ihm."
Man trifft sich, hört Musik, trinkt Wein. Brinkmann liest Texte vor, fremde und eigene. Es ist eine Unbedingtheit und Bestimmtheit, die ihn auszeichnet.
"Ständige Diskussion, ständiges Werten, Hochhalten, Verwerfen, bis hin zu so Ritualen, dass man Bücher zerriss und zerstörte, weil man sie als unerträglich empfand."
"Die Toten bewundern die Toten" – so charakterisiert Brinkmann einmal den bundesdeutschen Literaturbetrieb. Seine Emphase ist der Versuch, herauszutreten aus langen Schatten, aus einer Schattenwelt, Abstand zu nehmen vom "Hörighaltungs- und Abrichtungscharakter" eines Kulturbetriebs, der bereits alles vorformuliert und geprägt hat.
"In meiner Erinnerung hatte er eine schon auch zum Teil eine Aura der Besessenheit. Das war etwas Absolutes. Die Literatur, das Schreiben, das Leben, das Leben und Schreiben, was eine Einheit war, war so absolut, dass man sich dem gar nicht entziehen konnten."
"Immer wieder Schnitte, Schnitte, Schnitte, immer wieder Schnitte, Schnitte, Schnitte, Schnitte. Schnitt. Und noch ein Schnitt."
Zu Anfang der 60er veröffentlicht Brinkmann eine größere Erzählung, "In der Grube". Es folgt der erste, noch mit traditionellen Bildern aufgeladene Gedichtband "Ihr nennt es Sprache". Schon kurz darauf aber verändert sich die Form der Wirklichkeitswahrnehmung: Das Augenblickshafte wird als sinnliches Moment poetisiert, die Oberflächenreize führen bereits zu Snap-Shotartigen Gedichten, die den Gestus eines William Carlos Williams ins Deutsche zu übertragen versuchen. Der fotografische Blick fokussiert ein Detail des Alltags, stellt es heraus. Mitte der 60er Jahre kommt es dann für Brinkmann zu einer richtungsweisenden Begegnung mit Autoren, die allen hochkulturellen Ballast über Bord werfen und sich selber im Underground verorteten. Ralf-Rainer Rygulla, der damals in London lebt, versorgt Brinkmann mit neuen Texten vor allem aus den USA: Prosa und Lyrik von William Burroughs, Frank O’Hara oder Michael McClure.
"Im Sommer 1966 kam ich zurück und mit zentnerweise diesem Zeugs, diesen Little Mags und diesen hektographierten Zeitschriften und diesen Büchern, die aus Verlagen kamen, die sonst überhaupt ... die nicht zu dem Literaturbetrieb gehörten. Und da kam ich irgendwie... ich weiß nicht, ein Zentner wird’s gewesen sein, und Brinkmann stürzte sich darauf, war sehr interessiert, und lernte auch ganz nebenbei die Sprache englisch mit der Beschäftigung dieser kleinen Heftchen und Bücher und diesem neuen Ton, der da war. Der wirklich da war, der sich so sehr unterschied von diesem akademischen Literaturgerede, das es bis dahin in Deutschland eigentlich ausschließlich gab."
""Cross the border, close the gap" – Brinkmann schreibt sich Leslie A. Fiedlers Diktum auf die Fahnen. Er reagiert in seiner Lyrik und in spielerischen Essays auf "veränderte Dimensionen des Bewusstseins", wird zum "Kosmonauten des Innenraums", wie William S. Burroughs einmal geschrieben hat. Das Gedicht, so Brinkmann, sei die geeignetste Form, spontan erfasste Vorgänge und Bewegungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten. Es ist eine Bilderflut. Es gibt keine Gegenstände mehr, die nicht literaturfähig wären. "Beobachten, auseinandernehmen, neu zusammensetzen" – so beschreibt Brinkmann seine Arbeit und seine Lust am Text."
Die Blitzlichtaufnahmen der Gegenwart erhellen dunkle Flecken des Jetzt. Diese Gedichte stellen Provokationen dar, denn sie sind nicht auf die Ewigkeit gerichtet, sondern zielen auf den Moment – eine Apotheose des Augenblicks: "Sie sind zunächst einfach nur da", schreibt er. Und sie definieren neu, was in Augenschein genommen werden darf: Spülklosetts und Waschmaschinen, Hollywoodstars, Comics und Pornografie tauchen plötzlich in Gedichten auf.
Der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher, der in seiner Studie "Gerade eben jetzt" auch die Schreibweise Rolf Dieter Brinkmanns untersucht, erläutert dessen begeisterte Annäherung an die Gegenwart.
"Es gibt rückblickende Äußerungen von Brinkmann, wo er im Blick auf seine eigenen Gedichte sagt: Wofür sind eigentlich die Gedichte da: Für mehr Gegenwart. Vielleicht wäre das so eine Kurzzusammenfassung dessen, was Brinkmann machen möchte mit seinen Gedichten: Gegenwart einfangen, Gegenwart aber auch herstellen."
Fliegen, Schweben und Entgrenzung des Bewusstseins – so die Parole. "Piloten" und "Gras" heißen die Gedichtbände jener Zeit.
"Underground bedeutet zunächst einmal ein allgemeines Verhalten, ein persönliches Verhalten, das sich abgesetzt hat von dem Verhalten der älteren Generation, die eben nur noch permanent sich selbst repräsentieren kann, ein Establishment repräsentieren kann, Und man hat sich davon abgesetzt und geht seine eigenen Wege."
Brinkmann arbeitet auch an einem Roman. "Keiner weiß mehr" erscheint 1968 und gewährt einen geradezu obszön offenen Blick aufs eigene Ich, eine akribische, besessene Bestandsaufnahme eines falschen Lebens im falschen. Ein Buch, dessen Schonungslosigkeit, transportiert über eine rigoros schamlose Sprache, auch seine Frau Maleen und die Freunde einbezieht. Das eigene Leben als Material.
"Tatsache war, dass dieses Manuskript als ich zurück kam fast fertig war, "Keiner weiß mehr", 1966, und dass wir aber beim Lesen dieser amerikanischen und englischen Texte ja nun nicht umhin konnten festzustellen, dass dort mit den Four-Letter-Words richtig ganz groß umgegangen wurde. Das ist eine Spezialität des amerikanischen Puritanismus, und das war eine ganz wichtige Revolte da, das war in Deutschland nicht ganz so wichtig, aber offensichtlich eben doch. Es wurde ja auch gleich bemerkt. Zum ersten Mal gab es diese Überschrift einer Reich-Ranicki-Rezension: "Außerordentlich obszön" oder "Außerordentlich und obszön". Das war eigentlich das Neue. Und das ist hineingeflossen nach der Lektüre dieser Dinge, die ich aus London mitgebracht habe und die dann auch parallel auch ankamen, weil ich mit meinen Anthologien so beschäftigt war. Es ist regelrecht umgeschrieben worden, der Roman, um bestimmte Dinge, die vielleicht versteckt oder angedeutet waren, auszusprechen."
In einer radikalen, surrealistischen Geste legt es Brinkmann bei einer Podiumsdiskussion mit Harald Hartung und Marcel Reich-Ranicki Ende der 60er in Berlin auf Konfrontation mit dem etablierten Literaturbetrieb an: "Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre", ruft er den Kritikern zu, "würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen." Brinkmann will deutlich machen, dass es um mehr geht als um Literatur, dass aber genau dieses Mehr für ihn Literatur bedeutet.
"Er hat auch mit Lust sich Feinde gemacht, das war ihm auch ganz wichtig, dieses berühmte Ding mit dem Gewehr, "wenn mein Buch ein Maschinengewehr wäre" das ist sicherlich eine Attitüde, die nicht spontan war, die war einfach ihm selbstverständlich, und die hat er auch, gegenüber Freunden und Bekannten gab es die auch. [Man muss sagen: In dem selben Maße, in dem er aber auch ganz sich geöffnet hat für Einflüsse, auch für Unmittelbarste, von Leuten, die um ihn gerade herum waren, in dem selben Maß, wie er sich geöffnet hat und alles auch benutzt hat, jetzt nicht im Eigensinn benutzt hat, sondern gleich genauso wichtig fand wie seine eigene Meinung und seine Meinung über eine Sache, genauso war er in der Lage, eine andere Meinung zu akzeptieren, wenn sie denn einen individuellen und neuen und überraschenden Aspekt hatte. Das war seine ewige Suche nach diesen neuen überraschenden Aspekten."
Brinkmann braucht die Spannung, den Widerspruch, die Aggressivität, um ein Erregungslevel zu erreichen, auf dem sich etwas fühlen und schreiben lässt. Freunde macht man sich so tatsächlich nicht.
"Alles kontrolliert. Jeder kontrolliert jeden. Das ist doch nur noch Schwachsinn. Was wollt ihr denn alle. Ist doch alles schon da. Ihr blöden Narren. Ihr kleinen Wichtelmännchen. Ihr alten Polizisten. Warum seid ihr denn alle Polizisten?"
In den späten 60er Jahren übersetzen Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla aus dem Englischen, zusammen bringen sie unter anderem die wegweisende Anthologie "Acid – Neue amerikanische Szene" heraus. Der Aufbruchsgeist, die Euphorie, die gesellschaftlich in der Studentenbewegung verankert ist, hält nur eine Weile an. Für Brinkmann, der mit Frau und Sohn in Köln lebt, endet der Traum der Revolte in einer Depression, einer sowohl persönlichen, ästhetischen als auch finanziellen Krise.
"Sieben Gedichtbände, zwei Erzählungsbände, einen Roman, zwei Übersetzungen aus dem Amerikanischen, zwei Anthologien, drei Hörspiele. Das macht 17 größere Arbeiten in acht Jahren. Und davon kann ich nicht leben."
1970/1971. Brinkmann zieht sich zurück. Nach und nach vergrault er die verbliebenen Freunde, die ihm inkonsequent und verräterisch vorkommen. Rygulla etwa wechselt die Seiten, wird Lektor in Jörg Schröders März Verlag. Der Kontakt bricht fast vollständig ab. Brinkmann veröffentlicht Hörspiele, aber zu Lebzeiten keinen Gedichtband mehr, keinen Roman. Der Literaturbetrieb erscheint ihm noch verachtenswerter; die Attacken werden schärfer.
"Immer wieder Schnitte, Schnitte, Schnitte, immer wieder Schnitte, Schnitte, Schnitte, Schnitte. Schnitt. Und noch ein Schnitt."
"Ich denke, es gibt auch einen ästhetischen Bruch. Diese Leichtigkeit, die propagiert wurde in der Popphase, 66 oder 67 bis 70, die ist ja, die hat ja, da ist ja ein extremer Gegensatz da zu seinen Arbeiten, die dann entstanden sind nach so einer Riesenkrise. Und erst wieder in Rom hat er wieder begonnen, Prosa zu schreiben, aus Briefen, ... Prosaentwürfe zu skizzieren, die dann auch erst im Nachhinein, ja erst später als Nachlass erschienen sind."
In Rom entstehen Notizen und Vorstufen zu einem Roman: Collagenhafte Texte, mit Bildern und Briefen durchsetzt, hasserfüllte Aufzeichnungen, Abrechnungen, Raum- und Alltagserkundungen, die Brinkmanns Gefühl widerspiegeln, von Dreck, Sprachmüll, Phrasendrehern und Muff umgeben zu sein. Diese gewaltigen Texttopografien erscheinen erst posthum unter dem Titel "Rom, Blicke". Andere Materialienbände folgen. Brinkmann wendet sich mit Abscheu gegen die ehemaligen Freunde, gegen die Gegenkultur. Und zieht natürlich gleichfalls Hass auf sich. Der Autor Hermann Peter Piwitt verspottet ihn als "D'Annunzio aus Vechta/Oldenburg", ihm werden unbändiger Narzissmus und ein faschistisches Menschenbild vorgeworfen. Er blockt ab. Betrachtet seine Umwelt mit Argwohn und Verachtung.
"Köln ist die schmierigste Stadt, die ich kenne. Die schmierigste, versauteste, dreckigste, blödeste, verschissenste, verpinkelste, stinkendste Stadt. Ich geh am Friesenplatz entlang, muffig, grau, öde, verwaltet. Sie machen alles plan, sie rotten überall alles aus. Die Mehrzahl rottet alles aus. Überall diese Popmuffsänger. Die sollte man bald auch mal so von der Bühne treten. Dem Mick Jagger einen Tritt in den Arsch, während er singt so dort vorne. O ich friere, mir ist kalt. Ach, ich träume von ganz anderen Landschaften, während ich hier durchgehe."
Von einem "Wörtersüden" träumt Brinkmann, von Gedichten, die so einfach sind wie Songs, die eine Tür aufmachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus. Die Gedichte, die er Anfang der 70er Jahre verfasst, sind allerdings alles andere als voraussetzungslose Rocksongs, wie der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher ausführt.
"Vielleicht ist die größte ästhetische Herausforderung bei Brinkmann die, nicht allzu ernst zu nehmen, dass er ständig betont, dass es nicht um ästhetische Qualitäten geht. Das heißt, die ganze Emphase für Einfachheit, für Banalität, für Verabschiedung aller Kritierien und Verfahren und Motive, die man aus der klassischen Moderne kennt, all das zwar wahrzunehmen, aber sich anzusehen, dass er eigentlich in seinen Gedichten, vielleicht sogar vor allem in den Gedichten, jemand ist, der offensichtlich durchaus sich selbst in eine Tradition stellt, die nicht nur auf amerikanische Beatliteratur, Kerouac usw. zurückgreift, sondern auch relativ nahtlos anschließbar ist an Surrealismus auf der einen Seite, aber auch zum Beispiel Autoren wie Gottfried Benn, der für ihn ja sehr viel wichtiger ist als so wahrgenommen wird. Wenn es wirklich um so etwas geht wie ästhetische Qualitäten, würde ich fast sagen, ist Brinkmann weitaus traditioneller als es die Selbstwahrnehmung haben möchte und aber auch die Brinkmann-Geschichtsschreibung."
Es entstehen lange, flächenhafte Texte, eindrucksvolle Gedichtlandschaften, die unter negativen Vorzeichen fortsetzen, was Brinkmann in den 60er Jahren begonnen hat. "Rolltreppen im August" ist eines davon, veröffentlicht posthum in dem Band "Westwärts 1 & 2" und hier vorgetragen auf einem Poetenfestival in Cambridge 1975, wenige Tage vor Brinkmanns Tod.
"Die Panik der vielen einzelnen Personen, die nicht richtig
gefickt haben, nie geliebt worden sind, nicht irgendetwas
liebten, umarmt haben, immer haben sie die Mantelkragen
hochgeschlagen, ihre Kleider zugehalten, die Knie
aneinander gedrückt, in einem Gespräch. Die Panik
der Abteilungsleiter, die zwischen den Ständen gehen,
die Krawatten festgezogen, der Anzug nicht verbeult,
die schwarzen Sonderangebotsschuhe glänzen, die Socken
sind verschwitzt, Mundspray in den Pausen gegen den
schlechten Atem, Gestalten in gläsernen Kabinen, die
von den Ferien in Österreich mit Vollpension träumen,
über Wiesen gehen, stehenbleiben, nicht sehen, was sie sehen."
"Offensichtlich brauchte er immer wieder einen Absprung, der ohne doppelten Boden stattgefunden hat. Denn nach 70/71 war es ja auch so, dass er sehr viele extreme Experimente mit sich selbst durchgeführt hat, so wie Schlafentzug und Essensentzug, um zu sehen, wohin das führt, was er... welche Erfahrungen er machen kann. Er hat auch versucht, sehr extrem mit sich selbst umzugehen, auch mit seiner Umwelt, er war, er hat dann ja auch jede Beziehung abgebrochen oder so hinterfragt, dass man nur noch vor ihm Angst haben musste, und viele haben ja vor ihm Angst gehabt, weil er zum Beispiel Small Talk nicht akzeptiert hat, weil er Höflichkeitsfloskeln verurteilt hat, das war zum Teil eben auch ein Experiment mit sich selbst und seiner Umwelt zwangsläufig."
"Panik auf den Konten, die verwüstet sind, Panik am
Straßenrand, in der Abflußrinne, Panik zerlaufene Uhren,
Panikbäume, Panikgrundstücke, Panikmieten, die Panik in den
vertrockneten städtischen Anlagen und Kinderspielplätzen.
Panik beim Zeitungskauf, Panik der Buden an den Straßenecken, Panik
beim Sitzen draußen im Sonnenlicht und auf dem Asphalt ein graues
zerlaufenes Eis, Paink beim Umdrehen auf der Straße, und die
Straße ist leer: Panik wegen des Durcheinanders im Kopf, Panik
auf der Schreibmaschine, Panik in den Architekturbüros, Panik in
den Fahrstühlen, Panik der Felle, Panik der Zigarettenraucher,
Panik der Türken..."
"Jetzt bin ich aus den Träumen raus, die über eine / Kreuzung wehn. (...) was krieg ich jetzt, / einen Tag älter, tiefer und tot? / Wer hat gesagt, dass so was Leben / ist? Ich gehe in ein / anderes Blau."
Diese Zeilen stehen ebenfalls in "Westwärts 1 & 2". Das "andere Blau", die Farbe mit dem höchsten Wallungswert, wie Gottfried Benn einmal gesagt hat, ist nicht mehr das Comic-Blau eines Roy Lichtenstein. Es spielt schon ins Schwarz, ins Düstere. Die Veröffentlichung dieser Gedichte, die einen Neuanfang markieren sollen, erlebt Brinkmann nicht mehr. Am 23. April 1975, gerade 35 Jahre alt, wird er beim Überqueren einer Straße in London von einem Auto überfahren. Er stirbt noch an der Unfallstelle.
"...die Plakate, Bauzäune und Verbote machen weiter, die Fahrstühle machen weiter, die Häuserwände machen weiter, die Innenstadt macht weiter, die Vorstädte machen weiter."