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Der Nudel Kern

Ratgeber zur gesunden Ernährung füllen im Buchgeschäft ganze Regalreihen. Alle paar Monate erscheint eine neue, erfolgversprechende Diät oder ein neues angeblich heilsbringendes Lebensmittel wird in Lifestylemagazinen bejubelt. Dabei ist die Frage, was gesunde Ernährung ist, schon seit Jahrzehnten beantwortet.

Von Monika Seynsche | 24.05.2009
    "Brauchen wir das Mikro?"

    "Brauchen wir nicht, oder?"

    "Ich schreie, bin gewohnt zu schreien…"

    Ein Veranstaltungsraum in Bonn: Am Kopfende des langen Tisches sitzen Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, um den Tisch herum etwa ein Dutzend Journalisten. In einer Ecke des Raums ist ein Büffet mit reichlich Obst aufgebaut.

    "Sehr geehrte Damen und Herren, vielen Dank für Ihr Interesse und Ihre Teilnahme…"

    "...und ich möchte Sie im Namen der DGE heute ganz herzlich begrüßen zur Pressekonferenz anlässlich des Ernährungsberichtes 2008, den wir hier veröffentlicht haben. Vor sich auf dem Tisch.…"

    Die Pressesprecherin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, Antje Gahl, deutet auf ein dickes grünes Buch. Darin haben rund 50 Forscher zusammengetragen, wovon sich die Deutschen ernähren. Im Vergleich zum letzten Ernährungsbericht 2004 essen sie heute mehr Getreide, Geflügelfleisch, Fisch, Gemüse, Obst, Zucker, Käse und Frischmilcherzeugnisse. Dafür nehmen sie weniger Roggen, Kartoffeln, Alkohol, Eier, Fleisch, tierische Fette und Margarine auf. Das sei schon einmal ein Anfang, sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, Peter Stehle.

    "Also der Obst- und Gemüsekonsum geht nach oben. Das ist sicherlich ein Näherkommen an unsere Empfehlungen, an unsere zehn Regeln und generell unsere Lebensmittelpyramide."

    Sein Kollege, Günter Wolfram, von der Technischen Universität München, bremst ihn allerdings.

    "Aber wir sind noch nicht am Ziel."

    Stehle:

    "Aber wir sind, ja klar sind wir noch nicht am Ziel."

    Das "Ziel" wäre, alle Bundesbürger dazu zu bewegen, sich gesund zu ernähren. Nur, was ist gesund? Glaubt man den sich ständig widersprechenden Pressemeldungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte ist das eine kaum zu beantwortende Frage. Mal wird ein Lebensmittel verteufelt, dann wieder ist es der Heilsbringer schlechthin. Fragt man allerdings bei den Ernährungswissenschaftlern selbst nach, ist die Antwort in den allermeisten Fällen verblüffend einfach.
    "Fünf am Tag. Fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag. Das ist schon mal ein ganz wichtiger Grundstein, um sich ausreichend mit Vitaminen, mit Ballaststoffen, mit sekundären Pflanzenstoffen zu versorgen und da drum müssen natürlich noch andere Lebensmittelgruppen noch dazu ergänzt werden."

    Wie etwa Getreideprodukte und Hülsenfrüchte, fetter Fisch, Milcherzeugnisse, ein paar Nüsse und, wer es mag, ein bisschen Fleisch, sagt Bernhard Watzl. Der Wissenschaftler leitet kommissarisch das Institut für Physiologie und Biochemie der Ernährung am Max-Rubner-Institut, dem Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe.

    "Es sind sehr viele Effekte, die vom Obst und Gemüse ausgehen."

    Zum einen füllten Obst und Gemüse den Magen, ohne viel Energie mitzubringen. Das sei ein Vorteil für jeden, der sein Gewicht kontrollieren wolle. Außerdem sind in den Pflanzen reichlich Mineralstoffe und Vitamine enthalten, und sie verfügen über sekundäre Pflanzenstoffe. Das sind Stoffe, die den Pflanzen zur Verteidigung dienen und besonders in den äußeren Randschichten von Obst und Gemüse vorkommen. Die Liste der sekundären Pflanzenstoffe ist lang und die ihrer positiven Wirkungen für den Menschen noch wesentlich länger. Die meisten dieser Stoffe verringern das Krebsrisiko, viele stärken das Immunsystem oder wirken entzündungshemmend. Einige senken den Cholesterinspiegel, regulieren den Blutzucker oder schützen vor Infektionen. Es gibt Tausende verschiedener sekundärer Pflanzenstoffe. So viel ist bekannt. Dann allerdings fängt es an, ein wenig kompliziert zu werden. Watzl:

    "Kein Mensch kann ihnen genau sagen, wie viel letztendlich in einem Brokkoli oder in einer Heidelbeere an unterschiedlichen sekundären Pflanzenstoffen vorhanden sind. Wir wissen, wenn wir einzelne Verbindungen aus diesen Pflanzen herausnehmen und im Tierversuch verabreichen, sehen wir in keinster Weise den Effekt, den wir sehen, wenn wir das komplette Lebensmittel verabreichen."

    Ein Extrakt aus sekundären Pflanzenstoffen ist also kein Ersatz für einen Apfel. Warum, ist unklar. Aus Hunderten großangelegter Studien ist aber bekannt, dass jede Portion Obst oder Gemüse am Tag das Risiko für Herzkreislauferkrankungen senkt. Der Ratschlag, viel Obst und Gemüse zu essen, ist alt – sehr alt. Die Mengen Obst und Gemüse, die in Deutschland verzehrt werden, sind zwar laut Ernährungsbericht angestiegen – ausreichend sind sie aber noch lange nicht, betont der Münchner Ernährungswissenschaftler Günter Wolfram, einer der Hauptautoren des Berichts. Und gleichzeitig ist in allen Industrie- und Schwellenländern das Übergewicht ein immer größeres Problem. Wolfram:

    "Die neuesten Zahlen sagen ja, das ab 35 Jahren bei den Männern die Übergewichtigen in der Mehrzahl sind und bei den Frauen ab 55 Jahren die Normalgewichtigen in der Minderheit sind. Und das ist wirklich bedenklich und daran sollten wir vermehrt arbeiten."

    "Mein Name ist Thomas Ellrott. Ich leite in Göttingen das Institut für Ernährungspsychologie an der Georg August Universität. Ich bin von Hause aus Arzt, aber seit längerer Zeit schon an der Schnittstelle zwischen Medizin, Ernährungswissenschaften und Psychologie tätig und wir beschäftigen uns mit Fragestellungen, warum die Menschen, obwohl sie es durchaus wissen, anders essen als sie sich ernähren sollten."

    Warum sie also zu viel Fett, zu viel Zucker, zu wenig Obst und zu wenig Gemüse zu sich nehmen. Thomas Ellrott hat zusammen mit Kollegen der Universität Paderborn, der Gesellschaft für Konsumforschung und der Firma WeightWatchers einen Fragebogen entwickelt, der das Ernährungswissen der Bevölkerung prüft.

    "Was ein ganz spannendes Ergebnis davon ist, dass, wenn wir gucken, wie hängt das Ergebnis, das die Menschen dort erzielen, mit dem Körpergewicht, also mit dem so genannten Body Mass Index, das ist das Maß ob das Gewicht normal oder übergewichtig oder untergewichtig ist, zusammen, dann sieht man fast keinen Zusammenhang. Das heißt auch die Menschen, die einen hohen Body-Mass-Index, die also ein Gewichtsproblem haben, wissen eigentlich genauso gut Bescheid, wie die Menschen mit Normalgewicht. Es ist also an der Stelle kein zentrales Wissensproblem."

    Aber was ist dann das Problem?

    Als Low Carb wird eine seit den 70er Jahren vor allem in Amerika in Mode gekommene Diät bezeichnet. Sie beruht auf einer möglichst kohlenhydratarmen Ernährungsweise. Fast ganz auf Kohlenhydrate verzichtet eine Sonderform von Low Carb, die so genannte Atkins-Diät.

    "Low carb. Habe ich nie verstanden."

    Peter Stehle ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und leitet den Fachbereich Ernährungsphysiologie an der Universität Bonn.

    "Es gibt verschiedene Punkte, die kann man physiologisch nachvollziehen. Also eine relativ fettarme Ernährung - fettarm bedeutet in diesem Fall nur zehn, 15, 20 Prozent der Energie in Form von Fett - kann wirklich dazu führen, dass zumindest initial die Triglyceridspiegel steigen, also die Blutlipidspiegel eben ungünstig beeinflusst werden, wenn viel Kohlenhydrat gegeben wird, das kennt man. Aber generell zu behaupten, dass Low Carb zum Beispiel dazu führt, dass die Menschen besser abnehmen oder irgend so was oder das man nicht dick wird oder irgendwelche anderen Dinge das ist einfach nicht bewiesen. Gibt es nicht."

    Der Mythos einer vorteilhaften, weil kohlenhydratreduzierten Ernährung beruhe auf zwei wissenschaftlich sehr fragwürdigen Studien.

    "Da gab es mal im ,New England Journal of Medicine‘ zwei Artikel an Übergewichtigen - BMI zwischen 38 und 42. Und dann wurden zwei Diäten verglichen. Eine Low Carb, also eine Atkins, und eine normale Reduktionskost. Und dann wird behauptet, dass mit der Low Carb die Menschen schneller abnehmen. A: haben sie nur in den ersten Monaten schneller abgenommen, hinterher nicht mehr, B: haben sie nur so wenig abgenommen, in beiden Gruppen, was man schon nicht so ganz versteht, bei einem BMI von 42. Also sehr fragwürdig, vor allem die Schlussfolgerung und jetzt kommen wir auf die Probleme der Komplexität: Ich darf wissenschaftlich ein Ergebnis von einem Patienten mit BMI 42 nicht auf einen gesunden Menschen mit BMI 25 zurückschließen, das ist wissenschaftlich nicht erlaubt."

    Durch verkürzte und wissenschaftlich unkorrekte Rückschlüsse komme es immer wieder dazu, dass ein Ernährungstrend aus dem Nichts entstehe, nur um kurze Zeit später widerlegt zu werden. Bleibt also wieder nur der Ratschlag, sich gesund zu ernähren und Ernährungstrends weitgehend zu ignorieren. Die Menschen ernähren sich aber nicht gesund.

    "Die Motive, warum Menschen etwas essen, die haben in erster Linie nichts mit Gesundheit zu tun, und immer wenn wir professionell darüber sprechen, dann tendieren wir dazu, zu denken, dass Menschen allein aus Gesundheitsmotiven die Lebensmittel auswählen die sie auswählen. Das ist aber überhaupt nicht so, denn das zentrale Motiv warum Menschen gerade das essen, was sie essen, ist das Motiv Genuss und Geschmack, weil es gut schmeckt. Und das heutzutage vielleicht zweitwichtigste Motiv ist das Motiv: es muss schnell und einfach gehen, mit dem Fachbegriff ,Convenience‘ zu beschreiben."

    Das drittwichtigste Motiv, so der Göttinger Ernährungspsychologe Thomas Ellrott, sei der Preis.

    "Und all diese drei zentralen Motive, Genuss und Geschmack, ,Convenience‘ und der Preis haben überhaupt nichts mit Gesundheit zu tun. Die sind für den Verbraucher aber allentscheidend, jedenfalls für den Durchschnitt von 80 Millionen Deutschen."

    Vielleicht liegt es auch am Begriff selbst: "Gesunde Ernährung". Der ist nach Einschätzung von Thomas Ellrott in aller Regel negativ besetzt und weckt Erinnerungen an den gehassten Spinat oder Brokkoli, den man als Kind essen musste.

    "Essen und Trinken ist etwas Tolles, da kann man sich drauf freuen, das macht Spaß, das gibt auch eine direkte positive Verstärkung durch ein tolles Geschmackserlebnis. Und all das ist überhaupt nicht übertragbar auf Ernährung, weil diesen Begriff Ernährung lernen wir in einem ganz anderen Kontext kennen und dieser Kontext ist fast nie positiv. Also so was wie leckere Ernährung passt eigentlich gar nicht, sondern dann heißt es häufig: das Attribut ist dann gesund! Gesunde Ernährung. Und das wiederum ruft einfach ganz andere Assoziationen beim Verbraucher hervor als lecker essen und trinken."

    Wie überzeugt man die Menschen dann, trotzdem das zu essen, was gut für sie ist?
    "Bei unseren Kindern funktioniert es über die künstliche Verknappung, es den Kindern dann also zu verknappen, so von wegen du darfst aber nur einen Rosenkohl haben, mehr nicht. Macht sicherlich eine deutlich größere Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder den Rosenkohl essen mögen, als wenn man sagt, hier sind fünf Rosenkohl, die musst du aufessen, weil Rosenkohl ist gesundes Gemüse."

    Probiotische Jogurts werden von der Industrie als Mittel beworben, die die Abwehrkräfte stärken, die Verdauung regulieren und ein aktives Immunsystem unterstützen. Anders als klassische Jogurts enthalten sie mehr als zwei verschiedene Mikroorganismen, die darüber hinaus meist aus dem menschlichen Darm stammen. Jedes Bakterium im Darm gibt Signale an unser Immunsystem. Auf diese Weise könnten gesundheitsfördernde Mikroorganismen die Abwehrkräfte stimulieren.

    "Wir haben nun konkret ein Produkt, das es auf dem Markt gibt, untersucht, inwieweit das Immunsystem beeinflusst werden kann. Es gibt ja viele Anbieter, die genau diese Zielrichtung haben: Sie können über den täglichen Konsum von einem probiotischen Milchprodukt ihre Abwehrkräfte stärken."

    Bernhard Watzl und seine Kollegen vom Max Rubner Institut haben diese Werbebotschaft bei einer Gruppe von gesunden Menschen untersucht: die eine Hälfte bekam einen probiotischen Jogurt, die andere ein Placebo, also denselben Jogurt, nur ohne Bakterien. Watzl:

    "Wir haben das vier Wochen lang gemacht und haben am Anfang und am Ende verschiedene Funktionen des Immunsystems gemessen und konnten in dieser doppelblind kontrollierten Studie am Ende nach der Entschlüsselung der Gruppenzugehörigkeit überhaupt keine Unterschiede zwischen den einzelnen Versuchsgruppen finden. Das heißt nun für diese spezifische Anordnung, die wir in diesem Versuch gewählt hatten, normale Ernährung und eine Zulage in Form von diesem Probiotikum, dass bei einem Gesunden kein Effekt nachzuweisen ist."

    Das heiße aber noch lange nicht, betont er, dass dieser oder andere probiotische Jogurts generell nichts bringen. Vielleicht war die Keimzahl nicht optimal, oder die Versuchsdauer zu kurz. Oder vielleicht helfen die probiotischen Jogurts Gesunden nicht, dafür aber Menschen mit einem geschwächten Immunsystem. All diese Fragen sind noch nicht geklärt. Watzl:

    "Und genau das ist die problematische Situation, dass zurzeit sehr viele Erwartungen geweckt werden mit den Produkten aber die Forschung steht erst am Anfang, und ich bin der Überzeugung, dass wir da viele interessante Effekte bekommen können, über die richtigen probiotischen Mikroorganismen, aber es muss wesentlich mehr Forschung noch gemacht werden, damit wir diese Zusammenhänge besser verstehen, und dann auch wirklich je nach individuellem Bedarf dann mit den optimalen Mikroorganismen dann zum Beispiel das Immunsystem unterstützen können."

    Bis dahin bleibt die Einschätzung von Bernhard Watzl nüchtern: Probiotische Jogurts seien gesund. Für die Behauptung, sie seien gesünder als klassische Jogurts stehe der wissenschaftliche Beweis aber noch aus.

    "I think we can probably start this briefing… Good Afternoon. I am sorry the briefing is 15 minutes late."

    Eine Pressekonferenz beim Europäischen Wissenschaftsforum Esof in Barcelona, im Sommer 2008.

    "So we are with Colette, the regulatory director of McNeils Nutritionals in the UK. Colette will outline the session she is going to run this afternoon"

    Colette Short arbeitet für den britischen Nahrungsmittelkonzern McNeil Nutritionals und spricht an diesem Nachmittag über eine Verordnung der Europäischen Union mit dem nüchternen Namen EC 1924/2006. Sie wurde vor drei Jahren erlassen und regelt sogenannte Nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben auf Lebensmitteln.

    "Diese Verordnung hat den Lebensmittelsektor radikal verändert. Jetzt sind zum Beispiel Gesundheitsangaben möglich. Sie können also auf ihr Produkt drauf schreiben, dass es das Risiko für bestimmte Krankheiten senkt. Solche Angaben waren bislang verboten."

    Allerdings dürfen sie auch jetzt nur auf der Verpackung stehen, wenn ihr Wahrheitsgehalt bewiesen ist. Wer etwa seinen Jogurt damit bewerben möchte, dass er vor Osteoporose schützt, muss Forschungsergebnisse vorlegen können, die diese Aussage belegen. Die Verordnung soll es dem Verbraucher erleichtern, gesundheitsfördernde Lebensmittel zu erkennen, und sich so gesund zu ernähren. Der Ernährungspsychologe Thomas Ellrott ist skeptisch, ob die zusätzlichen Angaben auf der Lebensmittelverpackung dem Verbraucher wirklich helfen.

    "Wir haben heute schon das ganz große Problem, dass die Menschen eigentlich gar nicht einordnen können, was da alles auf der Lebensmittelverpackung draufsteht und es gab für den Ernährungsbericht 1996 eine Studie, da hat man mal geguckt, wie viele Menschen verstehen alles das was auf der Packung steht, also kennen den Unterschied zwischen Nektar und Fruchtsaft, wissen genau, was das Mindesthaltbarkeitsdatum bedeutet, wissen, was die Aufschrift Diät bei Margarine bedeutet, können Fett in Trockenmasse richtig einordnen. Und wenn wir all das zusammennehmen dann sind das weniger als 0,1% der Bevölkerung, die wirklich das alles können."

    Also gerade mal 80.000 Deutsche. Kommt jetzt noch eine weitere Angabe dazu, wird das seiner Ansicht nach die Verwirrung der Verbraucher nur vergrößern.

    So genannte Light-Lebensmittel enthalten in der Regel entweder weniger Fett oder weniger Zucker als herkömmliche Produkte. Der Ernährungspsychologe Thomas Ellrott hat sich in seiner Doktorarbeit mit fettreduzierten Light-Lebensmitteln beschäftigt.


    "Was mich damals einfach sehr interessiert hat: wie ist das mit diesen ganzen Light-Lebensmitteln? Funktionieren die auch dann, wenn man davon isst, soviel wie man will? Und da haben wir dann eine Untersuchung dazu gemacht und da ist dann interessanterweise rausgekommen: ja, die Menschen essen etwas mehr von den Light-Lebensmitteln, aber sie essen nicht 40, 50 Prozent mehr. Damit bleibt trotzdem ein Kalorienminus. Es ging nur um fettreduzierte Light-Lebensmittel also nicht um zuckerreduzierte Lebensmittel. Da bleibt trotzdem ein Kalorienminus und das ist einfach günstig für die Gewichtsabnahme."

    Seit den 70er Jahren werden gerade in den USA vermehrt Light-Produkte angeboten. Ebenfalls seit den 70ern steigt das Durchschnittsgewicht der Amerikaner deutlich an. Der Zusammenhang zwischen diesen beiden Faktoren ist Thomas Ellrotts Ergebnissen zufolge aber nur ein zeitlicher, kein kausaler. Das heißt: Ohne die Light-Produkte wären die Menschen womöglich noch dicker geworden.

    Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt seit Jahrzehnten eine möglichst ausgewogene Ernährung mit viel Obst und Gemüse. Von Nahrungsergänzungsmitteln, wie etwa Vitaminpräparaten raten die meisten Ernährungswissenschaftler ab. Es gebe allerdings, so Bernhard Watzl vom Bundesforschungsinstitut für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe, eine Ausnahme.

    "Vitamin D. Das ist im Moment das wichtigste, spannendste Thema innerhalb der Ernährungsforschung, der Ernährungsmedizin. Es wird gegenwärtig diskutiert, dass wir möglicherweise wesentlich mehr Vitamin D aufnehmen sollten, als momentan die Empfehlung ist und es gibt verschiedene, primär epidemiologische Hinweise, die zeigen, dass verschiedene Krankheiten also Kreislauferkrankungen oder Dickdarmkrebs aber vor allem auch Autoimmunkrankheiten in einem engen Zusammenhang stehen mit der Versorgung des Körpers an Vitamin D."

    Es gibt nur sehr wenige Nahrungsmittel, die Vitamin D enthalten. Fette Fische wie Hering, Lachs oder Sardinen gehören dazu. Allerdings ist der menschliche Körper in der Lage, den überwiegenden Teil seines Vitamin D-Bedarfs zu decken, indem er das Vitamin mit Hilfe von Sonnenlicht selbst herstellt. Watzl:

    "Das geht aber nur ungefähr sechs Monate, weil auf der Position, wo Deutschland auf der Weltkugel liegt haben wir nur sechs Monate genügend UV-Strahlung da, damit die Prozesse in der Haut dann auch wirklich induziert werden können. Und die anderen sechs Monate fehlt die Sonnenstrahlung. Wenn Sie ihre Haut eincremen mit einem Hautschutzfaktor 8 oder mehr, verhindern sie auch im Sommer die Vitamin-D-Bildung in der Haut. Und wenn ich mich sehe, komme morgens hier her, gehe abends nach Hause auch im Sommer – keine Vitamin D Bildung."

    Vitamin D ist wichtig für die Knochen, unter anderem weil es die Calciumaufnahme aus der Nahrung unterstützt. Darüber hinaus ist Vitamin D in jeder Körperzelle enthalten. Watzl:

    "Je weniger Vitamin D vorhanden ist, umso mehr fehlreguliert scheint das Immunsystem zu sein und von daher ist das Risiko von Autoimmunerkrankungen erhöht."

    Also etwa der Multiplen Sklerose oder chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, wie Morbus Crohn. Watzl:

    "Aber auch bei den Prozessen, Krebserkrankungen, Herzkreislauferkrankungen, wo ja auch Immunzellen beteiligt sind bei diesen Krankheitsgeschehen auch da scheint zumindest aufgrund dieser epidemiologischen Studien eine niedrige Versorgung, eine niedrige Zufuhr an Vitamin D mit einer starken Risikoerhöhung einherzugehen."

    Bei ausreichender Vitamin-D-Versorgung bilde das Immunsystem außerdem ein bestimmtes antibakterielles Peptid, das den Tuberkuloseerreger bekämpfen könne, erzählt Bernhard Watzl. Dieser Zusammenhang erweise sich besonders für dunkelhäutige Menschen in hohen Breiten als verhängnisvoll. Watzl:

    "Schwarze Menschen in den USA kommen eigentlich aus einer Region, wo eine hohe Sonnenintensität war, wo sie mit ihrer Pigmentbildung sich vor zu vielen schädlichen UV-Strahlen geschützt haben. Wenn die nun, was seit Generationen der Fall ist, in Boston leben, keine Sonne sehen, schwarze Menschen, dunkelhäutige Menschen in Nordamerika haben ein vielfach höheres Tuberkuloserisiko als hellhäutige Menschen. Weil bei den Lebensgewohnheiten dort leiden die noch mehr darunter, dass über die Haut keine Vitamin D Synthese mehr gemacht wird und die Ernährung einfach Vitamin D in nicht ausreichender Menge liefert."

    Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt, täglich fünf Mikrogramm Vitamin D über die Nahrung aufzunehmen. Bernhard Watzl und seine Kollegen diskutieren zurzeit, ob diese empfohlene Tagesmenge verfünffacht werden sollte. Um aber 25 Mikrogramm Vitamin D über die normale Nahrung aufzunehmen, müsste man jeden Tag 100 Gramm Hering essen.

    Präbiotika kommen in großen Mengen in der Muttermilch vor. Seit einiger Zeit werden sie zahlreichen Babynahrungsprodukten beigemengt. Watzl:

    "Präbiotika sind letztendlich eine Art von Ballaststoffen, also bestimmte komplexe Moleküle, meistens Kohlenhydrate, die im normalen Dünndarmbereich, wo die Verdauung des Menschen zunächst stattfindet, nicht aufgespalten werden, und die gelangen genauso wie die Ballaststoffe in den Dickdarmbereich und dort werden sie in der Regel von den Bakterien, die wir als gesundheitsfördernde Bakterien betrachten, primär verstoffwechselt und es führt dazu dass diese gesundheitsfördernden Bakterien die üblicherweise im Dickdarm vorhanden sind, dass die einen Wachstumsvorteil haben im Vergleich zu den unerwünschten Bakterien, die diese präbiotischen Stoffe nicht als Substrat verwenden können."

    Solche Präbiotika sind auch in Vollkornprodukten, in Zwiebeln, in Spargel, in Schwarzwurzeln und etwa in Bananen enthalten. Bei einer relativ naturbelassenen Ernährung mit vielen pflanzlichen Lebensmitteln nimmt der Körper diese Stoffe also reichlich auf. Sie künstlich der Babynahrung zuzusetzen, beurteilen zumindest die Ernährungskommissionen der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Kinder- und Jugendmedizin kritisch. Bei Frühgeborenen sowie herzkranken oder immunschwachen Säuglingen raten sie vom Gebrauch solcher Produkte sogar ab. Der Nutzen prä- und probiotisch angereicherter Säuglingsnahrung sei nicht zweifelsfrei nachgewiesen und großangelegte Studien zur Sicherheit der Produkte fehlten.

    Allein der Internetanbieter Amazon führt 50 Bücher, die die Worte "gesunde Ernährung" im Titel führen. In schöner Regelmäßigkeit überschlagen sich die Medien und die Wissenschaft mit Nachrichten über das eine oder andere heilsbringende Lebensmittel oder eine ebensolche Diät. Kurz darauf folgen genauso regelmäßig Meldungen über die dann doch nicht so große Wirkung derselben. Aber es gibt noch einen weiteren Faktor, der für Verwirrung sorgt und wissenschaftliche Ergebnisse fragwürdig werden lässt: den Menschen als Versuchsobjekt.

    "Wenn ich mit denen ein Ernährungsprotokoll mache oder ihnen sage, sie sollen sich so und so ernähren, dann kommt denen auf einmal die Idee: ,Ach, aber jetzt gehe ich zum Bonner SC und spiel Fußball.’ Das habe ich vorher nicht gemacht. Und dann ist die Interventionsgruppe auf einmal, macht mehr Sport, raucht nicht mehr, geht nicht mehr in die Kneipe, oder irgend so etwas. Und? Was machen Sie dann? Dann ist es nicht mehr die Ernährung. Nicht nur. Und aus dieser Komplexität heraus kommt natürlich auch viel Unsicherheit, und jeder darf mitschwätzen."

    Er sei trotzdem nicht frustriert, fügt Peter Stehle von der Universität Bonn hinzu. Auch nicht davon, dass die Industrie und die Medien immer wieder unausgegorene Wissenschaftsmeldungen ausschlachteten. Stehle:

    "Das ist ein Geschäft, das ist ein Geschäft wie Autoverkaufen. Jemand der ein Produkt herstellt, der liest zum Beispiel dass Omega-3-Fettsäuren langkettig günstig sind für, also im Verhältnis zu Omega-6, also das Verhältnis muss optimiert sein, dann ist es gut. Dann sagt er sich: ‚Wow, dann mach ich doch mal ein Produkt und mache da Omega-3-Fettsäuren rein.’ Zum Beispiel Brot mit Fischöl. Was für eine Idee. Dass natürlich diese Aussagen mit dem Omega-3 A: häufig auf der Basis von Fischkonsum gemacht wurden, und nicht von Brot mit irgendetwas, B: in der Dosierung an Omega-3 deutlich höher war aufgrund dieser Produkte als das im Brot überhaupt möglich ist, weil sonst stinkt es nach Fisch, das spielt dann keine Rolle mehr. Weil einfach die grundsätzliche Idee von der Grundlagenforschung philosophisch in ein Produkt übersetzt wird."

    Der neueste Trend der Lebensmittelindustrie ist die personalisierte Ernährung. Sie basiert auf der Idee, die Ernährung eines Menschen auf dessen genetische Veranlagungen für ernährungsbedingte Krankheiten abzustimmen, um so diesen Krankheiten vorzubeugen. Martin Kussmann erforscht die Möglichkeiten der personalisierten Ernährung im Forschungszentrum des Nahrungsmittelkonzerns Nestlé in Lausanne.

    "Wir wenden die so genannten Live Science Technologien an, das heißt, das sind globale Untersuchungsmethoden, die ganze Profile von Proteinen, von Genen, von Stoffwechselprodukten, von Nährstoffen erfassen können, und schauen wie sich diese Profile verändern unter dem Einfluss verschiedener Diäten oder unter dem Einfluss verschiedener Arten sich zu ernähren und auch in Abhängigkeit von der jeweiligen Lebensphase der Lebenssituation, des Lebensstils, in Abhängigkeit von bestimmten Krankheiten, die vielleicht schon ausgeprägt sind vielleicht aber auch noch nicht."

    Der Karlsruher Ernährungswissenschaftler Bernhard Watzl hält den praktischen Wert einer personalisierten Ernährung aber für zumindest fragwürdig.

    "Wenn man in der Praxis weiß, dass jeder Mensch etwa von 50 verschiedenen Krankheiten betroffen werden kann, muss ich natürlich die Entstehungsmechanismen dieser 50 verschiedenen Krankheiten plus auch den entsprechenden genetischen Hintergrund, der für die Entstehung dieser Krankheiten eine Rolle spielt, berücksichtigen und dann auch für diese 50 Krankheiten im Wechselspiel die Ernährungseinflüsse. Und wenn ich mir aus diesen 50 Zusammenhängen dann eine Schnittmenge mache, welche Ernährung dann, die ich im Alltag praktizieren kann, übrig bleibt, dann bleibt meiner Einschätzung nach eine Ernährung übrig, die eigentlich sehr nahe der Empfehlung sein wird, die wir zurzeit schon dem Verbraucher machen."

    Also: Getreide, Obst und Gemüse essen. Und insgesamt nicht zuviel.

    Ein Ratschlag an den sich der eine mehr, der andere weniger, aber kaum einer vollkommen hält. Daran werden weder die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung noch der nächste Trend der Lebensmittelindustrie etwas ändern. Stehle:

    "Ernährung ist nicht etwas, wo Sie gleich umfallen, sondern Sie genießen das ja auch. Sie leben Karneval aus und gehen zehn, zwölf Kölsch trinken. Macht Spaß, macht Laune, ist sozial, gehört in eine Gruppe, ist gruppendynamisch. Und das jetzt alles mit Vernunft zu besiegen?...pft. Never!"