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Der hysterische Mann

Lange Zeit hielt man die Hysterie für eine ausschließlich weibliche Krankheit. Sprachgeschichtlich kommt das Wort von "hystéra”, dem griechischen Ausdruck für "Gebärmutter”. Immer gab es freilich schon Stimmen, die auch Männer für hysterie-fähig hielten, Sigmund Freud zum Beispiel. In dieser Tradition sieht sich auch der freudianische Psychotherapeut Wolfgang Schmidbauer: "Ja, das ist an sich in der Geschichte der Psychoanalyse ein ganz wichtiges Thema, daß Hysterie auch eine Krankheit von Männern sein kann."

Günter Kaindlstorfer | 12.05.1999
    Was versteht man unter Hysterie? Allgemein gesagt: ein übertriebenes, unecht wirkendes Verhalten. Hysterische Frauen stellen eine übersteigerte Emotionalität zur Schau. Man kennt die Klischees: Die Hysterikerin verfällt in Weinkrämpfe, schreit, seufzt, sinkt in Ohnmächte und leidet an rätselhaften Krankheiten. Hysterische Männer scheinen das genaue Gegenteil zu sein: Sie betonen ihre "Überlegenheit”, geben sich cool und dominant, vielleicht fahren sie schnittige Sportwägen und rauchen Zigarren.

    In seiner Praxis als Psychoanalytiker ist Wolfgang Schmidbauer mit vielen hysterischen Männern konfrontiert worden. Geht man in die Kindheit dieser Männer zurück - so stößt man ausnahmslos auf schwache oder abwesende Väter: "Der Vater war während unserer gesellschaftlichen Entwicklung immer weniger präsent gewesen in der Welt des Kindes. Das hat für beide Geschlechter einschneidende Folgen. Die Männer etwa sahen, daß der Vater abends müde nach Hause kommt, daß er eher jemand ist, der seine Aktivität woanders auslebt und nicht zu Hause. Mitscherlich erläuterte dies in der berühmten Rede von der vaterlosen Gesellschaft. So sind die Väter oft traumatisierte Väter; in Europa wurde dies zusätzlich durch den Krieg bedingt. So konnten die Söhne sich überhaupt nicht mit den Väter identifizieren, sie konnten auch keinen Kontakt zu deren Kriegserlebnissen gewinnen.”

    Hysterische Männer sind sich ihrer Männlichkeit nicht sicher; daher sind sie übermäßig abhängig davon, als erwachsen, attraktiv und stark zu gelten. Ihr Verhältnis Frauen gegenüber ist widersprüchlich: Sie kultivieren ein oberflächlich chevalereskes, unterschwellig aber abwertendes Verhalten dem anderen Geschlecht gegenüber.

    "Das Spezifische in der Hysterie", meint Schmidbauer deshalb, "ist vielleicht der Umstand, daß die Realität des anderen Geschlechts nicht als ausreichend akzeptiert wird; vielmehr gilt dieses als etwas Überoptimales.Das läßt sich etwa daran ablesen, daß die Beziehungen nur in der Verliebtheitsphase gelingen, dann also, wenn das Idealisierende in Funktion ist; wenn es dann ernster wird, wenn man zusammen einen Haushalt und Kinder hat, dann verschlechtern sich Beziehungen graduel;lschließlich entsteht dann eine Art Kampf, in dem jeder dem anderen vorwirft, er könne seine Männer-, Frauen-, Vater- oder Mutterrolle nicht ausfüllen.”

    Die Mutterrolle. Hinter hysterischen Männern steht in der Regel eine besitzergreifende Mutter. Der Abnabelungsprozeß des Sohnes verläuft unvollständig. "Ich glaube", meint deshalb Schmidbauer, "daß dieser Prozeß bei hysterischen Männern besonders unglücklich abläuft; denn sie sind nicht in der Lage, diesen Prozeß mit ihren Müttern zu gestalten. Das liegt an beiden Seiten. Die Mutter kann nicht akzeptieren, daß er weggeht Er soll entweder sie verehren, oder er wird verstoßen; dann muß er mit allem alleine fertigwerden.”

    Dieses Muster leben hysterische Männer auch in ihren späteren Beziehungen zu Frauen aus. Sie wollen gefallen, in ihrer Virilität beeindrucken. In sexueller Hinsicht ist es ihnen wichtiger, die Frau zum Orgasmus zu bringen, als selbst zu sexueller Erfüllung zu gelingen: "Die Gefahr", so Schmidbauer, "ist immer die, daß der hysterische Mann es vorzieht, die Frau zu befriedigen, als selbst in einer Beziehung zufrieden zu sein. So erhält er die Bestätigung, daß er gut funktioniert. Es fällt ihm hingegen schwer, darüber offen zu kommunizieren, zu fragen, wie diese Lust gemeinsam zu erleben und zu steigern ist."

    Hysterische Menschen tun sich schwer, in der Gegenwart zu leben. Sie zeigen sich immerfort auf Künftiges orientiert. Glück und Erfüllung erwarten sie stets in der Zukunft. Beruflich sind sie überdurchschschnittlich ehrgeizig. Sie laufen durchs Leben wie der Hund, dem man die sprichwörtliche Knackwurst immer wieder vor der Nase wegzieht. Dahinter steht eine kindliche Sehnsucht nach unerreichbarem Glück, weiß Wolfgang Schmidbauer: "Für Männer wie für Frauen gilt, daß die Suche nach dem überoptimalen Glück im Alltag sehr unglücklich machen kann.”

    Was kann man unternehmen, wenn man unter den von Schmidbauer beschriebenen Symptomen leidet? Will man den Problemen ernsthaft zu Leibe rücken, wird man um eine seriöse Psychotherapie nicht herumkommen. Grundsätzlich rät der Münchner Psychoanalytiker freilich, der hysterischen Symptomatik mit Humor und gutmütiger Ironie zu begegnen. Im Tragischen das Heitere zu sehen, kennzeichnet bekanntlich den Weisen.