Freitag morgen, 9 Uhr. In der Redaktion der Zeitschrift "Lichtblick" sitzen Wolfgang und Michael an den Computern, über ihren Köpfen ein Regal mit Wörterbüchern und dem Strafrecht, das Radio dudelt. Telefone, Monitore, Zeitungen, ein Drucker. Es sieht aus wie in einer kleinen Lokalredaktion. Wolfgang* holt die druckfrische Ausgabe des "Lichtblick" hervor. Die Themen unter anderem: "Lebenslänglich. Perspektivlos?" oder "Immer wieder diese Drogen. Ist die JVA Tegel ein Drogenumschlagplatz?". Der "Lichtblick" ist eben keine normale Zeitschrift:
"Der 'Lichtblick' sollte im besten Fall ein Sprachrohr für die Inhaftierten sein und die Inhaftierten erwarten das auch, die sprechen uns auch darauf an, schreibt doch mal darüber oder darüber müsst ihr mal berichten."
World Wide Web ist Tabu
Der "Lichtblick" ist die größte unzensierte Gefangenenzeitschrift Deutschlands, sagt Wolfgang. Selbst die Gefängnisleitung bekommt das Heft erst, wenn es gedruckt ist. Alle drei Monate verschickt die Redaktion 7.500 Ausgaben in alle Welt, sogar nach Brasilien und in die USA. Eine Ausgabe erreicht bis zu 60.000 Leser, so Wolfgang. Aber nicht nur "Knackis" lesen den "Lichtblick".
"Der wird eben auch in den Gerichten bei Staatsanwälten gelesen und und und...Ja, er kommt schon an, auch wenn er nicht immer die Resonanz hat, die man sich vielleicht erwünscht, aber es schlummert, es gärt."
Technisch ist im "Lichtblick" sozusagen die Zeit stehen geblieben. Die Redakteure recherchieren mit Telefon, Fax und E-Mail. Das World Wide Web ist tabu. Die Informationen kommen trotzdem an, sagt Michael.
"Durch Verwandte, Freunde, Bekannte, die draußen Zeit für einen opfern, um das, was man wissen will, zusammenzutragen und zu hinterfragen."
Freiheiten für die Redakteure
Auf gut 60 Seiten steht was Häftlinge bewegt: Reportagen aus den Werkstätten, in der Rubrik "Recht gesprochen" werden aktuelle Urteile zum Strafvollzug behandelt. Ein Dauerbrenner lange Zeit: die hohen Telefongebühren in deutschen Haftanstalten. Die Themen liefern Mitgefangene und unzählige Leserbriefe aus der ganzen Republik.
"Die sind ganz, ganz wichtig, weil da Anregungen herkommen. Und vor allem Missstände in anderen Vollzugsanstalten und den Maßregelvollzugsanstalten angesprochen werden, halt über den Tellerrand hinausschauen wie es im restlichen Bundesgebiet zugeht."
Die Redakteure sind Experten für den Strafvollzug geworden, kennen Gesetze, tauschen sich regelmäßig mit Anwälten und Wissenschaftlern aus. Die Arbeit beim "Lichtblick" bringe viel Verantwortung mit sich, aber auch Freiheiten, so Wolfgang:
"Wir haben die Möglichkeit uns mit Hilfe eines Freiläuferausweises hier in der Anstalt frei zu bewegen ohne dass ein Beamter mitlaufen muss, das eröffnet einem schon die Möglichkeit, die Leute zu befragen."
"'Lichtblick' ist unabhängige und unzensierte Zeitschrift"
Ein anderer Vorteil: Die Arbeit wird mit 16,07 Euro am Tag entlohnt. Das ist immerhin die höchste Gehaltsstufe in Tegel. Zudem sind die Redaktionsräume dreimal so groß wie eine Zelle im gleichen Bau. Und Platz ist ein rares Gut in einem Gefängnis. Martin Riemers Büro ist um einiges größer, und hat keine Gitter vor den Fenstern. Riemer leitet die Anstalt seit 2013:
"Natürlich gibt es manchmal Dinge da drin, bei denen ich die Schulter zucke, dann gibt es andere Dinge, die ich nicht so richtig verstehe, aber es gibt auch Beiträge, die ich sehr interessant finde."
Auch wenn der Anstaltsleiter nicht alles gut heißt, hält er sich an das Redaktionsstatut von 1976. Dort heißt es unmissverständlich: "Der 'Lichtblick' wird als unabhängige und unzensierte Zeitschrift herausgegeben." Daran rüttelt Riemer nicht.
"Umgekehrt weiß natürlich der 'Lichtblick', dass das, was an Kritik, an Vorwürfen erhoben wird einer Nachprüfung standhalten muss. Es gibt eben eine bestimmte Tendenz in der Berichterstattung, aber das sind eben Äußerungen, die natürlich von Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gedeckt sind."
Zeitschrift bietet Möglichkeit, um mit Vorurteilen aufzuräumen
1968 gegründet, war die Zeitschrift ein demokratisches Abenteuer, längst ist der "Lichtblick" Alltag und ein regelmäßiger finanzieller Posten im Haushalt der JVA. Einen höheren zweistelligen Betrag kosten Gehälter, Druck und die Verteilung der Zeitschrift, dazu kommen noch Spenden. Eine Investition in die öffentliche Wahrnehmung.
"Vieles, von dem was wir hier machen, geschieht ja in einem für die Bevölkerung von Mythen umrankten Bereich und da ist natürlich eine solche Gefangenzeitschrift, die öffentlich wahrgenommen wird, ein Kanal von mehreren Möglichkeiten mit dem einen oder anderen Vorurteil aufzuräumen."
Die Redakteure erreichen mit den Artikeln hin- und wieder überregionale Aufmerksamkeit. Die Wochenzeitung "Die Zeit" zitierte den Lichtblick schon, ebenso "Der Spiegel". Im "Spiegel" ging es um das fehlende Personal in Tegel 2013:
"Da freut es uns, dass wir dann auch bundesweit erfolgreich sind, natürlich macht uns das stolz. Aber wir bleiben auch am Ball, wir lassen uns nicht abwimmeln."
Die Redakteure haben eben Zeit, viel Zeit. Manchmal sitzen sie zwölf Stunden in der Redaktion - korrigieren Artikel, recherchieren für die nächste Geschichte. Es ist wie draußen: Zur Arbeit gehört auch eine Portion Idealismus. Und noch etwas teilen die Redakteure mit ihren Kollegen in Freiheit: kurz vor Redaktionsschluss wird die Zeit doch wieder knapp.
* Anmerkung der Redaktion: Um die Rechte der Gefangenen zu schützen haben wir die Namen geändert und haben die Originaltöne der Inhaftierten übersprochen.