"Ich bin Orientale und Orientalen beantworten Fragen mit Anekdoten."
Wer mit Bassam Tibi spricht, hört viele lehrreiche Geschichten aus seinem Forscherleben. Mit 18 Jahren kam er als Student aus Syrien nach Deutschland. 1962 war das. Seitdem hat der Politikwissenschaftler an Universitäten auf dem halben Globus gelehrt und geforscht. In Deutschland zunächst in Frankfurt, dann in Göttingen. Auch mit deutschen Politikern hatte er oft zu tun. Tibi erinnert sich an ein Treffen in den 2000er Jahren mit Wolfgang Schäuble, damals Bundesinnenminister.
"Ich verrate es, ein privates Gespräch und ich trage die Folgen. Herr Schäuble sagte zu mir: 'Herr Tibi, sie sind ein sympathischer Kerl! Ich finde Ihre Ideen toll, aber ich kann mit Ihnen nicht zusammenarbeiten.' Und ich habe gesagt: 'Warum?' Er fragte mich: 'Wie viele Moscheen haben Sie hinter sich?'"
Einen Moscheeverband oder ähnliches kann Tibi nicht vorweisen. Seine Idee ist der Euro-Islam: ein säkularer, freiheitlicher und aufgeklärter Islam. Und Ideen daran zu messen, wie viele Anhänger sie haben, hält Bassam Tibi für fragwürdig.
"Der größte Denker in Deutschland, vor dem ich mich verbeuge, ist Immanuel Kant. Und wenn man damals nach Königsberg geht und sagt man zu dem Autor der drei Kritiken, das ist die Grundlage des Rationalismus in ganz Europa, wie viele Anhänger haben Sie hinter sich? Wenn er sagt keine, dann sagt man, dann gilt Ihre Philosophie nicht. So kann man nicht argumentieren. Aber die Art deutscher Politiker zu argumentieren, ermutigt nicht, mit ihnen zusammen zu arbeiten."
Scharia als Gesetzbuch?
Auch mit einem Richter vom Bundesverfassungsgericht hat Tibi eine entmutigende Erfahrung gemacht. Er habe den Richter telefonisch beraten. Es sei um das Kopftuch gegangen und das islamische Recht, die Scharia.
"Und nach dem Beratungsgespräch von einer Stunde fragt er mich etwas. Damit die Leute das verstehen, muss ich etwas vorher erklären. Scharia ist kein kodifiziertes Recht. Das heißt, es gibt kein Gesetzbuch namens Scharia. Eine Rechtsprechung erfolgt auf Grundlage der Interpretation des Korantextes beziehungsweise der Sprüche des Propheten Muhammad. Lange Rede, kurzer Sinn: Es gibt kein Gesetzbuch namens Scharia."
Das habe Bassam Tibi dem deutschen Richter zu erklären versucht. Allerdings ohne Erfolg.
"Dieser Richter fragte mich am Ende eines einstündigen Beratungsgesprächs, ob ich ihm eine deutsche Übersetzung der Scharia empfehlen kann. Ich habe einen Lachkrampf am Telefon bekommen. Ich bin zivilisiert, ich habe mich beherrscht und dann habe ich gesagt, Entschuldigung, darf ich Ihnen etwas erklären, und habe ihm das nochmal erklärt. Wenn ein Verfassungsrichter ein Urteil machen will und hat keine Ahnung, was Scharia ist, wie kann ich zu diesen Leuten Vertrauen haben?"
Wenn man Bassam Tibis Äußerungen über die Jahre verfolgt – in seinen Vorlesungen, auf seiner Homepage, in Interviews – dann merkt man: Tibi ist von Deutschland enttäuscht. Nicht von allen, aber von vielen Deutschen, von vielen Entscheidungsträgern. Er bereut es, nicht in die USA ausgewandert zu sein, schreibt der Politikwissenschaftler auf seiner Homepage. Göttingen sei sein Schicksal.
Auf der Suche nach einem Imam
Auf die Frage, ob es in Deutschland Moscheen gibt, die er gerne besucht, antwortet Tibi wiederum mit einer Anekdote. Er habe einmal versucht, "einen deutschen Imam zu finden, der so ähnlich denkt wie ich." Der Imam sollte bei einer Veranstaltung der "Alfred Herrhausen Gesellschaft" auftreten.
"Ich bin rumgereist damals in der ganzen Bundesrepublik und habe nach Imamen in Moscheen gesucht. Wirklich gesucht und gesucht und nichts gefunden. Und zum Schluss kamen wir zu dem Ergebnis: Wir haben den Imam der Moschee von Marseille, er heißt Bencheikh. Er sprach toll. Demokratisch, laizistisch, liberal. Und die 'Herrhausen Gesellschaft' hat gesagt, können Sie uns nicht einen Deutschen holen? Ich habe gesagt, den gibt es nicht. Leider."
Tibi fühlt sich mit seinem Islamverständnis zwar nicht einsam in Deutschland, aber offenbar doch recht allein.
"Für mich ist das Grundgesetz, vielleicht ist das häretisch, aber ich wage es zu sagen, das Grundgesetz emotional ist das so wichtig wie der Koran. Viele Muslime würden mich deswegen umbringen, weil ich so etwas sage, und sagen, nein, der Islam ist die einzig richtige Religion."
"Das ist mein Islam"
Trotz Anfeindungen aus der muslimischen Gemeinde ist Bassam Tibi stets bekennender Muslim geblieben. Er kritisiert viele Formen des Islams und fühlt sich dennoch in der Religion zu Hause.
"Das Schöne am Islam ist das, was unser Prophet – mein Prophet heißt Muhammad, ja, weil ich bin gläubiger Moslem – unser Prophet hatte einmal gesagt, die Vielfalt in meiner Islam-Gemeinde ist ein Segen."
Bassam Tibi vertritt einen Islam, der die Vielfalt der Religionen und der menschlichen Lebensweisen anerkennt. Er sieht sich damit in der Tradition der islamischen Aufklärung, die ihren Höhepunkt im 12. Jahrhundert hatte. "Die wurde getragen von Philosophen wie Al-Farabi, Ibn Ruschd, Ibn Sina. Das ist mein Islam."
Auch mit vielen muslimischen Denkern der Moderne kann Tibi sich identifizieren. Allerdings: "Die wichtigsten Leute dieser Schule sind inzwischen leider verstorben. Also ich bin 72 Jahre alt. Ich weiß nicht, wie lange ich lebe. Wenn ich sterbe, habe ich keinen Nachfolger in Deutschland."