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Der Isenheimer Altar
Die Gegenwart des Entsetzlichen

Die Kreuzigung Jesu ist selten so drastisch dargestellt worden wie von Matthias Grünewald. Sein Isenheimer Altar hat seit jeher Denker bewegt. Etwa den jüdischen Dichter Paul Celan, der gebannt war von der "Macht der Ohnmacht". Auch Elias Canetti stand "einen ganzen Tag lang" vor dem Altar.

Von Astrid Nettling |
    Ein Altar steht in einer Kapelle
    Der Isenheimer Altar des Renaissance-Künstlers Grünewald im Musée Unterlinden in Colmar (Musée Unterlinden)
    Groß und barfüßig steht die Gestalt des Mannes im roten Manteltuch rechts neben dem Kreuz. Lang, übermäßig lang streckt sich sein rechter Zeigefinger. In seiner linken Hand hält er aufgeschlagen das Buch des Alten Bundes – während die rechte Hand mit dem überlangen Zeigefinger auf den Gekreuzigten weist, auf den Stifter des Neuen Bundes.
    Es ist Johannnes der Täufer. Die Evangelien schildern ihn als den Vorläufer Jesu, als einen Propheten, der auf ihn als den Messias vorausweist. Als Jesus gekreuzigt wird, ist er bereits tot.
    Dennoch stellt Matthias Grünewald ihn auf der Kreuzigungstafel seines Isenheimer Altars zur Rechten des Kreuzes. Neben den weisenden Zeigefinger des Täufers hat er in roten Großbuchstaben die Worte geschrieben:
    "ILLUM OPORTET CRESCERE ME AUTEM MINUI."
    "Jener muss wachsen, ich aber kleiner werden."
    Diese Worte stehen im Johannesevangelium.
    Denn der Prophet aus der Zeit des Alten Bundes weiß, dass er vor dem Neuen, das mit Jesus beginnt, weichen muss.
    Nie zuvor eine so große Kreuzigungsszene
    Matthias Grünewald hat seinen Altar zwischen 1512 und 1516 als ein Auftragswerk für das Antoniterkloster im elsässischen Isenheim geschaffen. Einem Dorf nicht weit entfernt von Colmar. Dort ist der Altar bis heute zu sehen: im Museum Unterlinden, einem ehemaligen Dominikanerinnenkloster.
    Die Kreuzigungstafel bildet die erste Schauseite des mehrteiligen Flügelaltars. Nie zuvor wurde eine so große Kreuzigungsszene gemalt: Die Tafel ist 2,69 m hoch und 3,07 m breit.
    Riesig erstreckt sich das Kreuz vom unteren Bildrand über die gesamte Höhe. Auf die Schnelle zusammengezimmert, ist die Rinde des Stamms bloß auf der Vorderseite abgelöst. Der dünnere Querbalken ist ebenfalls kaum entrindet. An einem Haken oben im Hauptstamm befestigt hängt eine Holztafel. Darauf ein Schild mit der Inschrift: INRI.
    "Es stand eine Inschrift über ihm in griechischer, lateinischer und hebräischer Sprache: 'Dieser ist der König der Juden.'"
    "Ich stand einen ganzen Tag vor dem Altar"
    Heißt es im Lukasevangelium. Nah, geradezu hautnah erscheint dem Betrachter der riesige Leib des Gekreuzigten. Der Schriftsteller Elias Canetti, der im Frühjahr 1927 als Zweiundzwanzigjähriger das berühmte Altarbild besucht, hält in seinen Erinnerungen fest:
    "In Colmar stand ich einen ganzen Tag lang vor dem Altar, ich wusste nicht, wann ich gekommen war, und ich wusste nicht, wann ich ging. Ich sah den Leib Christi ohne Wehleidigkeit, der entsetzliche Zustand dieses Leibes erschien mir wahr. Vor dieser Wahrheit wurde mir bewusst, was mich an Kreuzigungen verwirrt hatte: ihre Schönheit, ihre Verklärung. Wovon man sich in der Wirklichkeit mit Grausen abgewandt hätte, das war im Bild aufzufassen."
    Elias Canetti in Zürich 1977
    Der Schriftsteller Elias Canetti (Museum Strauhof Zürich; © Bildarchiv Elias Canetti Erben durch Carl Hanser Verlag, München)
    Schwer hängt sein Körper. So schwer, dass sich das Querholz nach unten biegt. So schwer, dass sich die überstreckten Arme aus den Schultern renken. Mit dicken Nägeln sind die Hände von oben auf den Balken genagelt. Das Gewicht des Körpers hätte sie sonst auseinandergerissen. Von einem einzigen Nagel im Spann durchstoßen sind die Füße. Von keiner Stütze gehalten, werden sie vom langen Stift des Nagels regelrecht aufgespießt.
    "Leichengrüne Blutfüße"
    Der Schriftsteller und Kunsthistoriker Wilhelm Niemeyer hat 1921 eine der ersten Einzeldarstellungen über Matthias Grünewald verfasst. Darin schreibt er:
    "Vor diesen durchbohrten leichengrünen Blutfüßen ist es, als ob nie ein Maler Blut, wirkliches Blut habe zeigen mögen. Und diese Nagelung! Im Grausen vor der Qual der zerquetschten Sehnen und zersprengten Knochen erschauert man des Gedankens, dass Menschen es sind, die an Menschen solches tun. Dass wir alle diese Worte: sie nagelten ihn ans Kreuz! gehört, gelesen, gesprochen und nie gewusst haben, was das ist: am Holz übereinander genagelte Menschenfüße!"
    Der Altar war für die Kapelle des von den Antonitern geführten Hospitals auf dem Klostergelände in Isenheim bestimmt. Die Antoniter waren ein Krankenpflegeorden, spezialisiert auf die Bekämpfung des sogenannten Antoniusfeuers, heute Mutterkornvergiftung genannt. Die Krankheit wird ausgelöst durch den Verzehr von Getreide, befallen vom giftigen Mutterkornpilz. Die Vergiftung führt zu Halluzinationen, Verengung der Blutgefäße, schweren Durchblutungsstörungen. Finger und Zehen können absterben.
    Die Antoniter versorgten in Isenheim mehrere tausend Kranke. Vor Beginn der Behandlung führten sie die Kranken zum Altar, vor dem sie manchmal auch die Nacht zubrachten. Meist war nur die erste Schauseite des dreiteiligen Altars zu sehen, also, die große Kreuzigungstafel.
    Gegenwart des Entsetzlichen
    Im März 1970 besucht der Dichter Paul Celan das Museum Unterlinden und den Isenheimer Altar - gemeinsam mit einem Freund, dem Literaturwissenschaftler Gerhart Baumann. Dieser erinnert sich:
    "Celan wandte seine Aufmerksamkeit ausschließlich der 'Kreuzigung' zu. Die Gegenwart des Entsetzlichen ließ ihn nicht los, die unerhörten Spannungen zwischen Inbrunst und Verwesung, der Glaube an den geschändeten Gott. Wir verharrten schweigend. Nach geraumer Zeit verließen wir den Raum der Stille, in dem sich bestürzend die Macht der Ohnmacht offenbart."
    Paul Celan, deutschsprachiger Lyriker rumänischer Herkunft, geboren am 23.11.1920 in Tschernowzy, gestorben am 20.4.1970 in Paris. Celan zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikern.
    Der Lyriker Paul Celan. (picture alliance / dpa)
    Eine kleine Frauengestalt in rötlichem Gewand kniet zur Linken des Kreuzes – Maria Magdalena, die inbrünstig Glaubende. In fassungslosem Schmerz haben sich ihre Finger ineinander gespreizt. Starr wie Stacheln strecken sie sich dem Gekreuzigten entgegen. Sie ist keine Vorausweisende wie die große Täufergestalt zur Rechten – sie ist Augenzeugin.
    Grünewald rückt auch Maria von Magdala direkt neben das Kreuz. Direkt neben den Gekreuzigten, neben den "geschändeten Gott", dessen Anblick von "Verwesung" statt von "Verklärung" spricht.
    Aus dem Triumphierenden ist ein Gequälter geworden
    Denn nichts im Bild kündet von einem "Triumph des Kreuzes", von einem triumphierenden Christus, wie er im frühen Mittelalter dargestellt wurde. Längst ist aus dem Triumphierenden ein Gequälter geworden – gestorben eines grausamen Todes.
    Nagelspitz stechen die langen Dornen um seinen Kopf. Abgebrochen stecken sie überall im Körper: in Schultern, Arm, Brust, in den Füßen. Blutig aufgerissen überall das Fleisch. Sein Kopf ist tief zur Seite des Herzens herabgesunken. Die blau verfärbten Lippen haben sich geöffnet und lassen Zunge und Zähne sichtbar werden. Er ist tot. Oben auf das Querholz genagelt aber schreien die bis zum Äußersten aufgespreizten Hände gen Himmel.
    Hat Jesus geschrien, als er starb? Man weiß es nicht. Hat er davor letzte Worte an seine Getreuen oder an die Umstehenden gerichtet? Auch das weiß man nicht. Und was waren seine letzten Worte? Sieben letzte Worte?
    "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?"
    Aufschrei grenzenloser Verlorenheit
    Sein "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" stellt keine Frage dar. Sein Warum ist der Aufschrei grenzenloser Verlorenheit, worauf es keine Antwort geben kann.
    Vielleicht sind deshalb Maria Magdalena und Johannes der Täufer zu beiden Seiten des Kreuzes platziert. Die inbrünstig Glaubende und der weisende Vorläufer. Als würden allein sie die Heilsgewissheit verbürgen. Während die Gottverlassenheit Jesu – sein einsames Sterben als Mensch am Kreuz – dort für immer wie festgenagelt erscheint. Festgenagelt und für jeden offenbar.
    Der Verzweiflungsruf Jesu ist ein wörtliches Zitat aus den Psalmen des Alten Testaments. Die christliche Auslegungstradition hat stets hervorgehoben, die Worte Jesu seien zwar aus höchster Not gesprochen, doch keineswegs der Ausdruck tiefster Verzweiflung. Schließlich folge auch im Psalm auf die Wehklage des Psalmisten die freudige Gewissheit:
    "Muss ich auch wandern im finsteren Tale, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir."
    Das Rätsel Grünewald
    Vom Schöpfer des Isenheimer Altars ist nicht allzu viel bekannt. Selbst Matthias Grünewald ist nicht sein richtiger Name. Vermutlich hieß er Mathis Gothart-Nithart. Zwischen 1475 und 1480 in Würzburg geboren, unterhält er später in Seligenstadt am Main eine Werkstatt. Um 1516 tritt er als Hofmaler in den Dienst des Erzbischofs von Mainz, Albrecht von Brandenburg. Wegen möglicher Sympathien mit den reformerischen Strömungen seiner Zeit scheidet er 1526 aus dem Hofdienst aus. 1528 stirbt er in Halle an der Saale.
    Matthias Grünewald lebt in einer Zeit des Übergangs. Der Kunsthistoriker Rainhard Riepertinger bezeichnet ihn in seinem gleichnamigen Buch als "Das Rätsel Grünewald" – als ein Rätsel in rätselhafter Zeit:
    "Humanismus, soziale Unruhen, konfessionelle Konflikte kennzeichnen diese spannungsgeladene Epoche. Für viele Menschen nahm die Sorge um das Seelenheil einen zentralen Bereich ihres Lebens ein. Hinzu trat eine immer deutlicher werdende Kritik an der Kirche und ihren Vertretern. Wie Grünewald seine Lebenszeit empfand, bleibt ungewiss."
    "Nicht der Christus der Reichen"
    Der Schriftsteller Joris-Karl Huysmans hat sich immer wieder in das Werk Grünewalds vertieft, vor allem in dessen Kreuzigungsdarstellungen. 1903 reist er nach Colmar. In einem Essay hält er fest:
    "Dieser Christus war nicht der Christus der Reichen. Dies war der Christ aus den ersten Jahrhunderten der Kirche – ein Christus hässlich, weil er die ganze Summe der Sünden auf sich nahm."
    So hatte es auch der Apostel Paulus verstanden. In seinem ersten Korintherbrief schreibt er:
    "Ich hatte mir vorgenommen, nichts anderes zu kennen als Jesus Christus, und zwar den Gekreuzigten."
    Der Philosoph Karl Jaspers (1883-1969), einer der bedeutensten Vertreter des Existentialismus, in einer undatierten Aufnahme.
    Der Philosoph Karl Jaspers (picture alliance / dpa)
    Von einer "Theologie des Kreuzes" wird Martin Luther sprechen. Abrücken wollte er damit von der mittelalterlich-scholastischen "Theologie der Herrlichkeit". Der Philosoph Karl Jaspers erläutert:
    "Luther hat sich gegen die theologia gloriae des Thomas von Aquin gewendet und die theologia crucis in den Mittelpunkt gestellt: allein durch das Kreuz führt der Weg zu Gott. Für das Heil der Seele kommt es darauf an, die Nachfolge im Tragen des Kreuzes zu finden; das ist schwer und real."
    Wie schwer es ist, zeigen zwei weitere Gestalten, die Matthias Grünewald in seine Kreuzigungsszene aufgenommen hat. Es sind Maria, die Mutter Jesu, und sein Lieblingsjünger Johannes. Neben der knienden Maria Magdalena sind beide ebenfalls zur Linken des Kreuzes platziert.
    Wie erschlagen von der Schwere des Geschehens ist Maria ohnmächtig nach hinten gesunken. Weiß wie ihr Gewand ist ihr totenbleiches Gesicht. Lediglich der Arm des Johannes gibt ihr Halt. Merkwürdig lang ist sein Arm. Doch er kann nicht lang genug sein, um so viel Schwere zu tragen. Hilflos ineinander gepresst sind Marias Hände – ohnmächtig waren sie gewesen, das Geschick des Sohnes abzuwenden.
    "Die Hände - welch ein Seelenausdruck"
    Lucien Sittler, Schriftsteller und ehemaliger Archivar der Stadt Colmar, hat 1957 eine kleine Studie über Matthias Grünewald verfasst. Darin schreibt er:
    "Überhaupt die Hände bei Meister Mathis: die Hände Christi, des Täufers, der Magdalena, der Mutter. Welch ein Seelenausdruck in ihnen, welch eindringliche Sprache in jeder von ihnen!"
    Die Sprache hilfloser Ohnmacht sprechen die Hände Marias, die des inbrünstigen Glaubens die Hände Maria Magdalenas. Beide sind fassungslos angesichts dessen, was geschah. Während in standhafter Voraussicht der Zeigefinger des Johannes auf den Gekreuzigten als den Messias weist. Als eine Mahnung zugleich an die Nachfolgenden, das, was geschah, für alle Zeit in Erinnerung zu halten.
    Hoch über allen aber die Hände Jesu. Vor der absoluten Finsternis des Himmels, gespreizt im Todeskrampf wissen sie nichts von den Händen zur Rechten und zur Linken des Kreuzes.
    "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
    Was haben die Kranken und Leidenden in der Klosterkapelle in Isenheim empfunden? Was haben sie für sich geschöpft aus der Betrachtung der Kreuzigungstafel? Vermutlich fanden sie Trost beim Anblick des Leidens Jesu. Schöpften Hoffnung für ihr Seelenheil im Vertrauen auf den Heiland, auf den der Täufer zeigt.
    Immer wiederkehrende Unheilsgeschichte
    Als Elias Canetti im Frühjahr 1927 vor dieser Tafel steht, gemahnt ihn der Zeigefinger des Johannes jedoch an anderes:
    "Krieg und Gastod waren damals noch nah genug, um die Glaubwürdigkeit dieses Bildes zu bewirken. Nicht Trost, so als ob es gut ausgehen würde, denn es geht nicht gut aus. Was können noch die tröstlichen Täuschungen bedeuten vor dieser Wahrheit, sie ist sich immer gleich und sie soll vor Augen bleiben. Alles Entsetzliche, das bevorsteht, ist hier vorweggenommen. Der Finger des Johannes, ungeheuerlich, weist darauf hin: das ist es, das wird es wieder sein."
    So deutet die Gestalt des Täufers aus der Sicht des Schriftstellers auf eine ganz andere Geschichte. Auf kein bevorstehendes Heilsgeschehen, sondern auf die sich stets erneut vollziehende Unheilsgeschichte, wie sie die Menschen nicht erst in der Moderne erfahren haben.
    Trotzdem besitzt das Kreuzigungsbild für Canetti "Glaubwürdigkeit" – oder gerade deshalb. Lenkt doch der Zeigefinger des Johannes den Blick zurück. Zurück auf den Menschen Jesus von Nazareth und seine Leidenswahrhaftigkeit. Zurück auf den Gottverlassenen, bevor er zu Christus – zu einem "Gesalbten" und Heilsbringer – wurde. So wie es der Schluss des Johannesevangeliums ausdrücklich bekräftigt:
    "Aufgeschrieben, damit ihr glaubet, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen."
    Der Philosoph Karl Jaspers aber hebt hervor:
    "Jesus hat ein Leben gezeigt, dessen Sinn durch Scheitern in der Welt sich nicht vernichtet. Seine Verkündigung zu hören, lehrt den Blick offen zu halten für das absolute Unheil in der Welt."
    Diese Verkündigung lehrt den Blick offen zu halten für das "Entsetzliche", das immer wieder bevorsteht. Dies macht bis heute die Glaubwürdigkeit der Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars aus. Ihre Wahrheit, ihre Modernität. Unabhängig vom Glauben und von den Zeitumständen, unter denen Matthias Grünewald sein Bild gemalt hat.
    In welch entsetzliche Finsternis hat er sein Bild getaucht. Ihre Schwärze füllt den ganzen Horizont aus. Bis zum Äußersten ist Jesus als Mensch gegangen. Bis dahin, wo alles Licht aufhört. Vor dieser Finsternis aber rückt sein Leben, rückt sein Sterben, rückt seine überragende Gestalt umso unauslöschlicher in den Blick.